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Ausgabe:

Dezember/1997

Spalte:

1176 f

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Cavigelli-Enderlin, Zeno

Titel/Untertitel:

Glaubwürdigkeit der Kirche. Und was ihre Struktur, ihre Kultur und ihre Strategien dazu beitragen können.

Verlag:

Freiburg/Schweiz: Universitätsverlag 1996. 247 S. gr.8°. Kart. DM 45,­. ISBN 7-7278-1052-1.

Rezensent:

Jan Hermelink

Die spezifische Veranlassung dieser Fribourger Dissertation (1995) wird gleich zu Beginn benannt: die enttäuschte, "lähmende Hilflosigkeit" (7) vieler römisch-katholischer Christen (auch) in der Schweiz darüber, daß die Reformimpulse des Zweiten Vaticanums zunehmend ins Leere laufen, ja konterkariert werden durch eine autoritär-zentralistische Kirchenpolitik. C.-E. möchte diese Lähmung durch den Rückgriff auf "außertheologische Hilfsquellen" (7) überwinden: Die Rezeption organisations- und vor allem betriebswirtschaftlicher Theorie soll zeigen, wie die Kirche "strukturell, kulturell, organisatorisch besser ­ und das heißt auch evangeliumsnäher ­ geführt werden" kann (17).

An praktisch-theologischer Bedeutung gewinnt dieser Versuch dadurch, daß C.-E. seine Ausgangsfrage auf allgemeinere kybernetische Probleme bezieht: das "Dilemma von Zerfall und Integrismus" (18) sowie die Spannung zwischen theologischer Theorie und der "faktischen, theorieresistenten Kirche" (54). Er betont den Praxisbezug der Praktischen Theologie, versteht seine Arbeit jedoch als theoretische Studie, die "die Kirche nicht empirisch untersuchen" (181) und auch keine "konkreten Handlungsperspektiven" entwickeln will (7 f.). Überraschend zurückhaltend ist C.-E. auch insofern, als er auf die zahlreichen protestantischen Arbeiten zum Umgang mit kirchlicher Pluralität, zum Gemeindeaufbau oder zur Ökonomie kirchlicher Leitungspraxis (A. Jäger u. a.) an keiner Stelle zurückgreift.

Nach der methodologischen Einleitung skizziert C.-E. zu-nächst eine praktisch-theologische Kirchentheorie, deren religionssoziologischer Kontext ­ nach der schweizerischen Untersuchung von A. Dubach/R. Campiche (1993) ­ geprägt ist von "struktureller Individualisierung", so daß die Kirche mehr und mehr als eine Organisation erscheint, die nach ihrem funktionalen Nutzen befragt wird. Theologisch wird die Kirche (nach M. Kehl, U. Kuhnke, H. Zirker) verstanden als eine trinitarisch begründete "Koinonia" umfassender Verständigung, Solidarität und Partizipation. Über das ekklesiologische Referat geht C.-E. nur dort hinaus, wo er den Begriff der "Glaubwürdigkeit" einführt (58-65). Sie erscheint psychologisch als Bedingung vertrauensvoll-wahrhaftiger Beziehung und wird theologisch als Aufgabe der Kirche gefaßt, die Liebe Gottes, "das Einzige des Glaubens Würdige", im Aufbau kommunikativer Beziehungen in Gemeinde und Gesellschaft zu "spiegeln" (63. 65).

Den Hauptteil der Arbeit (66-214) bildet eine instruktive, methodisch wie sprachlich überaus klare Darstellung betriebswirtschaftlicher Organisations- und Führungstheorie. C.-E. versteht die Kirche als eine "Non-Profit-Organisation" (NPO), sieht darin jedoch keine Einschränkung der ökonomischen Perspektive: Auch die Kirche ist ein zielgerichtetes, produktives soziales System, das in vieler Hinsicht in "eine[r] Art Marktsituation" steht (76); lediglich ihre "Leitungsorganisation" wird durch das NPO-typische Nebeneinander von Mitgliedern, Ehrenamtlichen und Professionellen kompliziert.

In Anlehnung an die sozialwissenschaftlich orientierte Management-Lehre (P. Ulrich, W. Hill, J.-P. Thommen) wird Organisationsführung als "rationale Verschränkung von Zielen und Mitteln" entfaltet (77). Sie muß die "unternehmerische Vision", hier die "Leitvision der Koinonia" (123 ff.) zunächst in eine langfristige, gegenüber verschiedenen internen und externen "Anspruchsgruppen" glaubwürdige Organisationspolitik umsetzen. Aus dieser Politik sind Gestaltungsstrategien und schließlich glaubwürdige operative Einzelentscheidungen abzuleiten. Genauer betrachtet C.-E. die Möglichkeiten struktureller und "kulturbewußter", an Interaktion und Konsens orientierter Organisationsgestaltung; schließlich wird der Modebegriff der "Corporate Identity" theoretisch geklärt und strategisch entfaltet (194 ff.).

Zwar wäre zu fragen, wie die deduktive, von der visionären zur operativen Ebene hinabsteigende Führungsrationalität sich verträgt mit dem Anspruch einer kommunikativen Vermittlung von Zielen und Mitteln, von Struktur und Kultur, von sachlichem Erfolg und Sinnorientierung. Dennoch leuchtet C.-E.s Fazit einer "Theoriekonvergenz" ein, überrascht jedoch angesichts des gemeinsamen sozialphilosophischen Unterbaus (J. Habermas) kaum: Die ekklesiologischen wie die organisationstheoretischen Ansätze zielen auf Kommunikation mit allen "Anspruchsgruppen" der Kirche (191 ff.).

Was den Bezug dieser Einsichten auf die kirchliche Praxis betrifft, bleibt C.-E. allerdings befangen in seinem spezifisch römisch-katholischen Kontext: Auf der einen Seite steht die kirchliche Organisation ganz im Zentrum ­ aus protestantischer Sicht wäre zu fragen, ob die Vermittlung des Glaubens sich an der Glaubwürdigkeit der Kirche zu orientieren hat. Auf der anderen Seite erscheint die real existierende römische Kirche jedoch so problematisch, daß C.-E. ihre faktische, hierarchisch-episkopale Organisationsstruktur kaum mit der betriebswirtschaftlichen Theorie vermitteln kann.

Außer knappen Ausführungen zu einer kirchlichen "Politik der Glaubwürdigkeit" (132-135) und ihren strategischen Optionen (147-154) finden sich nur wenige, meist resignative Anmerkungen (vgl. noch 113-117; 168 f.); das Kapitel zur "Corporate Identity" kommt ganz ohne Hinweise auf das kirchliche Handeln aus. Mit dieser Beschränkung auf einen prinzipiell-programmatischen Praxisbezug läuft C.-E.s Studie jedoch ungewollt darauf hinaus, die eingangs beklagte "Theorieresistenz" der gegenwärtigen kirchlichen Führungspraxis praktisch-theologisch zu legitimieren.

Für die aktuelle Debatte über die Gestaltung zunehmend organisationsförmiger evangelischer Kirchen bietet das Buch darum leider wenig mehr als den Beleg, wie sehr die Praktische Theologie der römisch-katholischen Schwesterkirche noch vor ganz andere Probleme gestellt ist.