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Ausgabe:

September/2007

Spalte:

1021–1023

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Lachmann, Rainer, u. Bernd Schröder [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Geschichte des evangelischen Religionsunterrichts in Deutschland. Ein Studienbuch.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 2006. 414 S. 8°. Kart. EUR 29,90. ISBN 978-3-7887-2155-8.

Rezensent:

Michael Wermke

Das vorgelegte Studienbuch versteht sich »als Beitrag zu [der] notwendigen historischen Selbstaufklärung der Religionspädagogik«; notwendig deshalb, so die Herausgeber, weil die Aufklärung »so­wohl über die Geschichte religionspädagogischer Theoriebildung als auch über die Geschichte von Unterricht und Erziehung im Horizont christlicher Religion« (1) zu den integralen Aufgaben der Religionspädagogik gehört.
In der Einleitung stellen die Herausgeber die wesentliche Forschungsliteratur zur Theorie- und Praxisgeschichte der evangelischen Religionspädagogik in Deutschland vor. Sie unterscheiden hierbei drei Arten von Publikationen: Anthologien, personen- und konzeptionsgeschichtliche Darstellungen sowie problem- bzw. disziplingeschichtliche Übersichten, wobei die Herausgeber problemgeschichtliche Längsschnittuntersuchungen in der historischen Religionspädagogik als das dringlichste Desiderat erkennen (8). Historische Arbeiten zur Praxis religiöser Erziehung und zum Unterricht seien vergleichsweise selten; die Herausgeber stellen hier drei Studien (Ernst C. Helmreich, Dieter Stoodt, Eugen Paul) vor.
Von dem knapp zwölf Seiten umfassenden Überblick kann keine Vollständigkeit erwartet werden. Das von Rainer Bolle, Thorsten Knauth, Wolfram Weiße 2002 herausgegebene Quellen- und Ar­beitsbuch Hauptströmungen evangelischer Religionspädagogik im 20. Jahrhundert hätte trotz aller Kritik an der Verengung auf das sog. Hamburger Modell dennoch Erwähnung finden sollen.
Die Herausgeber resümieren, dass es trotz einer Fülle qualitativ hochwertiger Einzelstudien an einer Gesamtdarstellung der Ge­schichte religiöser Bildung in Deutschland mangele; das vor bald 50 Jahren erschienene Werk von Helmreich gelte in vielem nach wie vor als Standardwerk. Dieser Mangel »gilt für die Theoriegeschichte von Katechetik und Religionspädagogik (oder gar des christlichen Nachdenkens über Erziehung und Bildung insgesamt), erst recht aber für die Geschichte der Praxis des schulischen Religionsunterrichts, des religiösen Schullebens, des erziehenden und unterrichtenden Handelns in der Gemeinde wie an anderen Lernorten christlicher Religion« (12 f.). Bei diesem Desiderat will das Studienbuch ansetzen und eine Darstellung vor allem zur Ge­schichte des Religionsunterrichts und des religiösen Schullebens bieten. Hierzu geben die Herausgeber einen disziplingeschichtlichen Längsschnitt vor, der sich an der konventionellen Epochalisierung der politischen Geschichte in Deutschland orientiert.
So ergeben sich neun Epochen, in denen die Geschichte des evangelischen Religionsunterrichts sowie des religiösen Schullebens in Theorie und Praxis untersucht werden, von Autoren, die überwiegend dem Arbeitskreis für Historische Religionspädagogik angehören: Mittelalter (Horst F. Rupp), von der Reformation bis zum Dreißigjährigen Krieg (Bernd Schröder), vom Westfälischen Frieden bis zur Napoleonischen Ära (Rainer Lachmann), vom Reichsdeputationshauptschluss bis zur Reichsgründung (Horst F. Rupp), das zweite deutsche Kaiserreich (Antje Roggenkamp), die Weimarer Republik (Rainer Lachmann), die nationalsozialistische Ära (Folkert Rickers), vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zur Wiedervereinigung in der Bundesrepublik Deutschland (Christian Grethlein) sowie in der DDR (Raimund Hoenen). Daneben finden sich zwei geschichtliche Darstellungen zum katholischen Religionsunterricht (Hans Mendl) sowie zur jüdischen und islamischen Bildung (Bernd Schröder) in Deutschland.
Die Konzeption des Studienbuches ist an der vereinheitlichten Gliederung der Kapitel abzulesen, die in systematisierender Ab­sicht die unterschiedlichen Kontexte darstellen, die für die Ent­wick­lung der Theorie und Praxis der Religionspädagogik prägend sind.
1. Gesellschaftlich-politische, geistesgeschichtliche und kirch-­ liche Konstellationen
2. Schulgeschichte, staatliche/kirchliche Bildungspolitik und ihre Institutionen sowie die Rechtslage des Religionsunter- richts
3. Die Praxis des Religionsunterrichts und des religiösen Schul- lebens
4. Religionslehrer/innen und Institutionen ihrer Aus- und Weiterbildung
5. Personen, Strömungen und Theorien christlich-religiöser
Bildung
6. Außerschulische Orte religiöser Bildung
7. Desiderate weiterer Forschung
Eine arbeitsteilige Gesamtdarstellung stellt eine wissenschafts­organisatorische Herausforderung dar, wenn die Einzelbeiträge nicht nur additiv nebeneinanderstehen, sondern Synergieeffekte zum Tragen kommen sollen. Durch die gemeinsame Gliederung ist dies weitgehend gelungen, im Detail ergeben sich jedoch erhebliche Unterschiede. So gibt Antje Roggenkamps Darstellung der Aus- und Weiterbildung von Religionslehrern auf Grund ihrer eigenen umfangreichen Vorarbeiten ein praxisnahes Bild für die Zeit von 1870 bis 1918, während Horst F. Rupp für die vorangehende Epoche weitgehend die offiziellen Regulative und damit nur die Theoriegeschichte referiert.
Jede der sieben auf die jeweilige Epoche angelegten Fragestellungen ergäbe bereits ein eigenes Forschungsgebiet. Gerade im Bereich der Praxis des Religionsunterrichts und des religiösen Schullebens sind die Möglichkeiten bei Weitem nicht erschöpft, denn in den Archiven schlummern noch viele Quellen, die bisher weder das Interesse von Kirchenhistorikern noch von Bildungsforschern gefunden haben. Dieser Bereich rückt zunehmend in den Mittelpunkt des Interesses der historiographischen Forschung der Religionspädagogik und dürfte auch in kirchengeschichtlicher Perspektive ein Gewinn sein, weil hier untersucht werden kann, inwieweit theologische und religionspädagogische Programme sich tatsächlich auf die Unterrichtswirklichkeit ausgewirkt haben und wie die Unterrichtspraxis wiederum auf die Konzeptionsentwicklung Einfluss nehmen konnte.
Das Studienbuch erfüllt hervorragend seine Aufgabe, dem Leser den Stand der Forschung nahezubringen. So besteht dann auch der Gewinn des Buches weniger darin, substantiell Neues zur Kenntnis zu bringen – dies kann allein schon auf Grund der Kürze der Kapitel nicht gelingen: Für das Themengebiet ›Religiöse Bildung und Erziehung im Mittelalter‹ stehen gerade einmal 17 Seiten zur Verfügung –, sondern darin, dass erstmalig eine systematisierte Ordnung vorliegender Forschungsergebnisse geliefert wird, die den aktuellen Forschungsstand wie auch die Forschungsdesiderate erkennbar machen. Besonderes Interesse wecken daher auch die Ausführungen zu den Desideraten weiterer Forschung zum Ab­schluss eines jeden Kapitels.
Nahezu einhellig wird festgestellt, dass die Quellenlage eine Rekonstruktion der Praxis religiöser Bildung und Erziehung bislang nur sehr eingeschränkt erlaubt. Archivrecherchen sind notwendig, um beispielsweise Unterrichtsprotokolle, Ausbildungsvorschriften, Eignungsprüfungen aufzuspüren, die Aufschluss über die Unterrichtspraxis des Religionsunterrichts bieten. Für das 19. Jh. und das frühe 20. Jh. wird die Fokussierung des bisherigen Forschungsinteresses auf die historischen Entwicklungen in Preußen deutlich; die Geschichte des evangelischen Religionsunterrichts in den anderen deutschen Ländern gewinnt erst allmählich an Aufmerksamkeit. Die vielfältigen religions- und allgemeinpädagogischen sowie kirchlichen Zeitschriften jener Zeit bieten hier noch eine Fülle ungehobener Erkenntnisse über religiöse Erziehung und Bildung in Schule und Kirche. Aber auch Religionsbücher, die den Übergang zwischen Theorie und Praxis des Religionsunterrichts markieren, sind bislang kaum erforscht worden. Und bei alldem: Es kommt »keine historische Darstellung der Religionspädagogik … um die Beschäftigung mit profilierten Vertretern der religionspädagogischen ›Innung‹ und ihren Werken und ihrem Wirken herum« (Rainer Lachmann, 231). Zwei Forschungsdesiderate wären zu er­gänzen: Zum einen gilt es, im Bereich der Pfarrer- und Lehrerbildung die Disziplingeschichte der Pädagogik stärker in den Blick zu nehmen, die im Wechselspiel mit der Katechetik erheblichen Einfluss auf die Entwicklung der Religionspädagogik als wissenschaftlicher Disziplin genommen hat. Zum anderen ist der Bedeutung des durch Art. 149 WRV geschaffenen Elternrechtes und der Elternorganisationen nicht nur für die Zeit der Weimarer Republik mehr Aufmerksamkeit zu zollen.
Das Studienbuch bietet den Studierenden und Forschenden eine wichtige Grundlegung zum Studium der Geschichte des Religionsunterrichts und zeichnet zugleich die Fragestellungen wei­terführender Untersuchungen vor. Das ausführliche Namen- und Sachregister bietet hierzu eine wichtige Hilfe. Die künftige Forschung in der historischen Religionspädagogik wird auf dieses Buch aufbauen können.