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Ausgabe:

Dezember/1997

Spalte:

1153–1156

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Pannenberg, Wolfhart

Titel/Untertitel:

Theologie und Philosophie. Ihr Verhältnis im Lichte ihrer gemeinsamen Geschichte.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1996. 367 S. 8° = UTB für Wissenschaft, 1925. Kart. DM 49,80. ISBN 3-525-03290-0.

Rezensent:

Wilfried Härle

Bei dem zu besprechenden Werk handelt es sich um das ausgearbeitete Manuskript einer Vorlesung, die der Vf. "jahrzehntelang regelmäßig vorgetragen" (5) hat und deren Grundbestand ­ wie man an der hauptsächlich zitierten Literatur sehen kann ­ vor etwa 25 Jahren entstanden ist. Daß P. mit dieser Vorlesung im WS 1993/94 seine reguläre akademische Lehrtätigkeit abgeschlossen hat, ist sicher ein Indiz dafür, wie wichtig ihm gerade diese Thematik war und ist.

Mit (der Veröffentlichung) dieser Vorlesung will P. einen Beitrag zu der wichtigen Aufgabe einer Einführung in die Philosophie für Theologen leisten. Vorhandene Literatur wird von ihm einerseits daran gemessen, wie umfangreich in ihr Quellen und Literatur bzw. die Geschichte der Philosophie Berücksichtigung finden, andererseits daran, ob die Beziehungen zwischen Philosophie und Theologie behandelt werden. Dieses zweite Kriterium bildet zugleich die Leitfrage für seine eigene Darstellung.

Schon in der Einleitung wird ansatzweise deutlich, daß es sich dabei um eine mehrdeutige Leitfrage handelt, unter der sehr Verschiedenartiges verstanden werden kann:

­ die Wirkungsgeschichte verschiedener philosophischer Systeme in der Theologie;
­ der Beitrag, den die Theologie zu den Themen und Problemen der Philosophiegeschichte geleistet hat;
­ die Verhältnisbestimmung von Philosophie und Theologie, und zwar einerseits aus philosophischer, andererseits aus theologischer Sicht;
­ die theologischen Prämissen oder Implikationen philosophischer Systeme;
­ die philosophischen Prämissen oder Implikationen theologischer Systeme.

Elemente von alledem kommen bei P. auch tatsächlich vor, freilich mit einem deutlichen Schwergewicht auf dem ersten und (mit Einschränkungen) auf dem zweiten Aspekt, also auf den (wechselseitigen) Beeinflussungen. Dem entspricht es, daß in der Darstellung die großen philosophischen Systeme (Plato, Aristoteles, Kant und Hegel) dominieren, daß dagegen die methodischen und methodologischen Fragen des Verhältnisses von Philosophie und Theologie und insbesondere die systematische Anleitung zum philosophischen Denken zurücktreten. Es handelt sich bei dem vorliegenden Buch ­ von Konzeption und Durchführung her ­ weniger um einen Beitrag zur systematischen Klärung der Beziehung zwischen Philosophie und Theologie (und umgekehrt), als viel eher um eine Philosophiegeschichte in Auswahl ("Große Gestalten der abendländischen Philosophiegeschichte") unter besonderer Berücksichtigung ihrer theologischen Wirkungsgeschichte. Was P. auf S. 14 im Einleitungsteil des Plato-Kapitels sagt, gilt für das ganze Buch: "Die ... Darstellung hat ... die ... Philosophie im Lichte ihrer christlichen Rezeption zum Thema". Damit spiegelt das Buch wider, welche philosophischen Konzeptionen es vor allem waren, die auf die christliche Theologie im Laufe ihrer Geschichte eingewirkt haben (und welche theologischen Themen umgekehrt für die Philosophiegeschichte wirksam geworden sind). Darin spricht sich aber sicher auch ein (mir sehr sympathischer) sachlicher Respekt vor den großen Leistungen der abendländischen Philosophiegeschichte aus, die als der Maßstab präsent gehalten werden, an dem sich auch heutige Philosophie und Theologie messen lassen müssen.

Im einzelnen geht P. so vor, daß er in einem ersten Kapitel zunächst vier Grundtypen der Verhältnisbestimmung von Philosophie und Theologie kurz darstellt und kritisch würdigt, woraus zwei weitere Typen entwickelt werden bzw. resultieren, die ihrerseits einer kritischen Analyse unterzogen werden, woraus schließlich ­ eher beiläufig ­ die Leitidee eines spannungsvollen geschichtlichen Nebeneinanders von Theologie und Philosophie entsteht (36).

Die Kap. 2-4 befassen sich mit der christlichen Rezeption des Platonismus, der Aristotelischen Philosophie und der Stoa, wobei P. jeweils nicht nur die philosophische Konzeption in Grundrissen darstellt und die ­ dominierende ­ altkirchliche und mittelalterliche Rezeption nachzeichnet, sondern die Linien bis in die Neuzeit hinein auszieht, um auch auf die späten Rezeptionsspuren aufmerksam zu machen.

Kap. 5 kehrt die Betrachtungsweise der eben genannten Kapitel gewissermaßen um. Nun geht es um die (insgesamt fünf) Themen, die als christliche Beiträge den Themenbestand der Philosophie beeinflußt und erweitert haben: Weltkontingenz, Individualität, Geschichte, Unendlichkeit sowie als Implikate des Inkarnationsglaubens: Versöhnung und Freiheit.

In einer neuerlichen Wendung der Blickrichtung handelt Kap. 6 von der "Emanzipation der neuzeitlichen Kultur vom Christentum" (129 ff.). Dabei geht P. insbesondere anhand der Kontroverse zwischen Löwith und Blumenberg der Frage nach, inwiefern die neuzeitliche Welt als Säkularisat des Christentums zu betrachten und wodurch dieser Prozeß gegebenenfalls ausgelöst worden sei. Die Antwort steht für ihn zweifelsfrei fest: durch die "Religionskriege, die aus der abendländischen Kirchenspaltung entstanden waren" (142, ähnlich 233, 359 und 362). (Dieses Kapitel zeigt m. E. am deutlichsten die Spuren seiner Entstehungszeit vor ca. einem Vierteljahrhundert).

Die Kap. 7-11 setzen dann die mit Kap. 2-4 begonnene Reihe philosophischer Ansätze und Systeme fort, die in der christlichen Theologie in unterschiedlicher Weise rezipiert wurden: Descartes und Locke (Kap. 7 ­ für mich das anregendste und lehrreichste Kap. des ganzen Buches), Kant (Kap. 8), der Frühidealismus (Kap. 9), Hegel (Kap. 10, in dem P. diesem seinem philosophischen Hauptgewährsmann ein theologisches Denkmal setzte, ohne kritische Einwände zu unterdrücken), die philosophische Wendung zur Anthropologie im 19. und 20. Jh. (Kap. 11). In dieses letzte Kapitel ist auch (von der Überschrift her nicht ganz einleuchtend) die "Ausweitung zur Naturphilosophie" (345 ff.) bei Bergson und Whitehead integriert.

Den Abschluß des Buches bildet ein kurzes 12. Kap. über Theologie und Philosophie heute, in dem in zweifacher Weise der Begriff der Geschichtlichkeit ins Zentrum gerückt wird: Einerseits in Gestalt geschichtlicher Religion als Bedingung philosophischer Theologie, andererseits als Wesensmerkmal eines auf neuzeitlichem Niveau reflektierten Weltbegriffs. In diesem Horizont erschließt sich auch die Konzeption dieses Buches, die ja darin besteht, Theologie und Philosophie "im Lichte ihrer gemeinsamen Geschichte" (so der Untertitel) zueinander ins Verhältnis zu setzen.

Naturgemäß ist es unmöglich, die Fülle des philosophiegeschichtlichen Materials hier zusammenfassend zu referieren. Wohl aber lassen sich einige Hauptlinien und -intentionen nennen, die das ganze Buch durchziehen:

1. Die Theologie braucht das (gebildete) Gespräch mit der Philosophie, damit ihr Umgang mit der biblischen Botschaft argumentativ verantwortlich geschieht.
2. Die Philosophie kann sich verantwortlicherweise nicht von der Aufgabe entlasten, eine Metaphysik zu entwickeln, in der die Kontingenz der Welt denkerisch solide vorbereitet wird.
3. Die Philosophie gefährdet sich dann selbst, wenn sie die geschichtlichen Bedingungen, unter denen sie (metaphysisch) arbeitet, nicht mitreflektiert und infolgedessen zur Selbstverabsolutierung tendiert.
4. Theologie und Philosophie müssen alle Theoriebildungen (ver)meiden, in denen Religion oder Gott aus menschlichen Bedürfnissen abgeleitet oder in anderer Weise dem Projektionsverdacht ausgesetzt werden.

Zu bemängeln ist an diesem Buch nur weniges: Unter den ausgesprochen wenigen orthographischen Fehlern sind erwähnenswert nur die durchgängige (87, 89, 108, 156) Falschschreibung von "Akzidenz" (statt "Akzidens") sowie die ("berühmte") ungenaue Wiedergabe des Titels von Hirschs "Geschichte der neuern evangelischen Theologie" (168, Anm. 48). Auf S. 67 wird durch die irreführende Umkehrung der Reihenfolge von "Vater und Sohn" eine Pointe von Barths analogia relationis verdorben.

Auf S. 90 fehlt der Hinweis, daß die Stoa gegen Ende des 4. vorchristlichen Jahrhunderts entstand. W. T. Krugs "Briefe über die Perfektibilität der geoffenbahrten Religion" werden auf S. 204 irrtümlich um ein Jahrhundert verjüngt, stammen also tatsächlich aus dem Jahr 1795. Der mit Abstand gravierendste Mangel ist m. E. das Fehlen eines Personen- und Sachregisters. Diese sollten bei einer zweiten Auflage unbedingt hinzugefügt werden.

Es wäre ein Leichtes, dem Vf. vorzuhalten, welche großen Namen aus der Geschichte des Verhältnisses von Philosophie und Theologie in diesem Buch nicht oder nur ganz beiläufig vorkommen: Anselm von Canterbury, Herder, Hamann, Schopenhauer, Husserl, Peirce, Wittgenstein, Popper etc. Je nach eigener philosophisch-theologischer Prägung wird man solche Lücken u. U. tatsächlich als sachliche Defizite empfinden. Insgesamt aber scheinen mir die Proportionen zu stimmen, und ich bin beeindruckt von dem, was P. auf nicht einmal 400 S. an Material vorgelegt hat. Man muß es erst einmal besser machen.

Enttäuscht wird, wer ein systematisch strukturiertes Lehrbuch der Philosophie oder eine systematische Abhandlung über das Verhältnis von Theologie und Philosophie sucht. (Die Kap. 1 und 12, die als Rahmen so etwas bieten, fallen gegenüber den anderen Kapiteln deutlich ab). Aber reich belohnt wird, wer sich intensiv einläßt auf diese ungemein kenntnisreiche und detailgenaue, dabei klar und verständlich geschriebene Rekonstruktion, Analyse und kritische Würdigung großer Entwürfe abendländischer Philosophie samt ihrer theologischen Rezeptionsgeschichte.