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Ausgabe:

Dezember/1997

Spalte:

1158–1160

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Ganoczy, Alexandre

Titel/Untertitel:

Chaos – Zufall –­ Schöpfungsglaube. Die Chaostheorie als Herausforderung der Theologie.

Verlag:

Mainz: Grünewald 1995. 238 S. 8°. ISBN 3-7867-1861-X.

Rezensent:

Sigurd Martin Daecke

Alexandre Ganoczy, kürzlich in Würzburg emeritierter katholischer Dogmatiker, ist ein Grenzgänger: geboren und aufgewachsen in Ungarn, französischer Staatsbürger, deutscher Professor; promoviert in Philosophie und in Theologie, mit einem protestantischen Genfer Ehrendoktor für seine Calvin-Studien ausgezeichnet; häufiger Gast auch auf ökumenischen und lutherischen Tagungen. Aber G. hat die Grenzen nicht nur im internationalen und interkonfessionellen Sinne überschritten, sondern vor allem auch interdisziplinär. Er ist einer der profiliertesten und kenntnisreichsten Theologen im Gespräch mit der Naturwissenschaft, auf katholischer Seite der Wortführer im interdisziplinären Dialog. So hat ihn die Philosophische Fakultät der RWTH Aachen mit Recht im Sommersemster 1997 zum ersten Gastprofessor auf die vom Aachener Bischof gestiftete "Klaus-Hemmerle-Professur für interdisziplinären Dialog" berufen.

Die Theologie, vor allem auch die Schöpfungstheologie, muß­ so G. ­ mit der "responsorischen Methode" arbeiten, das heißt, die Theologie muß auf Fragen und Herausforderungen antworten, die von außerhalb der Theologie kommen ­ etwa aus den Naturwissenschaften ­, die aber "theologierelevant" sind. In diesem Sinne "antwortet" G. in seinem neuesten Buch auf ­ so der Untertitel ­ "die Chaostheorie als Herausforderung der Theologie". Und zwar geht er erfreulicherweise nicht den üblichen, fragwürdigen Weg eines nur scheinbaren interdisziplinären Dialogs,der in Wirklichkeit ein besserwisserischer Monolog ist: die Aussagen der Naturwissenschaft ­ in diesem Fall der Chaostheorien ­ (pseudo)theologisch zu interpretieren, etwa die "dynamischen Systeme" zu "Gottesbeweisen" zu mißbrauchen. Statt dessen unternimmt G. den viel originelleren und interessanteren Versuch, umgekehrt die Bibel und die Theologie mit Hilfe der Chaostheorie zu interpretieren, durch deren Anregungen zu einem neuen, zeitgemäßen Verständnis von biblischen und dogmatischen Vorstellungen zu kommen, vor allem die Gottes- und Schöpfungslehre aufgrund naturwissenschaftlicher Aussagen über "Ordnung", "Chaos" und "neue Ordnung" zu überdenken.

Der Schwerpunkt des Buches liegt also nicht auf der Darstellung der naturwissenschaftlichen Chaostheorien. Doch kann dieses Kapitel als ausgezeichnete Einführung in diese Vorstellungen dienen, zumal die meisten Leser eines solchen theologischen Buches ja naturwissenschaftliche Laien sind. Denn G. gelingt es bewundernswert, komplizierte naturwissenschaftliche und naturphilosophische Sachverhalte allgemeinverständlich darzustellen, zusammenzufassen und auf ihre theologischen Implikationen, ihre "Theologierelevanz" hin zu befragen.

Mit dem durch die Rezeption der Chaos-Forschung geschärften Blick liest G. nun ­ nach einleitenden Rückblicken auf Chaos-Vorstellungen in der antiken Mythologie und Philosophie ­ die Bibel neu und entdeckt dabei zahlreiche überraschende "Chaos-Analogien" im Alten und im Neuen Testament. In den Schöpfungsgeschichten, der Geschichte Israels, dem Leben Jesu, in Geist- und Weisheits-Vorstellungen sowie in anderen biblischen Geschichten und Gedanken findet G. aufschlußreiche Analogien zur naturwissenschaftlichen Chaosvorstellung und erkennt, welch eine Bedeutung bereits in der Bibel "moderne" Kategorien wie "Werden" und "Selbstorganisation" besitzen.

In der Theologie wurde G. bei seiner Suche nach dem Thema "Chaos" dagegen nur bedingt fündig. Lediglich bei den evangelischen Theologen K. Barth, J. Moltmann und W. Pannenberg entdeckte er ähnliche Überlegungen, die sich jedoch mit den naturwissenschaftlichen Chaos-Theorien kaum berühren und sich für das interdisziplinäre Gespräch als nur wenig hilfreich erweisen. "Nicht ohne Belang" für das Gottes-, Schöpfungs- und Wirklichkeitsverständnis erscheinen dagegen G. bei seiner Suche nach "Analogien zwischen Erkenntnissen heutiger Chaostheorie und der Theologie" (163) Gedanken der Philosophen Friedrich Nietzsche und Ernst Bloch.

Doch auch ohne Hilfe durch andere Theologen und Philosophen kommt G. aufgrund seiner Reflexionen zum Verhältnis von Chaos und Ordnung zu einer "korrelativen Sicht von Kosmologie, Anthropologie und Theologie", zu ungemein anregenden Erkenntnissen über die "Dreierbeziehung ’Gott ­ Natur ­ Mensch’" (197f.). Vor allem führt der Vf. die traditionelle Vorstellung der "creatio continua" weiter, indem er die Rolle des mitwirkenden Menschen, des "menschlichen Mitschaffens" (190) für den göttlichen Schöpfungsprozeß betont, etwa durch den Hinweis auf die "dialogischen Züge des göttlichen Schaffens" (176). Der Schöpfer "läßt die Welt immer wieder werden, sich autopoietisch betätigen": So hilft die Chaostheorie, die Evolution und Selbstorganisation der Natur nicht als Gegensatz zum göttlichen Schaffen zu verstehen (188). "Evolutive und konkreative Vorgänge" im "konkreativen Chaos" dienen "als Sprungbrett für Ordnungen, die noch im Werden begriffen sind" (194 f.). Neben anthropologischen Reflexionen über "Wagnis-Chaos", "Leidens-Chaos" und "Todes-Chaos" sowie ekklesiologischen Anregungen kehrt G. schließlich zur Bibel zurück mit Überlegungen zur "konkreativen Komplementarität" zwischen dem oft "chaosnahen Gottesgeist" und der "meist ordnungsbezogenen Gottesweisheit".

Es gelingt G. in dieser Schrift, das alte Thema "Schöpfung und Evolution", das Verständnis der Schöpfung Gottes als Evolution, weiterzuführen, indem er die Chaostheorie als Teil der Evolutionstheorie sieht und die Schöpfungslehre durch das "Doppelparadigma" "Ordnung aus dem Chaos" und "Chaos in der Ordnung" neu interpretiert. So ist dieses Buch ein sehr wichtiger Beitrag zum interdisziplinären Gespräch, da hier ein wirklicher Dialog zwischen Theologie und Naturwissenschaft stattfindet: Naturwissenschaftliche Erkenntnisse vergegenwärtigen theologische Lehren, auch der Theologe lernt vom Naturwissenschaftler.