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Ausgabe:

Dezember/1997

Spalte:

1138 f

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Graf, Friedrich Wilhelm, u. Hans Martin Müller [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Der deutsche Protestantismus um 1900.

Verlag:

Gütersloh: Kaiser/ Gütersloher Verlagshaus 1996. 303 S. 8° = Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie, 9. Kart. DM 78,­. ISBN 3-579-00106-X.

Rezensent:

Dietmar von Reeken

Das Projekt der Moderne scheint sich gegenwärtig ­ wieder einmal? ­ in einer tiefen Krise zu befinden. Dies betrifft nicht nur die gegenwärtigen ökonomischen Probleme, sondern dahinter stecken tiefgreifende Unsicherheiten über das weitere Schicksal dieses Projekts selbst. Krisenerfahrungen aber verlangen nicht nur nach konkreten Lösungsangeboten für einzelne Schwierigkeiten, sondern vor allem nach einer Verständigung und Selbstverständigung der Beteiligten über die geistigen Grundlagen ihres Gemeinwesens, über das, was diese Gesellschaft im Innersten zusammenhält. Ein Teil dieses Identitätsfindungsprozesses ist die Beschäftigung mit der Frage nach der Rolle der Religion in der modernen Gesellschaft ­ ein prägnanter Ausdruck war der Kruzifixstreit, der aber leider wieder verebbt ist, die Auseinandersetzung über den schulischen konfessionellen Religionsunterricht ist ein anderer.

Zentrale Bedeutung bei der Aufklärung über die Gegenwart und Zukunft unserer Gesellschaft besitzt die Aufarbeitung der Geschichte der Moderne, und das heißt in diesem Fall die Geschichte der Bedeutung der Religion. Das alte Säkularisierungstheorem, nach dem gleichsam sukzessive und notwendigerweise die alten religiösen Deutungsmuster und Sozialformen im Modernisierungsprozeß verschwänden, ist mit den historischen und theologischen Forschungen der vergangenen Jahre einer differenzierteren Sichtweise gewichen. Dennoch wissen wir insbesondere über die Geschichte des Protestantismus im Umbruch zur Moderne ­ beim Katholizismus sieht der Forschungsstand schon besser aus ­ noch viel zu wenig.

Vor diesem Hintergrund ist das Erscheinen des vorliegenden Buches nur zu begrüßen, das sich in eine Reihe von Neuerscheinungen zur Geschichte des Protestantismus im Kaiserreich einfügt. Es entstand als Ergebnis dreier Tagungen, die eine 1988 gebildete Forschungsgruppe der "Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie" zum Themenkreis "Deutscher Protestantismus um 1900" veranstaltet hat. Ziel der Forscher war es nicht, das Thema in seiner ganzen Fülle darzustellen, sondern einzelne neue Themenfelder zu erschließen, die bislang in der Forschung vernachlässigt wurden.

Dieses Ziel ist erreicht worden. Nach einer kurzen, prägnanten Einleitung des Mitherausgebers Friedrich Wilhelm Graf, der unzweifelhaft einer der besten Kenner und brillantesten Analytiker der protestantischen Entwicklung im 19. und 20. Jh. ist, werden in vier Teilen insgesamt elf Beiträge präsentiert, die durchweg neue, bislang in der Forschung kaum beachtete Gegenstände behandeln. Die Überschriften der Teile deuten schon das Spektrum an: "Theologischer Methodenstreit", "Elastische Volkskirche", "Protestantische Kunst" und "Unscharfe Ränder". Es geht u. a. ­ für eine ausführlichere Beschreibung ist hier leider kein Raum ­ um die theologischen Diskussionen über das eigene Selbstverständnis des Faches, um die Predigt liberaler Theologen, die religiöse Mentalität der Volksschullehrerschaft, die zeitgenössisch sehr breit diskutierte Frage der Gemeindereform, das Verhältnis des Protestantismus zu Kunst und Musik, um den Fall Schrempf, einen der vielen noch nicht bearbeiteten "Fälle", die um die Jahrhundertwende in mehreren Landeskirchen und in der protestantischen Öffentlichkeit insgesamt die Gemüter immer wieder heftig bewegten, und um den Nürnberger Pfarrer Rittelmeyer und seinen Weg vom liberalen Protestantismus zur anthroposophischen Christengemeinschaft, zur "vagierenden Religiosität", wie Nipperdey gesagt hätte.

Um nur einen Beitrag aus dem Buch herauszugreifen: Volker Drehsen untersucht Programm und Profil einer wichtigen zeitgenössischen Zeitschrift, der "Monatsschrift für die kirchliche Praxis", und es gelingt ihm dabei u. a., ein breites Panorama der intensiven pastoralen Diskussionen über zahlreiche Bereiche kirchlich-religiöser Praxis aufzuzeigen, die allesamt noch der Erforschung harren ­ allerdings hätte sich der Rez. zumindest einige grundlegende Informationen über die Rezeption der Zeitschrift, zumindest Auflagenhöhe und Verbreitungsgrad, gewünscht, um die Bedeutung der Zeitschrift und der in ihr ausgetragenen Debatten einschätzen zu können.

Bei aller Bewunderung für das Spektrum der präsentierten, durchweg wichtigen Aspekte protestantischer Kultur, Mentalität und Lebenswelt, bleibt allerdings eine verblüffende Schlagseite des Buches zu konstatieren: Wenn man mit Nipperdey der Auffassung ist, der deutsche Protestantismus habe sich im 19. Jh. praktisch in zwei Konfessionen gespalten, nämlich einen konservativen und einen liberalen Protestantismus, so befassen sich hier fast alle Beiträge vornehmlich oder ausschließlich mit letzterem und verstärken somit den Forschungstrend der vergangenen Jahre, die mit den Studien zum Kulturprotestantismus, zum Protestantenverein und zu Martin Rade ­ um nur einige Beispiele zu nennen ­ unsere Kenntnis über das liberalprotestantische Spektrum erheblich erweitert haben. Dagegen wissen wir über das Milieu des konservativen Protestantismus, das ja in vielen Landeskirchen und in den Gemeinden eher die Mehrheit stellte, noch vergleichsweise wenig ­ auch nach der Lektüre des vorliegenden Bandes.

Dies schmälert seine Verdienste nicht, zumal das von manchen Forschern gezeichnete Bild der "Ekelschranken", die zwischen Konservativen und Liberalen geherrscht hätten, zu Recht in einigen Beiträgen korrigiert wird. Die "liberale Schlagseite" ist aber vielleicht auch bezeichnend für die Situation in der Theologie, die sich offenbar ­ hier spricht der Rez. als, wenn auch ein wenig theologisch vorgebildeter, Historiker gleichsam aus der Außensicht ­ lieber mit den zweifellos überaus sympathischen historischen Vorläufern der eigenen theologischen Positionen der Gegenwart und ihrem manchmal verzweifelten Ringen um eine Versöhnung von protestantischem Christentum und moderner Kultur, um die Stellung des Protestantismus in der modernen Gesellschaft ­ unser aller Hauptproblem auch noch am Ende des 20. Jh.s ­ befaßt als mit den modernisierungskritischen oder gar -ablehnenden, gleichwohl für die moderne Entwicklung des Protestantismus ebenso wichtigen sozial- und moralkonservativen Strömungen. In dieser Hinsicht wirft das Buch zumindest eine ganze Anzahl von zum Vergleich anregenden Fragen auf, die die weitere, notwendige, in Kooperation von Theologie und Geschichtswissenschaft zu betreibende Forschung befruchten können ­ und dies ist ja nicht das Schlechteste, was man über ein Buch sagen kann.