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Ausgabe:

Dezember/1997

Spalte:

1157 f

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Welte, Bernhard

Titel/Untertitel:

Wahrheit und Geschichtlichkeit. Zwei Vorlesungen. Aus dem Nachlaß hrsg. von I. Feige.

Verlag:

Frankfurt/M.: Knecht 1996. 246 S. 8°. Kart. DM 42,­. ISBN 3-7820-0733-6.

Rezensent:

Jörg Dierken

1. Der Band vereinigt zwei Vorlesungen des 1983 verstorbenen katholischen Freiburger Religionsphilosophen Bernhard Welte: Ein 1951 zweistündig unter dem Titel "Wahrheit und Überlieferung" gehaltenes Kolleg (35-166) und eine 1962 einstündig durchgeführte ’Publice-Vorlesung’ mit dem Titel "Wahrheit und Geschichtlichkeit" (169-246). Nach dem knappen Editionsbericht (29-31), mit dem Ingeborg Feige ihre insgesamt instruktive, wenngleich in Diktion und Gedankenführung z.T. allzu nah an W. angelehnte Einführung (9-31) beschließt, fußt der Text auf weitestgehend ausgearbeiteten und vollständig erhaltenen Manuskripten. Mit ihrer Edition will die Herausgeberin ­ in einer "Situation der Verunsicherung" aufgrund der "Spannung" zwischen "überlieferten Aussageweisen von Theologie" und "gegenwärtige[m] Leben" ­ W.s Impulse für ein "geschichtliches Verständnis von Wahrheit und Überlieferung" in Erinnerung bringen (16), die ebenso von scholastisch-überzeitlicher Metaphysik wie von neuerer Geschichtlichkeits-Philosophie geprägt sind. Während die erste Vorlesung das Überlieferungsproblem der Wahrheit unter dem Blickwinkel der geschichtlichen Vollzüge des menschlichen Geistes thematisiert, sucht die zweite Vorlesung gar die Wahrheit selbst im Zeichen von Geschichtlichkeit zu denken.

2. Zu "Angst vor dem bodenlosen Relativismus" (216, vgl. 171; 154) besteht freilich keinerlei Anlaß. Denn als ontologisch vorgängiger, unwandelbarer Möglichkeitsgrund der Selbstidentität des zeitlich Seienden ist die Wahrheit selbst "jenseits der Zeit" und über der Geschichte (187; vgl. 189; 204). Zeitlich Veränderliches im einzelnen wie Geschichte insgesamt lassen sich somit als ein "von oben" konstituiertes Erscheinen dieser Wahrheit verstehen (189; vgl. 191). Daß hierin die Wahrheit selbst ’sich zeigen’ kann und nicht nur ihr bloßer Schein (vgl. 196; 180), wurzelt in der Rückbindung dieser (cum grano salis: platonisch-augustinisch geprägten) Wahrheitsmetaphysik an den (cum grano salis: aristotelisch-thomistisch gedachten) "Vollzug der Wahrheit in mente" (49; vgl. 197). Dieser besteht ebenso in den Erkenntnisakten des Ich und deren apriorisch-offener Ausrichtung auf Seiendes ’in seinem Sein’ wie in den ebenfalls ursprünglich-bestimmten Vorgängen kommunikativer, näherhin sprachlicher Begegnung zwischen Ich und anderen. Da in solchen Akten die Wahrheit gegenwärtig ist, sind die stets in Relationen getätigten mentalen Vollzüge zugleich im Absoluten gehalten. Damit wird jede Relativierung ihrer ursprünglichen Relationalitätsstruktur vermieden. Im subjektiv-mentalen "Vollzug des Absoluten der Wahrheit" (114) sind somit "Sein" und "Anderssein" apriorisch zueinander gekehrt (63), und intersubjektive Kommunikation weiß sich in die "immer schon ... alles umfassende civitas Dei der Geister" eingestellt (83).

3. Dieser Argumentationslinie steht der Gedanke gegenüber, daß sowohl der Selbstvollzug des "Ich" als auch der des "Du" ihnen selbst "anvertraut" sind und "gehör[en]" (114; 98). Allein er läßt begreifen, daß "Andere[s] und Neue[s]" überhaupt sein können (98). Freilich ist dieser Gedanke nicht mit der Bestimmung der "Selbstüberschreitung" im "geistigen Seinsakt" ausgeglichen, wonach "ich das andere als das andere" gar "vollziehe" (57; 56). Angesichts solch "apriorische[r] Offenheit" des Geistes, wonach er "das andere überhaupt und damit alles andere" ist, erlauben es lediglich die "empirische[n] Bedingungen" dieses Geistvollzuges in Medien und Verhältnissen der Sinnlichkeit, daß Differenzverhältnisse und mithin geschichtliche Veränderung möglich werden (57; 59; 84). Doch alles Veränderliche, Zufällige, Geteilte und Einzelne wird letztlich wieder nur als "Defiziente[s]" und "Zuwenig" des "einen Wahren" verstanden (106). Deshalb bleibt insgesamt unklar, woher in W.s Konzept neben der "Einheit" des Geistes "mit dem überall einen Absoluten" auch "Differenz dem einen Absoluten gegenüber" stammen kann (115): Weder das Absolute selbst noch seine Defizienzmodi vermögen als Prinzip dieser nach W. niemals in ihr selbst gegründeten Differenz zu fungieren.

Vor diesem Hintergrund liegt es nahe, daß Überlieferung eine "Rückkehr aus dem Wandel der Gestalten" in "Einheit" bedeutet ­ eine "Kontinuation", die insbesondere im Bereich der Theologie in der "Forderung nach Einklang" angesichts des "schlechthin Entscheidende[n]" und "eine[n] Notwendige[n]" gipfelt (149; 161). In Spannung zu dieser Gedankenlinie steht das Motiv von einer "untereinander koextensiv[en]" Mehrzahl "konkrete[r]", "historische[r] Ganzheiten" (137; 127; 130): Gemeint sind kulturelle Epochen, in denen "jeweils das Ganze der Geschichte und ... des Seins ... in einer Zeit und ihrer Welt da ist" (137). Dieses Motiv ist freilich nicht mehr mit der Rationalität von W.s Konzept des Absoluten begreifbar: Epochen erheben sich als je "eine Gestalt der Wahrheit aus geheimnisvollem Ursprung" (211).

4. Weder im Umfeld des Gedankens des Selbstvollzugs eines jeweiligen Subjekts noch im Kontext des Epochenmotivs vermag W. eine tatsächliche Pluralität individueller Gestalten zu denken. Damit wird nicht nur die Verschiedenheit aller Gestalten abgeblendet, sondern auch gerade ihr geschichtlicher Charakter unterbelichtet. Dennoch ist W.s in jenen Motiven dokumentiertes Interesse an dem modernen Themenkreis von Geschichte und Geschichtlichkeit erkennbar ­ gerade im Kontrast zu seinen sonstigen Aufstellungen. Der historische Ort dieses auf seine Weise konzentrierten Denkens ist die spannungsvolle Selbstbesinnung des jüngeren Katholizismus angesichts der Moderne, wie sie im zeitlichen Umfeld dieser beiden Vorlesungen einerseits in der rückwärtsgewandten Enzyklika "Humani generis" und andererseits in der Aufbruchsstimmung im Vorfeld des II. Vaticanums zum Ausdruck kommt. Dies dokumentiert zu haben, ist das Verdienst der Edition. Ob die praktischen Ziele der Herausgeberin sich damit erfüllen, bleibt indes abzuwarten.