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Ausgabe:

Dezember/1997

Spalte:

1139–1143

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Paul, Gerhard, Danker, Uwe, u. Peter Wulf [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Geschichtsumschlungen. Sozial- und kulturgeschichtliches Lesebuch Schleswig-Holstein 1848–1948.

Verlag:

Bonn: Dietz 1996. 332 S. m. zahlr. Abb. gr.8°. ISBN 3-8012-0237-2.

Rezensent:

Hasko v. Bassi

In einem vielbeachteten Aufsatz hat der Gießener Kirchenhistoriker Martin Greschat vor einigen Jahren auf die "Bedeutung der Sozialgeschichte für die Kirchengeschichte" hingewiesen (HZ 256, 1993, 67-103; jetzt in: A. Doering-Manteuffel/K. Nowak [Hrsg.], Kirchliche Zeitgeschichte, 1996, 101 ff.). Was für die Methodendebatte der Kirchenhistoriker im allgemeinen gilt, hat auch Bedeutung für denjenigen, der sich mit Territorialkirchengeschichte befaßt. So ist es sinnvoll, auch im Rahmen dieser Zeitschrift auf ein Buch aufmerksam zu machen, das auf den ersten Blick ganz unfachspezifisch zu sein scheint.

Unter der Herausgeberschaft von Gerhard Paul, Uwe Danker und Peter Wulf, alle drei Direktoren des am Anfang der 90er Jahre gegründeten "Institut für schleswig-holsteinische Zeit- und Regionalgeschichte" in Schleswig, haben 35 Autoren, überwiegend aus dem engeren und weiteren Umfeld des Instituts, ein sozial- und kulturgeschichtliches Lesebuch zusammengestellt, das einhundert Jahre schleswig-holsteinischer Geschichte von 1848 bis 1948 facettenreich behandelt. Der vom Verlag liebevoll ausgestattete Band gliedert sich ­ den üblichen historischen Zäsuren entsprechend ­ in fünf Abschnitte: 1. 1848-1864: Die Zeit der Herzogtümer, 2: 1864-1918: Die preußische Zeit, 3. 1918-1933: Die kurzen Jahre der Republik, 4. 1933-1945: Die nationalsozialistischen Jahre, 5. 1945-1948: Nachkriegszeit. Der Band bietet Beiträge zu einer so reichen Fülle von verschiedensten Aspekten des kulturellen und sozialen Lebens, daß es unmöglich ist, die einzelnen Aufsätze hier angemessen zu würdigen. Aber eine Skizze dessen, was den Leser erwartet, soll doch versucht werden und sei es nur durch Nennung des jeweiligen Beitrags.

Gut verfolgen läßt sich anhand des Lesebuchs der dramatische Wandel der Lebens- und Arbeitswelt, der sich in den einhundert Jahren zwischen 1848 und 1948 vollzogen hat. Der Rendsburger Historiker Rolf Schulte skizziert die Lebenswirklichkeit von Menschen auf dem Lande im 19. Jh. Höchst eindrücklich beschreibt er die ­ ungeachtet der Bauernbefreiung im Jahre 1805 ­ de facto bis zur Jahrhundertwende fortbestehenden feudalen Strukturen und die harten wirtschaftlichen Bedingungen, unter denen die Mehrheit der Bevölkerung zu leben und zu leiden hatte. Die historischen Fotografien des Foto-Pioniers Thomas Backens liefern dazu beeindruckende Illustrationen. Peter Wulf bietet einen kurzen Abriß der Geschichte der Industrialisierung im Norden, beginnend in den 1820er Jahren. Interessant sind hier vor allem seine Hinweise auf die mentalen Konsequenzen für die Arbeitskräfte, die nun ganz anderen, von den Zwängen der Technik bestimmten Anforderungen gerecht und teilweise freilich auch besser ausgebildet werden mußten (erste Gewerbeschulen). In engem Zusammenhang damit steht der Aufsatz des an der Universität Kiel tätigen Historikers Ulrich Lange, der sich mit der Modernisierung der Infrastruktur (Chaussee- und Eisenbahnbau, Telegraphie- und Telefonwesen, Gas-, Elektrizitäts- und Wasserversorgung, Kanalisation) befaßt. Hier hätte man gern Genaueres zu den kulturellen Auswirkungen dieser Strukturverbesserungen erfahren, denn etwa durch den Kleinbahnbau wird erstmals für einen Großteil der Landkinder der Besuch einer weiterführenden Schule überhaupt zu einer denkbaren Möglichkeit.

Traditionell bildete in Schleswig-Holstein seit jeher der Fischfang einen wichtigen Erwerbszweig. Unter anderem mit Methoden der oral history versucht Peter Danker-Carstensen, Leiter des Rostocker Schiffahrtsmuseums, eine Annäherung an den sich wandelnden Arbeitsalltag von Fischern. Einen Ausschnitt industrieller Arbeitswelt um 1900 stellt der Remscheider Stadtarchivleiter Urs Diederichs am Beispiel der Arbeitsordnung einer Metallgießerei dar mit zahlreichen rigiden Bestimmungen zur Sicherung der Arbeitsdisziplin. Strikte Arbeitsdisziplin prägte auch die entsprechenden Reglementierungen für die Arbeiter beim Bau des Kaiser-Wilhelm-Kanals, dem Rolf Schulte sich in seinem zweiten Beitrag zuwendet. Als der Kanal 1895 eröffnet wurde, wurde damit zugleich ein neues Kapitel der Landesgeschichte aufgeschlagen: "Schleswig-Holstein war ... aus seiner geografischen Isolierung heraus direkt an die Weltpolitik angeschlossen worden" (100). Verbunden mit der letztlich militärischen Zweckbestimmung des Kanals ist der Aufstieg der Kieler Werftindustrie. Den Alltag einer Werftarbeiterfamilie während der Weimarer Republik stellt Jens Christian Jacobsen dar ­ wichtige Quelle dabei die Notizbuch-Eintragungen, die der Werftarbeiter Walter Pagenkopf während der Jahre 1913 bis 1940 bezüglich seiner Einkünfte vorgenommen hat. In starkem Kontrast zu diesen Lebensverhältnissen stand natürlich das Großbürgertum, von dessen Lebenswelt die Leiterin des Lübecker Stadtarchivs, Antjekathrin Graßmann, am Beispiel der Familie Eschenburg in den Jahren nach der Jahrhundertwende ein anschauliches Bild liefert. Der Mentalität des Kleinbürgertums hingegen spürt der Kieler Hochschulassistent Harm-Peer Zimmermann am Beispiel der zahlreichen Kriegervereine nach. Die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise Ende der 20er Jahre auf die schleswig-holsteinische Landwirtschaft und Industrie untersucht Klaus-J. Lorenzen-Schmidt vom Hamburger Staatsarchiv. Die Landwirtschaft war durch die fortschreitende Mechanisierung zu immer größeren Investitionen gezwungen bei gleichzeitigem Preisverfall für ihre Erzeugnisse­ mit den bekannten politischen Konsequenzen, von den später noch zu reden sein wird. Die Lage auf den Werften während des Zweiten Weltkriegs beschreibt der Kieler Historiker Helmut Grieser in seinem Beitrag, der der Rüstungsschmiede und dem Kriegshafen Kiel gewidmet ist. Hier schließt Jürgen Jensen an, Direktor des Kieler Städtischen Museums, der über die nach Mai 1945 einsetzenden Bemühungen unterrichtet, die fast völlig zerstörte Stadt vom Kriegsschauplatz zur "Friedenswerkstatt" werden zu lassen.

Im Laufe der einhundert Jahre, über die der vorliegende Band Rechenschaft geben will, hat es immer wieder Einzelne oder Bewegungen gegeben, die mit der vorfindlichen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Wirklichkeit nicht einverstanden waren und sich zu wehren suchten. Der emeritierte Leiter des Instituts für deutsche Geschichte in Tel Aviv, Walter Grab, erinnert in biographischen Skizzen an die auf je ihre Art gescheiterten Demokraten Georg Conrad Meyer (1774-1816) und Harro Harring (1798-1870).

Am Beispiel des aus einer Pastorenfamilie stammenden Zeitungsjournalisten Theodor Olshausen (1802-1869) behandelt der in Amerika lehrende Historiker Joachim Reppmann das Thema "Massenauswanderung von Schleswig-Holsteinern in die USA". 200.000 Menschen verließen aus politischen und ökonomischen Gründen bis 1930 ihre Heimat und suchten ihr Glück jenseits des Atlantiks. Der frühen Arbeiterbewegung in den 1870er Jahren wendet der Leiter des Schleswiger Kulturamtes, Holger Rüdel, sich zu. Der Stimmenanteil des ADAV war kurz nach der Reichsgründung bei den Reichstagswahlen des Jahres 1874 überraschend hoch, er lag mit 32,8% gut vierfach über dem Reichsdurchschnitt. Daß der Norden des Reiches in besonderem Maße über revolutionäres Potential verfügte, zeigte sich auch, als das Kaiserreich seinem Ende entgegenging und Kiel zum Ausgangspunkt der Novemberrevolution 1918 wurde. Der Geschichtswissenschaftler Dirk Dähnhardt berichtet hierüber.

In den Weimarer Jahren konnte sich erstmals öffentlich-politisches Engagement von Frauen entfalten. Am Beispiel der Flensburger Sozialdemokratin Jane Voigt erzählt Maike Hanf, Forschungsstelle für Frauenfragen in Flensburg, von all den Schwierigkeiten, mit denen politisch aktive Frauen sich dennoch konfrontiert sahen. Ein lebendiges Bild der Arbeiterkultur (vor allem des Theaters) und des Arbeitersports nach 1918 zeichnet der Historiker Uwe Carstens.

Ein hochinteressantes Portrait des in Lübeck aufgewachsenen Anarchisten Erich Mühsam, dem sich zeitweilig der junge Herbert Wehner anschloß, bietet der Beitrag von Frank Trende, Referent im Kieler Kultusministerium. Eine Widerstandsbewegung eigener Art, die der aufkommende Nationalsozialismus für sich zu nutzen wußte, war Ende der 20er Jahre die Landvolkbewegung, geboren aus der Not der Wirtschaftskrise und von Hans Fallada, damals als Journalist in Neumünster tätig, in seinem Roman "Bauern, Bonzen und Bomben" literarisch porträtiert. Peter Wulf beschreibt die Entwicklung.

Schleswig-Holstein stand von jeher im politischen und kulturellen Spannungsfeld zwischen Deutsch- und Dänentum. Ausdruck hat dies auch in steinernen Zeugnissen gefunden. Nationale Monumente und Gedenksteine im Grenzland stellt der Direktor des Sonderburger Museums, Jens Ole Lefèvre, vor. Im Blickpunkt einer internationalen Öffentlichkeit stand der deutsch-dänische Konflikt vor allem bei den Volksabstimmungen des Jahres 1920, die schließlich zur Abtretung Nordschleswigs führten. Der Beitrag des Geschichtswissenschaftlers Wilhelm Koops wird ergänzt durch eine aufschlußreiche Bildstudie zu den Abstimmungsplakaten jener Auseinandersetzung.

Die nationalsozialistische Aggression führte zu der Besetzung Dänemarks durch deutsche Truppen im April 1940 und mündete schließlich in der endgültigen Niederlage. Im November 1943 wurde von einigen weitsichtigen und mutigen Männern aus der deutschen Minderheit in Nordschleswig, dem sogenannten Haderslebener Kreis, mit der Haderslebener Erklärung, ihrem Bekenntnis zur Demokratie und ihrer Absage an Grenzrevisionsbestrebungen, die geistige Grundlage für die spätere friedliche Integration der deutschen Nordschleswiger in das demokratische Dänemark geschaffen. Die Bonn-Kopenhagener Erklärungen von 1955 ermöglichten ein produktives Miteinander im Grenzland, das, wie der Leiter des Apenrader Instituts für Grenzregionforschung, Hendrik Becker-Christensen, zu recht hervorhebt, Vorbildcharakter für das Zusammenleben in Europa haben kann.

Von vier Kriegen ist das Land zwischen den Meeren zwischen 1848 und 1948 heimgesucht worden. Über die deutsch-dänischen Kriege der Jahre 1848-1850 und 1864 berichtet die dänische Museumsinspektorin Inge Adriansen. Der Wiener Friede im Oktober 1864 brachte das Ende der Verbindung zwischen den Herzogtümern und dem Königreich Dänemark. Wie der Erste Weltkrieg sich ­ nach anfänglichem Jubel ­ immer katastrophaler auf das alltägliche Leben in der Heimat auswirkte und zu Lebensmittelunruhen und Streiks führte, schildert die Historikerin Britta Nicolai-Kolb.

Die entsetzlichen Zerstörungen, die der Zweite Weltkrieg dem Land brachte, sind im vorliegenden Band in einigen wenigen Fotografien dokumentiert. Wie die schleswig-holsteinische Ministerpräsidentin in ihrem Geleitwort schreibt, nahm Schleswig-Holstein nach dem Krieg mit über 1,3 Mio. heimatlos gewordenen Menschen mehr Flüchtlinge auf als irgendein anderes Land. Über ihren Alltag berichtet Uwe Carstens, der Soziologe Thomas Herrmann befaßt sich im besonderen mit der Lage der Frauen in der Nachkriegszeit. Der Landeshistoriker Kurt Jürgensen schildert die administrativen Maßnahmen der britischen Besatzung zur Gründung eines demokratischen Staatswesens im Norden in den Jahren 1945 bis 1948.

Eine Reihe von Beiträgen ist der Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft gewidmet. Der Spiegel-Redakteur Rolf Rietzler analysiert den Aufstieg der NSDAP in Schleswig-Holstein und macht überzeugend klar: "Die Diagnose für das Phänomen Nationalsozialismus in Schleswig-Holstein muß lauten: endogen, nicht exogen ­ auf eigenem Mist gewachsen" (202). Rietzler nimmt in diesem Zusammenhang übrigens auch die schleswig-holsteinische Landeskirche in den Blick, deren Pastoren schon 1932 zu 25% "Pg.s" waren. Gerhard Paul beschreibt den Aufbau des NS-Herrschaftsapparates, an dessen Spitze Gauleiter Hinrich Lohse stand. Fassungslos macht den Betrachter ein dem Beitrag beigegebenes Foto, das den Himmelfahrtsausflug der Flensburger Gestapo im Jahre 1936 zeigt. "Die banale Seite des Terrors" lautet der Kommentar zu diesem Bild, das eine heitere Herrenrunde mit kleinen, albernen Strohhütchen zeigt (215). Die Lage der deutschen bzw. dänischen Minderheit beiderseits der Grenze wird von H. Becker-Christensen skizziert, mit Schwerpunkt auf dem Prozeß der Nazifizierung der deutschen Minderheit: "Als die Minderheit gegen Ende des Krieges zu erkennen gab, daß sie Brücken zur dänischen Gesellschaft schlagen wollte, war es zu spät" (231). Unter der Überschrift "Das ’andere Deutschland’ in Skandinavien" schildert der Osloer Historiker Einhart Lorenz Emigration und Exil norddeutscher Nazi-Gegner, unter ihnen der Lübecker Sozialist Willy Brandt. Die durch zahlreiche Publikationen im Bereich der Widerstandsforschung ausgewiesene Kieler Historikerin Irene Dittrich (siehe ThLZ 120, 1995, 256 ff.) berichtet über Aktivitäten kommunistischer Gruppen gegen das NS-Regime. Sozialdemokratischer Widerstand wird von Dorothea Beck am Beispiel des Lübeckers Julius Leber thematisiert, der nach der Verurteilung durch den sog. Volksgerichtshof im Januar 1945 in Berlin-Plötzensee ermordet wurde. Opfer des nationalsozialistischen Terrors waren auch Angehörige der Wehrmacht und der Marine. Gerhard Paul schreibt über Todesurteile und Exekutionen von Marinesoldaten in Kiel. Eines der Opfer, der U-Boot-Kommandant Oskar Kusch, hat kurz vor der Hinrichtung eine Zeichnung mit dem Titel "Die Schachspieler" geschaffen. Sie läßt den Betrachter kaum mehr los (265). Uwe Danker befaßt sich mit dem letztendlich gescheiterten Versuch der Entnazifizierung (Gauleiter Lohse etwa wäre um ein Haar sogar als "entlastet" eingestuft worden), aber Danker fragt auch zurecht, ob es denn für die Alliierten überhaupt eine Alternative zu dem gewählten Verfahren gegeben hätte.

Einige kritische Bemerkungen zu diesem insgesamt hervorragenden Buch müssen dennoch sein. Der Titel ist mit seiner doch nicht ganz überzeugend gelungenen Anlehnung an das Schleswig-Holstein-Lied etwas zu gewollt originell. Die Akzente des Buches liegen recht ungleich verteilt. Es ist denn eben doch sehr viel mehr ein sozialgeschichtliches als ein kulturgeschichtliches Lesebuch.

Mit nur zwei Schlaglichtern wird die Bildende Kunst in dem vorliegenden Band in den Blick genommen, einmal in dem Beitrag des Direktors des Schleswig-Holsteinischen Landesmuseums, Heinz Spielmann, über die "Brücke"-Maler, die zum wohl wichtigsten kulturellen Erbe des Nordens gehören, und dann in dem Aufsatz des Kunsthistorikers Hans-Günther Andresen über die sehr viel weniger bekannte "Heimatschutz-Architektur", die ab ca. 1910 die Architektur des Landes in Theorie und Praxis prägte. Nachdem Uwe Danker in seinem Vorwort zu diesem Band ausdrücklich den "agrarisch-protestantischen" Charakter Schleswig-Holsteins hervorhebt, ist es um so erstaunlicher, wie wenig der religiös-kulturelle Aspekt hier Berücksichtigung findet. Man mag darüber spekulieren, ob Berührungsängste der Herausgeber und Autoren diese blinden Flecken verursachen.

Es ist jedenfalls zu bedauern, daß man die Chance versäumt hat, die Bedeutung des Protestantismus für die Kultur- und Sozialgeschichte des Landes in diesem Zusammenhang in den Blick zu nehmen. So sehr zu wünschen ist, daß die Kirchengeschichtsforschung sich verstärkt kultur- und sozialgeschichtlichen Fragestellungen öffnet, so sehr wird man Allgemeinhistorikern, die auf diesem Felde tätig sind, empfehlen, auch den religiös-kirchlichen Aspekten von Kultur und Gesellschaft angemessen nachzugehen.