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Ausgabe:

Dezember/1997

Spalte:

1143–1145

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Schneiders, Werner [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Lexikon der Aufklärung. Deutschland und Europa.

Verlag:

München: Beck 1995. 462 S. Lw. DM 58,­. ISBN 3-406-39920-7.

Rezensent:

Johannes Wallmann

"Das vorliegende Lexikon möchte in das Zeitalter der Aufklärung einführen und zugleich als Nachschlagewerk seine Dienste anbieten" (Werner Schneiders im Vorwort). Kein wissenschaftliches Hilfsmittel für Spezialisten der Aufklärungsforschung liegt hier vor, sondern ein Hilfsmittel für diejenigen, die am Verstehen des historischen Phänomen "Aufklärung" interessiert sind, ohne über spezielle Kenntnisse zu verfügen.

Aufklärung über die Aufklärung ­ so könnte man die Intention dieses sich an eine weitere, nicht nur wissenschaftliche Öffentlichkeit richtenden Werkes charakterisieren, das in guter aufklärerischer Tradition steht, wenn es sich in die Form eines Lexikons kleidet. "Auf Fachterminologie wurde weitgehend, auf gelehrte Anmerkungen grundsätzlich verzichtet; die Literaturangaben wurden auf einige wenige weiterführende Werke begrenzt" (ebd.).

Dieses Lexikon präsentiert sich als Sachwörterbuch. Personenartikel sind nicht aufgenommen. In rund 250 Stichwörtern sind Grundbegriffe der zeitgenössischen Philosophie wie Vernunft, Fortschritt, Kritik, Vorurteil ebenso erfaßt und erklärt wie die komplexen aufklärerischen Positionen zu Ethik, Metaphysik, Religion, Ökonomie, Handel, Gesellschaft, Staat.

Zwei besondere Intentionen sind maßgebend gewesen. Die eine eher inhaltlicher, die andere methodischer Art. Als ein deutsches Sachwörterbuch zum Zeitalter der Aufklärung hat man sich auf die deutsche Aufklärung konzentriert, teils wegen des natürlichen Interesses an der eigenen Geschichte, teils weil die Kenntnisse über Deutschland als Land der Aufklärung immer noch sehr gering seien, schließlich weil eine Darstellung der gesamt-europäischen Aufklärung den Rahmen eines handlichen Bandes gesprengt hätte. Ein angekündigtes französisches Pendant, das, wie man hört, auch in deutscher Übersetzung herauskommen soll, dürfte schon wegen des größeren Interesses an der west-europäischen Aufklärung inhaltlich recht anders aussehen. Gleichwohlwird der Blick auf die außerdeutsche Aufklärung weit geöffnet durch Länderartikel nicht nur zu den für die Epoche klassischen Ländern Niederlande, England und Frankreich, sondern u. a. zu Dänemark, Italien, Spanien, Portugal, Rußland und Polen, darüber hinaus auch Amerika, China, Japan.

Sodann soll gegenüber der Verabsolutierung entweder der traditionell geisteswissenschaftlichen oder der neuerdings dominierenden sozialgeschichtlichen Perspektive einen Mittelweg gegangen werden. Es sind daher auch die Realia und die Realwissenschaften, sowie signifikante Kulturerscheinungen in die Darstellung einbezogen worden. Der Herausgeber vermerkt, daß in diesen Hinsichten mancherlei Wünsche offen bleiben mußten. Vermutlich denkt er an den Artikel Paris, der eingehend über die soziale Schichtung der Stadtbevölkerung, über Straßenschmutz, Kanalisation und Bauwut informiert, auch darüber, daß Paris das Gesetz der Mode z. B. in der Tischlerei bestimmte, der aber neben Oper und schöner Literatur keine Zeile übrig hat für Paris als Zentrum der aufklärerischen Philosophie (was man beiläufig aus dem Artikel Schweiz erfährt). Dies ist jedoch eher ein Ausnahmefall. Im großen und ganzen kann man das Experiment einer Verbindung von Ideen- und Sozialgeschichte als gelungen ansehen.

Für die rund 250 Stichwörter sind 124 Autoren gewonnen worden. Die meisten nur für einen Artikel. Werner Schneiders, der Herausgeber, hat mit den Artikeln Aberglaube, Affekt/Leidenschaft, Aufklärung, Decorum/Anstand, Freiheit (philosophisch), Geschichtsphilosophie, Glück, Kritik, Metaphysik, Naturrecht, Nutzen, Philosophie (deutsche), Preußen, Recht und Moral, Staatsphilosophie, Tradition, Vernunft/Verstand so etwas wie das Skelett des Bandes verfaßt. Ein engerer Kreis, zu dem Günter Gawlick, Helmut Holzhey, Harm Klueting, Ulrich Dierse und Walter Sparn gehören, hat drei bis sechs Artikel beigesteuert. Das kommt der Geschlossenheit des Bandes zugute. Die im Vorwort dargelegte Konzeption, nach der die deutsche Aufklärung in ihrer spezifischen Eigenart herausgearbeitet und nicht am Maßstab der westeuropäischen Aufklärung gemessen werden soll (man darf erinnern: wie weiland in der marxistischen Aufklärungsforschung der DDR) wird einigermaßen konsequent durchgeführt.

Jeder Autor hat natürlich seine eigene Perspektive und setzt seine eigenen Akzente. In Äußerlichkeiten gibt es manche Uneinheitlichkeit. Der Artikel Göttingen beschreibt den wirtschaftlichen Aufschwung der Stadt im 18. Jh und die Gründung und innere Struktur der Universität, ohne irgendeine Person zu nennen, nicht einmal Lichtenberg. Der unmittelbar folgende Artikel Halle(Saale) ist personengesättigt und nennt neben den bedeutendsten Universitätsprofessoren auch die bekanntesten von denen, die in Halle studiert haben. Auch gibt es Unterschiede im Niveau. So vergleiche man den glänzenden, bei äußerster Knappheit ein Höchstmaß klarer Information vermittelnden Artikel Deismus von Gawlick mit dem doch recht schwachen Artikel Atheismus. Etwas stärkerer redaktioneller Eingriff wäre vielleicht angebracht gewesen. Der Name Christian Wilhelm Dohm begegnet im Artikel Kaffee/Kaffeehaus, nicht aber im unmittelbar vorangehenden Artikel Juden, wo er zu erwarten wäre. Da in den meisten Artikeln die Vornamen auch bekannter Personen ausgeschrieben sind, stört es, wenn gerade in den Artikeln, in denen unbekanntere Personen begegnen (z.B. im Artikel Atheismus), die Vornamen abgekürzt werden.

Blickt man auf die für Theologie und Kirchengeschichte relevanten Artikel, die erfreulich reichlich ausgefallen und auch kompetenten Autoren, meist Theologen anvertraut worden sind, so fällt auf, daß die in jüngster Zeit zu beobachtende Tendenz, den dominierend protestantischen Charakter der deutschen Aufklärung zu ignorieren oder ihn in Frage zu stellen, um die katholische Aufklärung aufzuwerten, wenig Unterstützung findet. Zwar fehlen unter den Länderartikeln einige protestantische Länder (Schweden, die baltischen Länder), wogegen Portugal und Irland, die für die Aufklärung kaum in der ersten Reihe stehen, aufgenommen sind. Aber bei den Artikeln, die einzelnen Zentren der Aufklärung gewidmet sind, fällt doch auf, daß es sich ausschließlich um Städte aus dem protestantischen Konfessionsgebiet handelt: Berlin, Braunschweig, Göttingen, Halle, Hamburg, Wolfenbüttel, Zürich.

"Der Konfession nach dominierten die protestantischen Orte" heißt es im Artikel Gesellschaften, patriotische. Die Bedeutung der katholischen Aufklärung wird gering eingestuft. Der Artikel Katholizismus handelt von der Prägung des deutschen Katholizismus durch das Konzil von Trient (die aber doch wohl bis ins 20. Jh. und nicht nur, wie behauptet, bis ins 19. Jh. andauerte), der im 18.Jh. noch bestehenden mittelalterlichen Struktur der Reichskirche, schließlich der Frömmigkeit und der Scholastik des Barockkatholizismus und erwähnt nur knapp die aufklärerischen Reformbewegungen des Spätjansenismus und des Josephinismus.

Der Artikel Protestantismus von Friedrich Wilhelm Graf hebt den Unterschied zwischen der kirchenkritischen Aufklärung im katholischen Frankreich und Deutschland heraus, wo viele Gebildete in der Aufklärung eine Fortführung bzw. Vollendung der Reformation Martin Luthers erblickten. Dabei ist von dem protestantischen Norden Deutschlands die Rede, wo viel stärker als im katholischen Süden Aufklärung, Kirche und Universitätstheologie eng verbunden waren. Wenn schließlich der Artikel "Preußen", den Werner Schneiders verfaßt hat, mit dem Satz beginnt: "Die Aufklärung in Deutschland war in erheblichem Maße eine Aufklärung in Preußen, um nicht zu sagen, preußische Aufklärung", so wird die katholische Aufklärung in Deutschland als nicht erheblich abqualifiziert.

Der Theologe, sei er Systematiker oder Kirchenhistoriker oder überhaupt an der Aufklärung interessiert, wird dieses informative Lexikon mit ebensoviel Genuß wie Gewinn lesen, auch wenn wegen der Kürze der Artikel manches, auch wichtiges, z. B. die Liturgiereformen in Protestantismus und Katholizismus, unter den Tisch gefallen ist. Der Rez. freut sich, daß seine Unterscheidung zwischen Pietismus im weiteren und engeren Sinn von Martin Brecht, der sie andernorts für nicht ratsam erklärt hat, im Artikel Pietismus jetzt übernommen worden ist.

Ein Versehen ist S. 316 passiert, wo "nadere Reformatie" statt "andere Reformatie" gelesen werden muß. Im Autorenverzeichnis taucht jemand versehentlich als Professor für evangelische Theologie in Bochum auf (457). Für eine Zweitauflage wünscht man sich ein Personenregister.