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Ausgabe:

Dezember/1997

Spalte:

1151–1153

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Herzog, Markwart

Titel/Untertitel:

"Descensus ad Inferos". Eine religionsphilosophische Untersuchung der Motive und Interpretationen mit besonderer Berücksichtigung der monographischen Literatur seit dem 16. Jahrhundert.

Verlag:

Frankfurt/M.: Knecht 1997. XII, 510 S. gr.8° = Frankfurter theologische Studien, 53. Kart. DM 88,­. ISBN 3-7820-0759-X.

Rezensent:

Wolfhart Pannenberg

Die vor allem durch 1Pt 3,19 f. in die frühchristlichen Glaubensbekenntnisse gelangte Aussage von einem Abstieg Jesu nach seinem Kreuzestod und Begräbnis in das Reich der Toten ist die für heutige Christen auf den ersten Blick wohl befremdlichste des apostolischen Glaubensbekenntnisses. Es handelt sich jedoch um ein Thema, das nicht nur in der christlichen Ikonographie, sondern auch in der Theologie der Kirche eine reiche Geschichte gehabt hat, und zwar eine Geschichte, die sich keineswegs auf die Vorstellung des Triumphes Christi über Hölle und Tod beschränkt. Das Thema bringt bei aller Fremdartigkeit der Vorstellungsformen ein Anliegen zum Ausdruck, auf das der christliche Glaube auch heute nicht verzichten kann, nämlich den Bezug des Heils Christi auf die ganze Menschheit, insbesondere auf die vor Jesu geschichtlicher Erscheinung Verstorbenen.

Die ganze Vielfalt der Auslegungsgeschichte dieses Themas ist bisher noch nie so umfassend behandelt worden wie in der hier zu rezensierenden Münchener Dissertation. Angesichts der Mannigfaltigkeit und Gegensätzlichkeit der Motive und Interpretationen erweist sich die strukturanalytische und vergleichende Methode der Darstellung, die der Vf. als "religionsphänomenologisch" bezeichnet, als sehr geeignet, die unterschiedlichen Typen der Auffassung des Themas herauszuarbeiten in der Gegensätzlichkeit und Komplementarität ihrer Einzelmotive. Das geschieht mit beeindruckender Detailkenntnis von Quellen und Literatur.

Nach einer Übersicht über die Geschichte der Literatur zum Thema seit dem 16. Jh. werden die biblischen Anknüpfungspunkte behandelt, sodann die Einzelmotive einer Fahrt zu den Toten mit ihren Zielen, die militärische und die strafrechtlichen Vorstellungen des Sieges über Hölle, Tod und Teufel. Es folgt ein zweiter Haupttypus der Vorstellung von der Höllenfahrt, ihre auf Nikolaus von Kues zurückgehende Deutung als Vollendung des stellvertretenden Strafleidens Jesu Christi. Diese in der Frühzeit der Reformation bei Luther übernommene Vorstellung wurde von Anton Zimmermann, Johannes Aepin, Johannes Brenz, Jakob Andreä, Johannes Bugenhagen und Hieronymus Weller vertreten sowie noch von Matthias Flacius. Besonders ausführlich behandelt H. die bisher kaum bekannten Thesen Anton Zimmermanns von 1525 sowie die Gegenschrift von Kaspar Schatzgeyer von 1526 und eine bisher unpublizierte Stellungnahme des Weihbischofs Augustinus Marius von Freising. Nach der Konkordienformel (SD 9) setzte sich in der altlutherischen Dogmatik unter dem Einfluß Melanchthons die mehr traditionelle Auffassung von der Höllenfahrt als Triumph über Hölle, Tod und Teufel durch. Aber noch Johann Karl Rauschenbusch 1754 und der Hegelianer Carl Friedrich Göschel, dessen Bemühung um eine Synthese der unterschiedlichen Deutungen der Höllenfahrt ein eingehender Diskurs gewidmet wird (399-426), haben diese Deutung erneuert.

Es folgt eine vergleichende Untersuchung von fünf Motiven der Höllenfahrtvorstellung und ihre Behandlung in den verschiedenen Deutungsformen. An ihrer Spitze stehen Ausführungen über das Todesverständnis: Nur ein komplexer Begriff des Todes ermöglicht es nach H., "die verschiedenen Descensuslehren als Varianten eines einzigen Grundthemas zu würdigen" (250). Die Teilnahme Jesu Christi am menschlichen Todesgeschick umfaßt sowohl den biologischen als auch den bürgerlichen Tod, den Tod als Strafe und als "Abbruch des religiösen Bezuges", obwohl durch die Gegenwart Christi in der Unterwelt zugleich auch die Gottesbeziehung der Toten wiederhergestellt wird, wie es die Vorstellung von einer "Evangelisierung der Toten" (1Pt 4,6) ausdrückt. Insofern gehören die Teilnahme am Todesgeschick der Menschen und der Sieg über den Tod zusammen, obwohl diese beiden Momente oft einseitig einander entgegengesetzt wurden.

Die "Reichweite der Unterweltserlösung" variiert in den Deutungen der Höllenfahrt von der Beschränkung auf die Gerechten des Alten Bundes über die Errettung Adams und Evas bis zur Allerlösung. H. hebt hervor, daß die mehr partikularistischen Tendenzen der westlichen Christenheit in dieser Frage, bis hin zur Beschränkung der Predigt Christi bei den Toten auf eine Strafverkündigung an die Gottlosen in der altprotestantischen Dogmatik, seit dem 19. Jh. mehr universalistischen Deutungen gewichen sind, wie sie in der östlichen Christenheit immer schon vertreten werden.

Es folgt eine Erörterung anthropologischer Dimensionen des Themas. Die traditionelle Beschränkung der Höllenfahrt auf die Seele Christi (nach der Trennung von Leib und Seele im Tode) bereitet Schwierigkeiten im Blick auf die Vorstellungen einer "Fahrt" an einen Ort und auch wegen der Jesus in der Unterwelt zugeschriebenen Tätigkeit. Die lutherische Deutung der Höllenfahrt auf das Seelenleiden Jesu am Kreuz wurde auf katholischer Seite zumeist abgelehnt, obwohl Luther damit in Durandus de S. Porciano einen Vorgänger hatte. Den Vorzug dieser Deutung erblickt H. darin, daß sie keine Aktionsfähigkeit der vom Leib getrennten Seele und keine Kosmologie mit lokal gedachter Hölle voraussetzt (310). Die Vorstellung einer postmortalen Bekehrung der Toten durch eine Verkündigung Jesu in der Unterwelt beurteilt H. mit Recht als problematisch (326), so sehr eine universalistische Ausweitung der Heilsteilhabe ohne die Vorstellung von einer an die freie Zustimmung des Menschen appellierenden Verkündigung leicht mit einer "Unterschätzung des Gewichtes der Sünde" ­ wie bei Marheineke (325) ­ verbunden sein kann. Die katholische Konzeption, die "von einer ins Totenreich hinein verlängerten Praxis der Umkehrpredigt absieht", habe dagegen den Vorzug, daß sie "einen mit der Geschöpflichkeit des Menschen gegebenen natürlichen Glauben", sowie die Korrespondenz des moralischen Lebensvollzuges zur ethischen Botschaft Jesu in Anschlag bringt.

Zu den "theologischen Perspektiven" der Descensuslehren zählt H. zunächst die Unvereinbarkeit der Vorstellungen des Unterweltkrieges mit einem strengen Monotheismus. Die Kritik daran wurde besonders bei Strafleidenstheoretikern der Höllenfahrt wie Flacius vorgetragen. Für die Deutung der Höllenfahrt unter den Gesichtspunkt des Strafleidens spricht die Solidarität des Erlösers mit den Verlorenen, dagegen aber (wie schon Schatzgeyer einwandte) die Unvereinbarkeit einer seelischen Höllenfahrt des Gekreuzigten bis zum Zweifel an Gottes Barmherzigkeit mit der Sündlosigkeit Christi (344 f.). Die Genugsamkeit des Kreuzestodes zum Heil (Joh 19,30) schließt andererseits ein zusätzliches Leiden der Seele Jesu in der Unterwelt aus. Doch hat die katholische Kritik an der Strafleidenstheorie der Höllenfahrt nach H. übersehen, daß ein Hingang Jesu in die "schlechte Gesellschaft" der von Gott Getrennten durchaus dem irdischen Weg Jesu ans Kreuz entspricht (351).

Die Erwägung, daß die Hadesfahrt Christi die "Chancengleichheit" für die Lebenden und die Toten hinsichtlich der Heilsteilhabe herstellt, führt auf eine Erörterung "geschichtsphilosophischer Elemente" in den verschiedenen Deutungen des Vorgangs. Die Vorstellungen vom Hadeskampf stellen die Beziehung des Christusgeschehens zum Vergangenen in räumlicher Form dar. Die Integration der vor Christus Verstorbenen in das durch ihn gebrachte Heil ist das zentrale Anliegen der Höllenfahrtsvorstellung. Es entspreche modernen Vorstellungen von einer "rückwirkenden" Bedeutung geschichtlicher Ereignisse. Zu den geschichtsphilosophischen Aspekten des Themas gehört aber auch der Ausblick in die Zukunft, also einerseits der Heilsuniversalismus der Apokatastasislehren, andererseits ganz allgemein der Zusammenhang von Descensusglaube und endzeitlicher Eschatologie, sofern der Triumph über die Unterwelt als Antizipation des jüngsten Gerichts zu verstehen ist (393 ff.).

Der Schlußabschnitt des Buches über den religionsphilosophischen Sinn der Vorstellung einer Höllenfahrt Christi betont, daß bei der Vielzahl der damit verbundenen Motive "ein allen Ausprägungen gemeinsames Wesen" der Vorstellung nicht definierbar sei (453). Dennoch sei das Interesse an einer Beziehung Christi zu den Toten und das Motiv der Rettung allen Konzeptionen gemeinsam, vorwiegend mit einer Tendenz zum Universalismus des Heils (443 f.). Hinsichtlich der Zusammengehörigkeit gegensätzlicher Motive weiß die Arbeit sich den Bemühungen Göschels gegenüber verpflichtet (452).

Das Verdienst der Arbeit liegt neben der Erschließung kaum bekannter Quellen besonders im Aufweis der Vielfalt gegensätzlicher Motive, die sich mit dem Thema der Höllenfahrt Christ verbunden haben, bei Verzicht auf den Versuch einer Harmonisierung unbeschadet des Bemühens um einen systematischen Überblick, der die Einheit des Themas im Blick behält. Ihr Inhaltsreichtum und die umfassende Verarbeitung von Quellen und Literatur sichern dieser Arbeit auf lange Zeit einen Anspruch auf Beachtung nicht nur in künftigen Untersuchungen über das Spezialthema der Höllenfahrt Christi, sondern auch im Arbeiten über das christliche Heilsverständnis ganz allgemein, zu dessen Aspekten eben auch dieser gehört.