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Ausgabe:

September/2007

Spalte:

1025–1027

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Pithan, Annebelle, Leimgruber, Stephan, u. Martin Spieckermann [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Verletzlichkeit und Gewalt. Ambivalenz wahrnehmen und gestalten.

Verlag:

Münster: Comenius-Institut 2005. 213 S. m. Abb. gr.8° = Forum für Heil- und Religionspädagogik, 3. Kart. EUR 13,80. ISBN 3-924804-59-1.

Rezensent:

Gottfried Adam

Das Forum für Heil- und Religionspädagogik behandelt aktuelle Bildungsfragen von Menschen mit Behinderungen – sowohl im Blick auf Familie und Schule als auch im Blick auf die kirchengemeindlichen und diakonischen Handlungsfelder.
Die Veröffentlichung geht auf das dritte Forum zurück. Sie wird eröffnet mit einer Meditation zu Psalm 124, die eine Vision des Le­bens jenseits von Unterdrückung und Gewalt in den Blick rückt. Die folgenden vier Beiträge thematisieren das Thema in philosophischer, pädagogischer und theologischer Sicht. Dabei geht es um die Kultur des Dialoges, um unbeabsichtigte Demütigungen, die Hilfehandeln hervorrufen, eigene Gewaltpotentiale, die es zu bearbeiten gilt, sowie pädagogische und theologische Aspekte. Die Beiträge zeigen allesamt, dass und wie Gewalt und Aggressionen Teil des menschlichen Lebens und der menschlichen Gesellschaft sind und wie man damit sinnvoll umgehen kann.
Besonderes Interesse verdient der Beitrag von Andreas Möckel »Von der gewaltlosen Gewalt der Erziehung«. Der Autor macht deutlich, dass Erziehung immer Macht ausübt, und er untersucht, wann die erzieherische Macht in Gewalt umschlägt. So stellt er sich etwa folgenden Fragen: Wie wird Gewalt z. B. mit Hilfe der Sprache ausgeübt? Wie kann eine gewaltlose Gewalt im pädagogischen Alltag konkret gestaltet werden? Was sind die Grenzen der Gewalt? An Beispielen aus dem pädagogischen Alltag zeigt Möckel, wie man mit der Gewalttätigkeit von Kindern praktisch umgehen kann. Hier kommt Janusz Korczak zu Wort, der fünf Verfahren zur Verzögerung der handgreiflichen Gewalt vorschlägt (58 f.). Sodann wird gezeigt, wie physische Gewalt in sprachliche und damit in legitime Gewalt umgewandelt werden kann. Möckel geht weiterhin auf die Notwendigkeit ein, Erziehungsfelder neu zu begründen und Distanz zu gewinnen. Er verweist auf die Schritte Kor­czaks, die das Ehrgefühl der Kinder schonen und ihnen den Weg von der physischen zur sprachlichen Konfliktlösung zu eröffnen vermögen. Zum Schluss ruft er zur politischen Unterstützung durch die Verantwortlichen für den Bereich der Erziehung auf, um so die Voraussetzungen für die Wirksamkeit einer gewaltlosen Gewalt der Erziehung zu schaffen.
Die folgenden zehn Beiträge behandeln konkrete Fragen des Lebens und Lernens von Menschen mit Behinderungen. Zunächst geht es um die Erfahrung von struktureller Gewalt, was am Beispiel des Lebenslaufs von drei Personen mit körperlichen Behinderungen aufgezeigt wird. Weiterhin wird die Frage aufgegriffen, warum di­rekte Gewalt mehrheitlich von Jungen und Männern ausgeübt wird. Es wird der Zusammenhang von männlicher Sozialisation, gesellschaftlichen Männerbildern und deren Wirkung analysiert und es wird gezeigt, in welcher Weise hier Präventionsprogramme (z. B. das Projekt »Faustlos«) hilfreich sein können.
Was ein liturgisch-basaler Religionsunterricht für die Erfahrung eines gewaltarmen Raumes beitragen kann, wie mit den vorhandenen Aggressionen der Kinder und Jugendlichen konstruktiv umgegangen werden kann und welche Möglichkeiten ein künstlerisch-ästhetischer Zugang mit seinen Formen symbolischen Handelns in der Arbeit mit Bildern und durch die Verwendung von Scherbenbildern eröffnet – das sind weitere Themen. Um Einsicht in die eigenen Schwächen und Verletzlichkeiten geht es in einem Erfahrungsbericht über die Begegnung zwischen Konfirmanden und behinderten Jugendlichen. Schließlich: Wie kann in der Taubblindenseelsorge über sexuelle Gewalterfahrungen kommuniziert werden?
Angesichts der großen Zahl von Muslimen und Musliminnen in Deutschland, Frankreich und der Schweiz verdienen Stephan Leimgrubers Darlegungen zur islamischen Auffassung von Behinderung und zur Gewalterfahrung von muslimischen Kindern mit Behinderungen besonderes Interesse. An der Geschichte von Kain und Abel, die sowohl in der Bibel wie auch im Koran vorkommt, entwi­ckelt der Autor interreligiöse Ansätze zum Umgang mit Ge­walt.
In einer Gesellschaft, in der Gewalt und Gewalttätigkeit sowie Aggressionen zunehmen, kann die schulische und außerschulische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen dieses Thema nicht übergehen, zumal in dieser Hinsicht Menschen mit Behinderungen im­mer schon im besonderen Maße Gefährdungen ausgesetzt waren. Die vorgelegten wissenschaftlichen Erklärungsansätze zum Phänomen der Gewalt aus pädagogischer, theologischer, philosophischer und psychologischer Sicht sowie die Vorschläge zum Um­gang damit spannen einen weiten Bogen, welcher der verhandelten Sache durchaus angemessen ist.
Die Erfahrungsberichte aus Schule und diakonischen Einrichtungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie nicht nur berichten, sondern die Erfahrungen auch theoretisch analysieren und kritisch reflektieren. Dieser Band belegt erneut die Fruchtbarkeit des Dialogs zwischen Wissenschaftlern und Praktikern, wie er für das Forum für Heil- und Sonderpädagogik kennzeichnend ist. Die Überlegungen und Ergebnisse dieses dritten Forums verdienen auch über den unmittelbar im Blickfeld stehenden Personenkreis hinaus Beachtung.