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Ausgabe:

Dezember/1997

Spalte:

1161–1163

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Wohlmuth, Josef

Titel/Untertitel:

Im Geheimnis einander nahe. Theologische Aufsätze zumVerhältnis von Judentum und Christentum.

Verlag:

Paderborn-München-Wien-Zürich: Schönigh 1996. 250 S. gr. 8°. Kart. DM 58,­. ISBN 3-506-79802-2.

Rezensent:

Peter Dabrock

1. Angesichts der konstitutiv notwendigen "Neuentdeckung des Judentums" für die Dialektik von Identitätssuche und Relevanzrechenschaft christlicher Theologie nach der Shoa wählt der Bonner katholische Dogmatiker Josef Wohlmuth einen bisher eher vernachlässigten, aber in seiner Bedeutung wohl noch nicht abzuschätzenden Seitenpfad: Die kommunikative Konfrontation christlich-dogmatischer Topoi mit ausgewählten Positionen jüdischer Philosophie: u. a. Buber, Benjamin, Rosenzweig und besonders Emmanuel Levinas (L.), dessen sperrige Philosophie W. seit seiner Bonner Antrittsvorlesung von 1987 "Zum Verhältnis von ökonomischer und immanenter Trinität" (115-138) provoziert. Beim Lesen dieser Aufsatzsammlung, die diesen zehnjährigen Diskursprozeß dokumentiert, spürt man W. das intellektuell und ethisch ernsthafte Ringen mit den jüdischen Positionen ab ­ wenn der Vf. aus Sympathie Nähe sucht und findet und doch darin das inhaltlich Differente nicht ausklammern will. Getragen sind alle Beiträge zum einen von der bundestheologischen Voraussetzung, daß Judentum und Christentum "im Geheimnis einander nahe" sind, und zum anderen von der mit dem Adorno-Wort artikulierten ethischen Verpflichtung, "... daß Auschwitz nicht noch einmal sei" (27; 233-236).

2. In dieser Klammer von Geheimnis und Verantwortung beschränkt sich W. nicht darauf, die jüdischen Denker allein für fundamentaltheologische Reflexionen zu rezipieren, sondern wagt es, spezifische, aber auch oft erlahmt-eingespielte Topoi christlicher Dogmatik (Schöpfungslehre; Trinitätstheologie und Christologie; Eschatologie) nicht nur kritisch zu befragen, sondern konstruktiv neu zu perspektivieren. Dies gelingt ihm, indem er "die Inkarnations- und Bilderlosigkeit des Judentums und die christliche Inkarnations- und Trinitätslehre" (15) miteinander ins Gespräch bringt. Die jüdische Pro- und Evokation geht aber durch die Transformation jüdischer Philosophie. Insbesondere das Denken von E. Levinas zum ethischen und somit ontologiekritischen, ja -substitutiven Anspruch des anderen gegenüber jedem Versuch einer sich leicht zur Totalität aufspreizenden, individuellen oder kollektiven Lebensorientierung bewegen W. für das Selbstverständnis christlicher Dogmatik (39-62).

3. Im Gefolge von L.s phänomenologisch-ethischem Verständnis der "creatio ex nihilo" (63-79) will sich W. nicht auf kosmophysikalische Spekulationen einlassen, sondern "systemsprengend ... die Prävalenz der Güte vor dem Sein" (79) für die Rede von der Schöpfung neu entdecken ­ ein Anliegen, daß er durch einen inszenierten schöpfungstheologischen Diskurs zwischen Benjamin, Augustinus und L. (79-97) untermauert.

4. Ins Zentrum des "Nähe als Distanz" erweisenden Diskurses führen die Überlegungen des III. Kapitels zu "Gott und unserer Erlösung" (99-182), in dem W. Fragen der Gottesrede, der Trinitätstheologie, der Christ- und Soteriologie und der Sakramentenlehre verhandelt. Wohl nicht zufällig bildet architektonisch die Diskussion um die Soteriologie das Zentrum dieses Kapitels und somit des ganzen Buches. Anselms Frage "Cur deus homo?" wird zum einen mit der neueren Anselm-Forschung von einseitig forensischer Interpretation befreit und zum anderen mit jüdischem Erlösungsdenken (von Rosenzweig bis Celan und wieder L.) konfrontiert.

Die entscheidende Differenz tut sich für W. darin auf, daß das Messianische für die jüdischen Denker bei aller Unterschiedlichkeit der Positionen im Detail eine anthropologische Kategorie darstellt, während das Christentum die Einmaligkeit des Erlösungsgeschehens (besser wäre: Versöhnungsgeschehens!) reklamiert. Wie diese in allen Topoi bis hin zu Fragen von Eschatologie und Ästhetik (183-231) sich auswirkende Grunddifferenz für christliche Dogmatik fruchtbar bearbeitet werden kann, problematisiert W. unentwegt. Damit sich Erlösung als gegenwärtige und nicht nur vergangene Lebenswirklichkeit bewahrheitet, müssen die (gläubigen) Menschen an diesem Geschehen Anteil erhalten. Deshalb soll es "zu einer Vorordnung der göttlichen Tora vor aller Ontologie" (156) kommen und muß "die Christologie von der Soteriologie her zu denken" (ebd.) sein. Um dennoch die Exzeptionalität Jesu Christi nicht aufzugeben, spricht sich W. analog zu der von Rahner bekannten Figur für eine transzendentale Christologie aus, die pneumatologisch den ethischen Anspruch der Stellvertretung auf die Gläubigen ausweitet (61; 155). Innerhalb dieser anthropochristologischen Soteriologie führt W. auch eine der wohl gegenwärtig anspruchsvollsten Versuche ein, der dem Wort Rahners gerecht wird, Chalcedon müsse als Anfang und nicht als Ende christologischer Reflexion begriffen werden. Mit L.s Subjektivitätsmodell der Rekurrenz (d. i. eine aufgrund der Leiblichkeit und der nie endenden Verantwortung gegenüber dem anderen konstitutiv offene, nie abgeschlossene passive Identität; 51-54) interpretiert W. Chalcedon als theologische Reflexion auf Jesus, an und in dem die unendliche Verantwortung von Gott und Mensch füreinander ihren höchsten, dramatischen und unbegreiflichen Ausdruck findet (58-61). W. kann so nicht nur das Ineinander von Werk und Person Jesu Christi in diese höchste Spekulation christologischer Dogmenbildung eintragen, sondern straft so alle die Lügen, die behaupten, die Hellenisierung des Christentums sei keiner produktiven Applikation und Transformation zugänglich.

5. Angesichts der nicht hoch genug einzuschätzenden Bedeutung müssen die kritischen Anfragen gegenüber W.s L.-Rezeption auf einer zweiten Ebene gelesen werden. Obwohl W. durch die hermeneutische Engführung einer vornehmlich dogmatischen Rezeption legitimerweise zu neuartigen Einsichten vordringt, dürfte sie vor erhebliche fundamentaltheologische als auch sozialethische Probleme stellen.

Fundamentaltheologisch steht die (theologische Rezeption der) Philosophie von L. in der Gefahr, über eine Dichotomisierung von "Dire" und "Dit" den Inhaltsaspekt von Offenbarung (durch die Kritik am ontotheologischen Denkmuster) erheblich unterzubestimmen (so daß der dem Anspruch vor- gängige Zuspruch aus dem Blick gerät und so eine liberaltheologische Moralisierung von Religion droht). Ob dies am Ende nicht den "Stachel des Fremden" der Offenbarung abbricht, muß m. E. diskutiert werden. Auch die enorme normative Aufspreizung der Verantwortung (bis zur Geiselschaft, bis zur Verantwortung für die ganze Welt), die W. durch die Figur der transzendentalen Christologie dem einzelnen aufläd, ist sozialethisch nicht nur völlig unrealistisch (auch in der Perspektive der phänomenologischen Reduktion), sondern lähmt sogar eher das Handeln in einer medial vermittelten Welt, in der es zwar nötig ist, das "face to face" in Erinnerung zu halten, aber struktur-ethische Probleme durch diese Art von Fundamentalphilosophie dem gefährlichen Denken der Eigengesetzlichkeit überlassen werden können.

Ob hier eine fundierende, sozialethisch perspektivierte Rechtfertigungstheologie nicht angemessener zu Handlungsimpulsen befreien würde? Daß aber angesichts der dringlichen Anforderungen die Hoffnung auf Erlösung Judentum und Christentum im Geheimnis einander nahe hält, dafür sind W.s Aufsätze eine nicht zu unterschätzende Anregung.