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Ausgabe:

April/1999

Spalte:

449–452

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Lichtenfeld, Manacnuc Mathias

Titel/Untertitel:

Georg Merz - Pastoraltheologe zwischen den Zeiten. Leben und Werk in Weimarer Republik und Kirchenkampf als theologischer Beitrag zur Praxis der Kirche.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 1997. 799 S. m. Abb. gr.8 = Die Lutherische Kirche. Geschichte und Gestalten, 18. Kart. DM 58,-. ISBN 3-579-00385-2.

Rezensent:

Gertraud Grünzinger

Ausgehend von der zentralen These, daß Leben und Werk des ehemaligen Rektors des Pastoralkollegs und der Augustana-Hochschule in Neuendettelsau Georg Merz (1892-1956) nur aus der pastoraltheologischen Gesamtperspektive zu verstehen seien, nennt der Vf. seine Untersuchung eine theologische Biographie; sie will und kann kein systematischer Abriß der Merzschen Theologie sein, der somit nach wie vor aussteht.

In seiner Einleitung, die der theologischen Ortsbestimmung und methodischen Vorüberlegungen dient, erläutert der Vf. seine Arbeit, die nicht nur einen Beitrag zur Geschichte der Pastoraltheologie bzw. Praktischen Theologie, sondern auch zur Kirchlichen Zeitgeschichtsforschung und zur Theologiegeschichte des 20. Jh.s liefern soll.

"Die Schwerpunkte liegen dabei, der kirchlich-theologischen Wirksamkeit Merz’ entsprechend, zum einen auf dessen maßgeblicher Rolle als Wegbereiter der dialektischen Theologie zur Zeit der Weimarer Republik, insbesondere im Raum der kirchlichen Praxis und der praktisch-theologischen Lehre, aber auch der Lutherforschung und Dogmatik, zum anderen auf dessen spezifischem Beitrag zur Wiederentdeckung des kirchlichen Bekenntnisses als Kriterium für den Weg der Bekennenden Kirche ... sowie ihrer theologischen Aus- und Weiterbildungsarbeit im Kirchenkampf. Daß letzteres nicht denkbar gewesen wäre ohne jene Neubesinnung auf eine biblisch-reformatorische Theologie des Wortes Gottes im Umkreis Karl Barths, versteht sich von selbst" (34).

Die Arbeit entfaltet in zehn Kapiteln den Lebensweg Merz’, quellenmäßig hauptsächlich gestützt auf Merz’ umfangreiche Briefwechsel, theologische Ausarbeitungen und seine Vielzahl von Veröffentlichungen. - Die einzelnen Kapitel folgen zwar dem Lebensweg Merz’, behandeln aber schwerpunktmäßig theologie- und kirchengeschichtlich bedeutsame Stationen.

Im I. Kapitel werden Kindheit, Jugend und Studienjahre (Studium der Philosophie, Geschichte, Pädagogik und Theologie in Erlangen und Leipzig) beschrieben; im II. Kapitel die neuen Strömungen der Weimarer Republik in Gesellschaft und Kirche ("München: Kirchliche Verkündigung und moderne Bildung") von 1915-1930. Dazu gehört Kapitel III ",Zwischen den Zeiten’: Wegbereiter der dialektischen Theologie in Deutschland" (hier beschreibt der Vf. die Begegnung mit Karl Barth und dokumentiert erstmals auch breit die Umstände, die 1933 zum Ende der von Merz mitbegründeten Zeitschrift "Zwischen den Zeiten" führten). Kapitel IV führt zu einer weiteren lebensgeschichtlich prägenden Beziehung: derjenigen mit Friedrich von Bodelschwingh ("Bethel: Theologische Lehre für Kirche und Gemeinde"), Kapitel V führt an die "Schwelle zum Kirchenkampf" ("Die Wiederentdeckung des kirchlichen Bekenntnisses"); in Kapitel VI belegt der Vf. erstmals umfassend den Beitrag von Merz bei der Entstehung des "Betheler Bekenntnisses" ("Bekenntnis und Bekennen: Das ,Betheler Bekenntnis’"); die Kapitel VII (",Rechtmäßige evangelische Kirche Deutschlands’: Die Konstituierung der Bekennenden Kirche und ihre ersten Bekenntnissynoden"), VIII ("Konfession und Union: Um die bekenntnismäßige Gliederung der Deutschen Evangelischen Kirche") und IX ("Theologische Aus- und Weiterbildung in kirchlicher Verantwortung") dienen der Entfaltung der theologischen, kirchenpolitischen und pastoraltheologischen Probleme, die durch den Kirchenkampf entstanden sind; in Kapitel X schließt sich der Lebenskreis in Bayern ("Ausblick: Zurück in Bayern - Würzburg und Neuendettelsau").

Verdienstvoll ist, daß diese Biographie sich mit einer Persönlichkeit befaßt, die bislang in der Literatur lediglich als immer "Zweiter", als Mann "zwischen den Lagern und den Zeiten" wahrgenommen, nie in eine Reihe gestellt wurde mit den Persönlichkeiten, mit denen Merz, menschlich verbunden, wissenschaftlich und kirchenpolitisch zusammenarbeitete. Gerade diese etwas verdeckte Position, seine Funktion als "positioneller Grenzgänger" (43) sieht der Vf. aber als Voraussetzung für dessen erfolgreiche Rolle als Vermittler und Versöhner.

Beeindruckt von der liberalen Theologie, die ihn während seines Studiums in Erlangen 1913/14 in Gestalt der Nürnberger Pfarrer Christian Geyer und Friedrich Rittelmeyer faszinierte, geriet Merz in den Münchener Jahren von 1915 bis 1930 als Pfarrer und Religionslehrer unter den Einfluß so unterschiedlicher Persönlichkeiten wie dem Präsidenten des Oberkonsistoriums in München Hermann Bezzel und dem Schweizer Theologen Karl Barth. "Von Rittelmeyer, Geyer und J. Müller mit ihren Forderungen nach einer zeitgemäßen und lebensnahen Verkündigung herkommend und konfrontiert mit der ganz anderen, von Gottes Majestät und seiner Herablassung zum Menschen her denkenden Theologie eines Blumhardt, Bezzel oder bald auch Karl Barth, mußte er in den turbulenten Münchener Jahren des untergehenden Kaiserreiches, der sozialistischen Revolution und des erwachenden Nationalsozialismus seinen Weg finden zwischen dem Auftrag des ,evangelischen Predigtamtes’ und den Anforderungen der ,modernen Gesellschaft’" (117). Nach Merz’ Überzeugung geschehe dies weder in der Ausblendung gesellschaftlicher und politischer Ereignisse noch indem der Pfarrer "Beauftragter der Gesellschaft" würde. Die Gefahr, sich an den Zeitgeist zu verlieren, sah Merz gebannt im Kampf für das Bekenntnis - ohne damit eine gedankenlo se Orthodoxie betreiben zu wollen. Vor diesem Hintergrund betonte er die prinzipielle Freiheit der kirchlichen Verkündigung von den Mächten der "modernen Gesellschaft" (127). Zu dieser bleibenden und befreienden Einsicht hatte ihm im Jahre 1919 die Lektüre der Römerbrief-Auslegung des damaligen Schweizer Landpfarrers Karl Barth verholfen.

Mit seinem Rücktritt als Schriftleiter der Zeitschrift "Zwischen den Zeiten", dem Sprachrohr der dialektischen Theologie, wurde aber deutlich, daß unter den Bedingungen der nationalsozialistischen Herrschaft die sich allmählich herausbildenden divergierenden Auffassungen über die kirchenpolitischen Haltungen im "Zwischen den Zeiten"-Kreis nicht mehr harmonisiert werden konnten. Die vielen ausführlich zitierten Briefstellen vermitteln - gelegentlich sehr direkte - Einblicke in die kirchenpolitischen, aber auch persönlichen Auseinandersetzungen, die sich in vielfältiger Weise berührten und überlagerten, teils offen ausgetragen, teils aber auch verdeckt nachwirkten. Sie zeigen, wie schwierig es war, unter den heraufkommenden "neuen Mächten" eine gemeinsame Linie zu halten.

Zum einen bewunderte Barth Merz’ Anekdotenreichtum, seine enzyklopädische Gelehrsamkeit und vielseitige Vortragstätigkeit, "auf der anderen Seite jedoch blieb er von Anfang an skeptisch im Blick auf dessen ,lehrhafte Beredsamkeit’ und die ,verwünschten historischen Linien’ seiner geistes- und theologiegeschichtlichen Arbeiten" ... (186).

Barths Reserve gegenüber dem bayerischen Luthertum und die sich daraus ergebenden theologischen Vorwürfe hatten schon Anfang 1927 zu schweren Spannungen mit Merz geführt, die diesen aber auch um so mehr seine theologische Eigenständigkeit bewußt werden ließen.

Seine Tätigkeit als Dozent für Praktische Theologie und Kirchengeschichte an der Theologischen Schule Bethel seit 1930 führte ihn in den unmittelbaren Wirkungskreis von Friedrich von Bodelschwingh. Bethel wurde der Ort, an dem er sich theologisch und pädagogisch bewähren wollte, zum einen mit seiner Tätigkeit als Dozent, zum anderen aber auch als Mitglied der Gemeinde.

Mitte Juni 1933 - in seinem Einsatz für Friedrich von Bodelschwingh in der Reichsbischoffrage - trat seine konfessionelle "Wende" zutage, die ihn in seiner bekenntnisbestimmten Arbeit und seinem kirchenpolitischen Engagement enger an das Luthertum rücken ließ und so die Distanz zum Barth-Kreis vertiefte, denn Barth disqualifizierte die Betheler Theologie als mittlere und damit für ihn unannehmbare Linie.

Mit der "Barmer Theologischen Erklärung" von 1934 gegen die Irrlehren der Deutschen Christen, die im Gegensatz zum "Betheler Bekenntnis" eine reiche, auch konfliktreiche Wirkungsgeschichte hatte, zeigte sich Merz als Verfechter einer notwendigen Integration dieser Grundwahrheiten des Christentums in den lutherischen Einigungsprozeß innerhalb der übergreifenden Gemeinschaft der Bekennenden Kirche; unverzichtbar erschien sie ihm aber auch unter pastoraltheologischem Aspekt als Grundlage für eine rechte Gemeindearbeit (439).

So wie ihn diese Haltung in Gegensatz zum strengen Luthertum brachte, lehnte er in Anlehnung an den dahlemitischen Flügel der Bekennenden Kirche eine Mitwirkung an den von Reichskirchenminister Kerrl initiierten Kirchenausschüssen aus theologischen und konfessionellen Gründen ab. Hier übte er durchaus Kritik an der kompromißbereiten Haltung des Lutherrates, an dessen Konstituierung er selbst beteiligt gewesen war (539).

Merz fiel innerhalb der Fraktionen der Bekennenden Kirche, die sich gegenseitig immer mehr blockierten, eine wichtige Rolle als Vermittler zwischen dem Luthertum der intakten Landeskirchen und dem dahlemitisch-bruderrätlichem Flügel in den zerstörten Landeskirchen, aber auch zwischen Lutheranern und Reformierten zu. Prädestiniert war er dazu nicht nur von seinem Naturell und theologischen Ansatz her, sondern auch in seiner ganz konkreten Lebenssituation als bayerischer Lutheraner in einer unierten Kirche, der westfälischen Kirchenprovinz der Altpreußischen Union. Seit 1936 trat er als westfälischer Delegierter der Bekenntnissynoden der Deutschen Evangelischen Kirche und als Mitglied des westfälischen Bruderrates auf. Inwieweit seine vermittelnde Haltung sich in konkreten kirchenpolitischen Erfolgen niederschlug, wird dennoch nicht ganz faßbar.

"Die Grundlinie von Merz’ kirchenpolitischem Wollen ist daher m. E. [d. Vf.] nicht in der gelegentlichen Nähe zu jenen separatistischen Bestrebungen des Bekenntnisluthertums zu suchen, sondern vielmehr in seinem unbedingten Festhalten an der Barmer Theologischen Erklärung und der dort erlebten Kampfgemeinschaft mit Reformierten und Unierten, auch gegenüber den Kritikern unter den bayerischen Freunden" (266).

Merz’ Erfahrungen und Lernprozesse schlugen sich nach dem Krieg in seiner Konzeption für die kirchlich-theologische Aus- und Weiterbildung der Pfarrerschaft nieder, die organisatorisch zur erstmals erfolgten Konzeption eines Pastoralkollegs in Deutschland und zur Begründung der kirchlichen Augustana-Hochschule führten.

Diese Biographie hatte der Universität Erlangen-Nürnberg 1997 als Dissertation vorgelegen. Sie liest sich trotz ihres beträchtlichen Umfangs - wobei die Nachkriegszeit noch weitgehend ausgeklammert bleibt - spannend und informativ. Im Anhang finden sich neben Quellen-, Literatur- und Abkürzungsverzeichnis ein kurzer tabellarischer Lebenslauf, ein Verzeichnis der Lehrveranstaltungen sowie erstmals eine vollständige Bibliographie seiner verstreuten Schriften; diese ist um so wichtiger und hilfreicher, da Merz aus verschiedenen Gründen kein "opus magnum" vorlegte.

Dem Vf. gelingt es, die Existenz Merz’ darzustellen als einen schwierigen Balanceakt zwischen den reinen Prinzipien der dialektischen Theologie, der jede Synthese von Kirche und Ideologie einem Verrat an der Wort-Gottes-Theologie Barths gleichkam, und der Notwendigkeit eines kompromißfähigen Handelns, das Merz unumgänglich schien als Antwort auf die Zumutungen deutsch-christlicher Theologie und nationalsozialistischer Ideologie. Hier leistete er theologische Feinarbeit, von der vor allem die Pfarrer als Prediger profitieren sollten, damit die Gemeinde das Evangelium als rechte Schriftauslegung zu hören bekäme. Diesem Dienst fühlte Merz sich sein Leben lang verpflichtet, er bedeutete ihm mehr als die Profilierung durch ein wissenschaftliches Werk.