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Ausgabe:

Dezember/1997

Spalte:

1165–1169

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Mehlhausen, Joachim [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Pluralismus und Identität.

Verlag:

Gütersloh: Kaiser/Gütersloher Verlagshaus 1995. 635 S. gr.8° = Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie, 8. ISBN 3-579-00105-1.

Rezensent:

Hermann Fischer

Pluralismus als offenkundiges Faktum und Suche nach stabilisierender Identität, das ist eine durch die Modernisierungsschübe der Neuzeit ausgelöste Problemfiguration, die zunehmend in den Mittelpunkt der politischen und geistig-kulturellen Debatten rückt. Die Selbstorganisation und Selbstauslegung des menschlichen Daseins in Staat, Gesellschaft, Politik und Wirtschaft, in Geschichte, in den Wissenschaften und in der Kultur stoßen überall auf strukturell gleiche Probleme. Religion, Kirche und Theologie sind davon nicht ausgenommen. Unter dem Vorzeichen von Religion, die das Leben im Horizont letzter Gründe thematisiert, verschärft sich das Problem; die religiösen und theologischen Nerven liegen blank. Wo nach solchen Gründen und in dem allen nach dem letzten Grund gefragt wird, droht das Zugeständnis von Pluralismus das religiöse Fundament um seinen qualitativen Gehalt zu bringen.

Deshalb war es eine gute Idee, den gemeinsam von der Evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Wien und der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie veranstalteten 8. Europäischen Theologenkongreß in Wien im September 1993 dem Thema "Pluralismus und Identität" zu widmen. Mit dem vorliegenden Band werden der Eröffnungsvortrag und die Hauptvorträge des Kongresses, dazu die Vorträge in den "Colloquia" und die Referate in den einzelnen theologischen Fachgruppen dokumentiert, ergänzt durch einen schon vor dem Kongreß veröffentlichten und das Kongreßthema erläuternden Text von Eilert Herms, der die Aufsatzsammlung eröffnet (15-19). Der damalige Präsident der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie, Joachim Mehlhausen, hat mit seinen Mitarbeitern keine Mühe gescheut, die insgesamt 39 Beiträge in einem stattlichen Band von über 600 Seiten zusammenzufügen und sie durch Namens- und Sachregister ansatzweise zu erschließen (625-630; 631-635).

Das in Rede stehende Problem bedrängt Kirche und Theologie seit dem Eintritt des Christentums in die Epoche der Modernität mit dem Ende der Konfessionskriege. Aber die Unsicherheit, über einer Vielzahl von religiösen Auslegungsmöglichkeiten die Mitte des Christlichen aus dem Blick zu verlieren und auf die von W. Dilthey beschworene Anarchie der Überzeugungen und Werte zuzusteuern, hat im 20. Jh. bedrohliche Gestalt angenommen. Die Differenz der Bewußtseinslage springt ins Auge angesichts der relativ optimistischen Aussage Schleiermachers in der "Weihnachtsfeier", die der Hg. an den Anfang des Bandes gestellt hat: "Das Christenthum ist ein einziges Thema in unendlichen Variationen dargestellt, die aber durch ein inneres Gesetz verbunden sind, und unter bestimmte allgemeine Charaktere fallen" (vgl. 11). Was Schleiermacher noch zukunftsgewiß als das "innere Gesetz" des Christentums in den Blick nehmen und mit seiner Wesensbestimmung des Christentums und des Protestantismus formulieren konnte, scheint sich unter den enormen Schüben von wissenschaftlicher, kultureller und religiöser Ausdifferenzierung zu verflüchtigen. Der Band spiegelt mit der Vielfalt der Aspekte, der Positionen und der Urteile diesen Sachverhalt unübersehbar wider; und es bedürfte schon enormer konstruktiver Phantasie, um hier eine konsensfähige Mitte zu sichten und auf den Begriff zu bringen.

In seinem Vorblick auf den Kongreß deutet E. Herms mit der Titeländerung der Erstveröffentlichung ("Pluralismus und Identität") in "Pluralismus aus christlicher Identität" (15) die Richtung einer Problemlösung an. Einerseits sei eine einigermaßen genaue Beschreibung der Pluralismusaffinität des Christentums nötig. Aber die Kongreßarbeit dürfe sich darin nicht erschöpfen, sondern müsse darüber hinaus einen Beitrag leisten "zur gedanklichen Klärung des im Christentum lebendigen Bewußtseins von seiner eigenen Identität, von deren Ursprung sowie von den Bedingungen ihrer Entwicklung und ihres Bestandes" (18). Er verortet diese Identität in einer "Vorgegebenheit, die kraft der Eigenart ihres Ursprungs und ihrer Konstitution im geistlichen, herzbezwingenden und -verwandelnden Evidentwerden der Wahrheit der viva vox evangelii ... dann einen Pluralismus unübersehbar mannigfaltiger Kohärenzprinzipien von Interaktion freisetzt und trägt" (19). Dieser Gedanke wird in einzelnen Beiträgen direkt, in anderen indirekt aufgenommen und ­ der Problemkonstellation entsprechend ­ unterschiedlich, auch kontrovers bearbeitet.

In seinem großräumigen und facettenreichen Eröffnungsvortrag "Über die Wahrheit der Vielfalt" (21-34) profiliert Trutz Rendtorff die gegenwärtige Problemlage durch historische Rückblenden auf die Entstehung des Problems und Versuche seiner Bewältigung. Für die "theologische(n) Perspektiven nachneuzeitlichen Christentums" (so der Untertitel) ist davon auszugehen, daß wir am Ende einer Epoche stehen, "die durch Gegensätze Klarheit zu schaffen suchte, Gegensätze wie Tradition oder Modernisierung, Religion oder Wissenschaft, Individuum oder Gemeinschaft, Gemeinwohl oder Eigennutz, Autorität oder Freiheit". Vielmehr hat umgekehrt zu gelten: "Damit Wahrheit offen und frei vertreten werden kann, muß ihre Vielfalt anerkannt und die darin liegende Wahrheit erkannt werden" (21). Rendtorff unterscheidet einen "weichen" Pluralismus, der als Desinteresse oder als ästhetische Offenheit in der Sphäre des Privaten verbleibt, von einem "harten" Pluralismus, der sich als Sachwalter der Freiheit versteht und für die Öffentlichkeit Bedeutung gewinnt. Dieser "harte" Pluralismus, der das eigentliche Problem darstellt, verdankt sich der Einsicht, daß es lebenswichtige Konflikte gibt, die sich nicht in einer für alle befriedigenden Weise lösen lassen. Die Religionsdifferenzen sind dafür ein prominentes Beispiel.

Obwohl sich in der Reformation M. Luthers ein Pluralismus des "Geltenlassens" anbahnt (24), hat er doch die lebensbedrohenden Religionskämpfe nicht verhindern können. Erst durch die Rechtsfigur der "Parität" gelingt es der Politik, eine Kultur des "Geltenlassens" zu etablieren und zu schützen. Für die Probleme, die sich damit der Theologie stellen, knüpft Rendtorff an die Aufgabenbeschreibung von E. Herms an (30) und betont beide Seiten. Zunächst: "Die Theologie der Neuzeit stellt sich aus eigenen Gründen in einem Pluralismus dar" (30). Dafür kann sogar K. Barth zum Zeugen aufgerufen werden. Aber damit verliert sich der Protestantismus nicht in eine Willkürlichkeit von Meinungen. Es gibt eine gemeinsame Tradition, einen gemeinsamen Themenbestand und ein disziplinenspezifisch ausdifferenziertes gemeinsames Problembewußtsein. Letztlich aber läßt sich Identität, wie Rendtorff an einem Dictum Schleiermachers illustriert (31f.), nur im christlich bestimmten persönlichen Glauben verorten. Und als Programm formuliert: "Harter Pluralismus ist für evangelisches Christentum und die ihm verpflichtete Theologie ein Pluralismus aus Verbindlichkeit, ein Pluralismus aus persönlicher, individueller Verbindlichkeit. Pluralismus aus Verbindlichkeit lebt aus dem Bewußtsein christlicher Identität" (32). Damit sind allgemeine Umrisse angedeutet, die der Ausgestaltung bedürfen.

Die Reihe der Hauptvorträge wird eröffnet mit einem Beitrag von Kirsten Nielsen, Professorin für Altes Testament an der Universität Aarhus, über "Verantwortlicher Umgang mit Traditionen im religiösen Pluralismus" (37-53). An exegetischen Fragestellungen und hermeneutischen Theorien verdeutlicht sie, wie sehr der Autor eines Textes für dessen Auslegung in den Hintergrund getreten und die "Eindeutigkeit des Textes" verloren gegangen ist (41). Der "totale Sinnrelativismus" (44) läßt sich, so das vergleichsweise schlichte Ergebnis, nur begrenzen, wenn im Wissen um die jeweiligen Unterschiede der verantwortliche Umgang mit Traditionen im wissenschaftlichen Gespräch gepflegt wird (52 f.).

Otto Kaiser erläutert in "Anknüpfung und Widerspruch" (54-70) am Beispiel der Reaktion der jüdischen Weisheit auf den Hellenismus, wie es dem Judentum gelungen ist, sich seine Identität durch eine gezielte Adaption auch in einer fremden politischen und religiösen Umwelt zu bewahren und weder durch Assimilation fundamentale Wesenszüge seiner Tradition preiszugeben noch durch geistige Isolation in eine Ghetto-Existenz abzudriften (69).

Dietrich Rössler wendet sich unter dem Begriffspaar "Selbstbestimmung und Loyalität" (70-84) dem "Problem des Pluralismus im evangelischen Pfarrerberuf" zu und strukturiert es in dreifacher Hinsicht: Selbstbestimmung (71-74), Loyalität (74-77), Konflikte und Konfliktlösung (77-84). Das evangelische Verständnis des Pfarrers setzt voraus, daß der Amtsträger der von ihm verkündeten Botschaft selbst glaubt. Insofern stellt Selbstbestimmung im Modus theologischer Reflexion ein unverzichtbares Element des evangelischen Pfarrerberufs dar. "Die theologische Verantwortung des Pfarrers ist wissenschaftlicher Ausdruck seiner religiösen Subjektivität" (72). Selbständigkeit und Selbstbestimmung führen aber zum Pluralismus und potentiell zum Konflikt des Pfarrers mit seiner Kirche oder Gemeinde. Für die Eingrenzung der Konflikte greift das Prinzip der Loyalität, das in der Zustimmung zu den Ordinationsverpflichtungen grundlegend zur Geltung kommt (74). Unter dem Vorzeichen von Loyalität lassen sich Identität und Differenz, Selbstbestimmung und Kritik als Einheit denken. "Das loyale Verhältnis zur Kirche enthält sowohl die Zustimmung zum Ganzen wie den Anspruch auf einen eigenen Standpunkt im einzelnen. Loyalität ist die Verbindung von Zustimmung und Kritik, die die Zugehörigkeit nicht in Frage stellt. Die Einheit verliert dadurch freilich an Objektivität und Eindeutigkeit" (76). Loyalitätskonflikte lassen sich unterschiedlich regeln und sind unterschiedlich entschieden worden. Für das evangelische Verständnis kommt letztlich nur das bereits in der Confessio Augustana formulierte Prinzip sine vi humana, sed verbo in Betracht. Wo Konflikte nicht mit Gewalt geregelt werden sollen, sondern durch das Wort, bleibt man auf den Diskurs angewiesen.

Wie schon T. Rendtorff verweist auch D. Rössler für erste Ansätze solcher "Diskursgemeinschaft" auf Luther (81), der darin mit Melanchthon eines Sinnes ist. Im 19. Jh. hat Schleiermacher mit dem Begriff der "geistigen Gemeinschaft" konstruktive Gesichtspunkte für ein diskurstheologisches Verfahren zur Lösung von Loyalitätskonflikten entwickelt (82). Auf dieser Linie schreibt Rössler Schleiermachers Lösung in Anlehnung an die goldene Regel fort: "Nur so viel Toleranz in Anspruch zu nehmen, wie man selbst aufzubringen bereit ist, und also dem Charakter eigener Äußerungen die Grenzen zu setzen, deren Beachtung man bei Äußerungen anderer erwartet" (83). Daß mit dieser Lösung Gefährdungen verbunden bleiben, versteht sich von selbst, liegt aber im Wesen des Protestantismus. ­ Richard Schröder beendet die Reihe der Hauptvorträge mit Erwägungen über das Thema "Überzeugung und Bedürfnis. Zur Anthropologie des Pluralismus" (85-99).

Schröder reflektiert mit der Gegenüberstellung von Überzeugung und Bedürfnis zunächst Erfahrungen der DDR-Vergangenheit im Blick auf das Verhältnis von Staat und Kirche. Der DDR-Staat hat Religion und Kirche nicht nur bekämpft, sondern in einer Art Doppelstrategie religiös-kirchliche Aktivitäten auch geduldet. Als Prinzip der Duldung figurierte der für die Anthropologie von K. Marx zentrale Begriff des Bedürfnisses in der Wendung "Befriedigung der religiösen Bedürfnisse". Für das christliche Selbstverständnis erweist sich die Kategorie "Bedürfnis" aber als untauglich, weil hier das Element von Bindung fehlt. Dafür aber eignet sich der Ausdruck "Überzeugung", noch genauer die passivische Form: Ich bin überzeugt worden (86). In einem ersten Teil seines Vortrags zeigt Schröder, daß eine am Bedürfnisbegriff orientierte Anthropologie defizitär bleibt, weil sich von hier aus Recht und Moral nicht hinreichend begründen lassen (90).

In einem zweiten Teil wird das Phänomen "Überzeugung" im Sinne von "Überzeugungsidentität" (gegen "Bedürfnisidentität") erörtert, um schließlich gerade unter solchem Vorzeichen die Entstehung des neuzeitlichen Pluralismus aus Gründen des christlichen Glaubens verständlich zu machen, selbst wenn dieser Glaube prima facie die Ausbildung des Pluralismus gehemmt zu haben scheint (97 f.). Die Wahrheitsfrage läßt sich niemals mit politischen Mitteln entscheiden. "Was den Menschen letztlich bindet, ist sein Gottesverhältnis, und das darf nicht reglementiert werden. Das Recht auf die Freiheit der Gottesbeziehung ist inzwischen das Recht zur Freiheit jeder Überzeugung geworden. Die Begründung gilt noch immer: Wahrheitsfragen lassen sich weder durch Mehrheitsbeschluß noch durch Dekret entscheiden,Wahrheit muß einleuchten" (98). Abschließend werden fünf Elemente eines Minimalkonsenses formuliert, die für eine Gesellschaft unter pluralistischem Vorzeichen zur Regelung von Konflikten lebenswichtig sind (98 f.): Rechtsweg unter Einschluß von Gewaltverzicht ­ Akzeptanz des Verfahrens ­ Ethik des Kampfes in Gestalt von Fairneß ­ Akzeptanz der Demokratie ­ Ausbildung von Überzeugungsidentität in Freiheit.

Ein zweiter größerer Komplex des Bandes ist unter dem Oberbegriff "Colloquia" (103-189) mit jeweils drei Beiträgen dem Pluralismus im Blick auf ethische Probleme, auf die Vielfalt der Wissenschaften und auf die kirchliche Wirklichkeit gewidmet.

Gerhard May analysiert das Problemfeld "Pluralismus und Ethik in der christlichen Antike" (103-106) mit dem interessanten Ergebnis, daß hier die Entwicklung weithin umgekehrt zum Prozeß in der Neuzeit vom Pluralismus zur weltanschaulichen Einheit verlaufen sei. Friedrich Wilhelm Graf macht in seinem Beitrag "Akzeptierte Endlichkeit. Protestantische Ethik in einer Kultur der Widersprüche" (115-125) an ausgewählten Entwürfen der Ethik und ihrer ­ oft nicht eigens reflektierten ­ Einbindung in den allgemeinen kulturellen und kulturwissenschaftlichen Kontext auf das extrem hohe Ausmaß an theologischer Positionalität mit dem entsprechenden ethischen Pluralismus aufmerksam. Es gälte, sich dieser Kontextualität bewußt zu werden und "den blinden faktischen Pluralismus theologischer Ethik in einen reflektierten Pluralismus zu überführen" (120; 125). Dazu vermag die historische Forschung zu befähigen. ­ Unter wissenschaftspluralistischer Perspektive diskutiert Gerd Theißen den "Pluralismus in Exegese und Lektüre der Bibel" (127-140). Er stellt wissenschaftliche Exegese, die er als "applikationsfern" und "identitätsoffen" charakterisiert (129), engagierten, an der Gegenwart orientierten und auf Applikation zielenden Lektüreformen gegenüber (befreiungstheologische, sozialkerygmatische, feministische, psychotherapeutische, fundamentalistische Zugänge). Obwohl beide Lesarten unterschiedliche Ziele verfolgen und insofern auf Konflikte zulaufen können, läßt sich doch auch eine produktive Komplementarität von wissenschaftlicher Exegese und engagierten Lektüreformen denken (133 f.). Theißen entwickelt ein gestuftes Verfahren im Umgang mit den Konflikten und votiert für die "hermeneutische Überlegenheit der Liebe über Glauben und Hoffnung" (138-140).

Falk Wagner versucht in seinem prinzipiell angelegten Beitrag "Theologie zwischen normativem Einheitsanspruch und faktischem wissenschaftlich-kulturellem Pluralismus" (153-167) Leitlinien eines "begriffenen Pluralismus" zu entwickeln. Das ist nach seinem Urteil die einzige Option, die sich mit Aussicht auf Erfolg vertreten läßt (154; 165-167). Er grenzt diesen Pluralismus nicht nur gegen den faktischen, aber unbegriffenen Pluralismus ab, sondern auch gegen unterschiedliche Formen von "Scheinpluralismus", der in der Außenperspektive eine Pluralität von Religionen zugesteht, sie aber für die Binnenperspektive außer Kraft setzt. Hier bleibt die Pluralität anderer religiöser Möglichkeiten für die Selbstdefinition der eigenen religiösen Überzeugung ohne Bedeutung. Demgegenüber zeichnet sich "begriffener Pluralismus" dadurch aus, daß sich "für die jeweils eigene interne religiöse Sichtweise die Beziehung auf die extern bestehende religiöse Pluralität als konstitutiv erweist" (155). Dieser Gesichtspunkt wird auch gegen Versuche, den Pluralismus normativ zu begrenzen, profiliert. Dabei nimmt Wagner zunächst eine "grobschlächtige" (kirchliche) Version von Begrenzung kritisch ins Visier, die meint, den Pluralismus durch Berufung auf "die ’Substanz’ der Theologie und des Glaubens" begrenzen zu können. Das wird brüsk und ebenso grobschlächtig als "fiktive Hypostasierung" zurückgewiesen (163).

Demgegenüber nimmt sich Wagner zufolge der Versuch von E. Herms, zwischen einem beliebigen und einem prinzipiellen Pluralismus zu unterscheiden, "subtiler" aus, wird aber ebenfalls zurückgewiesen. Herms argumentiert in Gestalt der viva vox evangelii mit einer aller menschlichen Selbsttätigkeit entzogenen "Vorgegebenheit", die sich dem unvoreingenommenen Blick (Wagners) als Produkt des religiösen Subjekts zu erkennen gibt. In der sattsam bekannten Wagnerschen Argumentationsmanier, nach der alles Subjektunabhängige als Produkt eben dieses Subjekts "entlarvt" wird, heißt es gegen die These von einer unverfügbaren Vorgegebenheit, daß derjenige, der so etwas behauptet, "mittels seiner Behauptung über das Unverfügbare (verfüge), von dem er gleichwohl behauptet, über es nicht verfügen zu können" (164). Das läuft aber ­ kritisch gegen Wagner eingewandt ­ auf die absurde These von der schlechthinnigen Unmöglichkeit eines dem Menschen Unverfügbaren hinaus, weil es ja in Gestalt von Aussage oder Behauptung sofort wieder verfügbar gemacht würde!

Wie sieht Wagners Konzept eines "begriffenen Pluralismus" aus? Dafür sei Voraussetzung, sich stets der Relativität der eigenen Perspektive bewußt zu bleiben. "Das Selbstsein einer Perspektive läßt sich aufgrund ihrer Selbstunterscheidung nur zusammen mit dem Anderssein anderer Perspektiven verwirklichen. Dem Selbstsein der eigenen Perspektive korrespondiert also das Anderssein anderer Perspektiven. Die Freiheit des multiperspektivischen Pluralismus manifestiert sich als die Selbstbestimmung jeder Perspektive, so daß jedes perspektivische Selbstsein jedes mögliche Anderssein einschließen kann" (166). Wenn damit aber nicht ein "Willkür-Pluralismus" sanktioniert werden soll (165), den Wagner ablehnt, dann muß in diesem sich ergänzenden Wechselspiel der Perspektiven eine heimliche Selbstrealisierung der Vernunft am Werke sein und also vorausgesetzt werden. Damit ist aber auch dieser Lösungsversuch ­ um in Wagners bevorzugter Terminologie zu reden ­ "erschlichen" und "scheitert".

Im dritten Teilstück der "Colloquia" werden schließlich spezifisch kirchliche Probleme im Umgang mit dem Pluralismus erörtert, die u. a. Hartmut Löwe in seinem Vortrag "Zwischen allen Stühlen. Kirchenleitung für entschiedene (fromme und weltliche) und zögernde Christen" (184-189) am Beispiel kirchenleitenden Handelns eindrücklich ins Bewußtsein rückt.

Der dritte und größte Komplex des Bandes (193-623) ist der Bearbeitung des Themas in den sechs Fachgruppen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie (Altes Testament, Neues Testament, Kirchengeschichte, Systematische Theologie, Praktische Theologie, Religions- und Missionswissenschaft) gewidmet. Die insgesamt 24 Beiträge dieses Teils, die hier nicht mehr vorgestellt, noch nicht einmal nach Autor und Titel genannt werden können, vermitteln einen instruktiven, manchmal freilich auch verwirrenden Eindruck von der Vielfalt der Probleme, der Möglichkeiten ihrer Bearbeitung und der disziplinenorientierten Ansätze zur Lösung von Fragen. Dieser Reichtum macht den Reiz des Bandes aus. Man darf von ihm nicht die gelungene und rundherum befriedigende Antwort auf die Frage nach dem "inneren Gesetz" des Christentums oder des Protestantismus erwarten, sondern muß sich im Durchgang durch die Erörterungen selbst einen Weg bahnen. Aber mit der Bandbreite der Fragestellungen ist die Publikation geeignet, das Problembewußtsein zu schärfen und Leitlinien der Orientierung zu bieten. Sie mißt beeindruckend und anregend ein weites Feld aus. Daß es nicht ein zu weites Feld werde, bleibt die Hoffnung auf die Selbststeuerungsmöglichkeiten der Theologie als Wissenschaft.