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Ausgabe:

Dezember/1997

Spalte:

1146 f

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Thumser, Wolfgang

Titel/Untertitel:

Kirche im Sozialismus. Geschichte, Bedeutung und Funktion einer ekklesiologischen Formel.

Verlag:

Tübingen: Mohr 1996. XVIII, 523 S. gr.8° = Beiträge zur historischen Theologie, 95. Lw. DM 198,­. ISBN 3-16-146502-4.

Rezensent:

Rolf Schieder

Thumser untersucht die Formel "Kirche im Sozialismus" in systematisch-theologischer Perspektive und versteht sie als einen ekklesiologischen Orientierungsversuch des DDR-Protestantismus. Jenseits billiger Ost-West-Polemik analysiert er die Transformationsprozesse und Bedeutungsvarianten dieser Formel und benennt deren Stärken und Schwächen.

Der systematisch-theologischen Analyse ist ein historischer Teil vorausgeschickt. Während die äußerst knappe Darstellung der Positionen von Marx, Engels, Bebel und Lenin zu Kirche und Religion für das Thema wenig austragen, legt sowohl die Geschichte der Kirchenpolitik der DDR wie die Entstehungsgeschichte der Formel "Kirche im Sozialismus" einen sicheren Grund zum Verständnis ihrer Problematik.

Der kirchliche Sprachgebrauch, der sich erstmals auf der Synode in Schwerin 1973 nachweisen läßt, folgt dem politischen Sprachgebrauch. Es war der DDR-Staatssekretär für Kirchenfragen, Hans Seigewasser, der 1968 die Kirchen aufforderte, ihren Ort als "Kirche im Sozialismus" zu bestimmen. Während Th. gegen eine politische Ortsbestimmung als solche keine Einwände erhebt, so kann er doch zeigen, daß die Ortsbestimmung "im Sozialismus" das real exisistierende Verhältnis zwischen Kirche und Sozialismus weniger geklärt als verschleiert hat.

Überzeugend arbeitet Th. die Problematik der Formel heraus. Eine hohe kirchenpolitische Leistungsfähigkeit könne ihr freilich nicht abgesprochen werden. Gerade in ihrer Vieldeutigkeit schuf sie den Raum für eine Fülle von Kontakten und Gesprächen zwischen Kirchenleitungen und Vertretern des Parteiapparates. Beide Seiten versicherten sich ihren Willen zur Koexistenz. Eben diese Gesprächskultur mache jedoch bereits auf ein Manko aufmerksam: Indem die Kirche die Formel "Sozialismus" adaptierte, verzichtete sie zugleich auf präzise Bestimmung der politischen Wirklichkeit, vor allem aber auf die Forderung nach einer klaren Bindung der politischen Macht an das Recht ­ eine Forderung, die beispielsweise die fünfte Barmer These unmißverständlich erhebe.

Die Ursache für diese ethische Unterbestimmung der politischen Umwelt sieht Th. darin, daß der Sozialismus nicht als ein Problem der politischen Ethik gesehen, sondern unter eine geschichtstheologische Deutung des Säkularisierungsprozesses subsumiert wurde. Vor allem die unkritische Rezeption des Bonhoefferschen Säkularisierungskonzepts sowie die Identifikation der Gedanken Bonhoeffers mit der marxistischen Geschichtsphilosophie ließ viele Theologen und Kirchenleute in der DDR glauben, sie befänden sich in einer fortgeschritteneren gesellschaftlichen Position als die Kirchen in den westlichen Demokratien. Die religionslose, mündige Welt schien vielen Kirchenleuten in besonders reiner Form in der Gestalt des politischen Systems der DDR vorzuliegen. Dabei übersah man allerdings, daß die totalitäre Ideologisierung mit einem mehr als nur metaphorischen Säkularisierungsbegriff nicht in Einklang zu bringen war.

Völlig zu Recht stellt Th. gegen die These von der säkularisierten DDR-Gesellschaft die Gegenthese auf, diese habe ihre Legitimations- und Integrationsbedürfnisse mit Hilfe einer "repressiven Zivilreligion" befriedigt. "Daß der Universalitätsanspruch der sozialistischen Zivilreligion repressiv durchgesetzt werden sollte, hat die Gesellschaft der DDR entscheidend geprägt" (313). Weil aber diese zivilreligiöse Lage im Sinne Bonhoeffers als besonders "mündig" und "weltlich" interpretiert wurde, war "eine permanente Identitätskrise der ’Kirche im Sozialismus’ systembedingt programmiert" (313). Religionskritik, die vor allem gegen die Ideologie des politischen Systems zu richten gewesen wäre, endete in innerkirchlicher Selbstkritik.

Th. identifiziert eine Reihe von kirchlich-theologischen Strategien, mit der unbegriffeneren zivilreligiösen Zumutung des politischen Systems umzugehen. Die Aufforderung zur selbstlosen, ja selbstverleugnenden Teilnahme bis hin zu einer Kenosis-Ekklesiologie benennt Th. ebenso wie die Ineinssetzung von christlichen und marxistischen Handlungszielen. Diese seien aber gegenüber der Vorstellung vom "Wächteramt" und von der "Lerngemeinschaft" marginal gewesen. Doch hätten es auch diese Selbstbestimmungen nicht vermocht, eine ideologiekritische Position zu formulieren. Weil die pragmatische Koexistenzfunktion der Formel "Kirche im Sozialismus" vorherrschend gewesen sei, könne von einer ekklesiologisch orientierenden Funktion dieser Konzepte nicht gesprochen werden.

Als ein Symptom für die theologische Schwäche der Selbstwahrnehmung der DDR-Kirchen führt Th. die "polemische Entgegensetzung der ekklesiologischen Formeln ’Volkskirche’ und ’Kirche in der Diaspora’" (311) an. Weder hätten DDR-Kirchen volkskirchliche Strukturen tatsächlich hinter sich gelassen, noch sei es systematisch-theologisch legitim, eine "situationsrelative Gestalt" der Kirche zu privilegieren, "da hierbei das Verhältnis von Institution und Konstitution der Kirche falsch bestimmt ist" (311).

War also auf der kirchenpolitischen Ebene die Formel von der "Kirche im Sozialismus" erfolgreich, so stellt Th. ein sowohl soziologisches wie theologisches Theoriedefizit fest. Mit der unkritischen Rezeption des Sozialismusbegriffs begaben sich Theologie und Kirche jener ideologiekritischen Distanz, die sowohl innerkirchlich identitätswahrend wie auch politisch-ethisch notwendig gewesen wäre.

Bei aller berechtigter Kritik betont Th. am Ende seiner Untersuchung, daß "die Ekklesiologien westlicher und östlicher Provenienz" darauf verzichten sollten, "sich wechselseitig zum Kriterium der Beurteilung der jeweils anderen zu erklären". Eine "kontextvergessene Polemik" (316) führe nicht weiter. Vielmehr gehe es darum, die Semantik der heutigen gesellschaftlichen Lage zu analysieren. Dieser ideologiekritische Aspekt ist für Th. ein notwendiger Bestandteil der "identitätskonstituierenden Kommunikation der Kirche" (219).

Ein 140seitiger Anhang bietet eine Fülle von chronologisch geordneten Quellentexten, die die Argumentationslinie des Autors stützen. Wenn der Rez. hin und wieder auch über einen typischen Dissertationsstil stolperte und die großen Hoffnungen des Autors in die orientierende Kraft der systematischen Theologie nicht teilen kann, so sieht er in Th.s Untersuchung zu Genese und Funktion der Formel "Kirche im Sozialismus" einen wichtigen Beitrag zur deutschen Zeit- und Theologiegeschichte des 20. Jh.s.