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Ausgabe:

September/2007

Spalte:

1011–1013

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Zimmermann, Johannes

Titel/Untertitel:

Gemeinde zwischen Sozialität und Individualität. Herausforderungen für den Gemeindeaufbau im gesellschaftlichen Wandel.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 2006. XIX, 550 S. gr.8°. = Beiträge zur Evangelischen Gemeindeentwicklung, 3. Kart. EUR 44,90. ISBN 978-3-7887-2200-5.

Rezensent:

Eberhard Winkler

Diese Greifswalder Habilitationsschrift geht von der Gleichursprünglichkeit und Gleichwertigkeit der Individualität und Sozialität christlicher Existenz aus und untersucht die Frage, wie deren Verhältnis theoretisch zu verstehen und praktisch zu gestalten ist. Im ersten Teil führt Zimmermann in das Thema »Gemeinde« und die diesbezügliche gegenwärtige praktisch-theologische Diskussion ein. § 1 erläutert die prinzipielle Gemeindlichkeit des christlichen Glaubens im Anschluss an die Reformatoren und unter Aufnahme des Koinonia-Begriffs. Die Gestalt der Kirche ist funktio­nalen Kriterien zu unterwerfen, aber die »Kirche ist nicht nur In­strument, sondern zugleich proleptische Realisierung der Gottesherrschaft« (23). Soziologische Aspekte sollen so berücksichtigt werden, dass weder ein dogmatischer Deduktionismus noch die Normativität des Faktischen zur Wirkung kommen.
Im § 2 würdigt Z. die gegenwärtige praktisch-theologische Gemeindetheorie, indem er nach einer Einführung die Werke von H. Lindner, R. Roosen, R. Kunz-Herzog und P. M. Zulehner (von dem er den Begriff »Pastoral« übernimmt) ausführlich referiert und beurteilt. Bei Lindner vergleicht er die 1994 und 2000 unter gleichem Titel erschienenen, inhaltlich sehr veränderten Bücher. In der Verstärkung wirtschaftlichen Denkens sieht Z. die Gefahr der Tendenz zur Dienstleistungskirche auf Kosten der als Koinonia verstandenen Gemeinde. In Roosens Gemeindetheorie findet er ein Beispiel für die Normativität des Faktischen: Die Mitgliederreligiosität gilt als unveränderbare Größe. Die Sozialität des Glaubens wird zur Option nur für ein bestimmtes Milieu. Kunz-Herzog will dagegen das mit dem Pluralismus verbundene Prinzip der Konziliarität durch das der Koinonia ergänzen und beide in eine positive Beziehung bringen, wofür er auf Troeltsch und M. Weber zurück­greift Der Entwurf bleibt abstrakt, während Zulehner vom Ge­meindeprinzip aus nach konkreten »Orten christlicher Praxis« sucht. Er »will von der ›Kirche für das Volk‹ in Form einer ›Betreuungs-, Versorgungs- oder Servicekirche‹ weg hin zu einer ›Kirche des Volkes‹« (118). Lebensbegleitung ist bei ihm nicht auf Übergänge beschränkt, sondern sie »zielt darauf, den Einzelnen zur Praxis des allgemeinen Priestertums anzuleiten« (125). Im anschließenden Überblick über die Gemeindetheologie des 2. Vatikanums und ihre Weiterführung fällt auf, wie stark nach der Aufwertung des communio-Gedankens durch das Konzil in der folgenden Generation die Subjektwerdung als Ziel betont wird, teilweise verbunden mit einer Ablehnung des Gemeindeprinzips. Bemerkenswert ist ebenso die Betonung der Funktionalität von Kirche und Gemeinde.
Unter der Überschrift »Gemeinde im Schatten von ›Kirchentheorie‹ und ›Theorie des neuzeitlichen Christentums‹« setzt Z. sich mit R. Preul, D. Rössler, W. Gräb und M. Kumlehn auseinander. Bei Preul bemerkt er, dass dieser sich gegen subjektorientierte praktisch-theologische Ansätze wendet und daher Anknüpfungspunkte für eine Vertiefung des Themas Gemeinde aufweist, diese jedoch nicht ausführt. Preul würdigt die Bedeutung der Kirche als Institution, erweckt aber den Eindruck, »als entsprächen die evangelischen Landeskirchen in Deutschland am besten dem Wesen und Auftrag der Kirche« (165). Rössler versteht Gemeinde primär als Institution, die auf Kosten der Sozialität und der Koinonia dominiert. Das Konzept »Kirche für die Religion der Menschen« diskutiert Z. anhand der Publikationen von Gräb und Kumlehn. Während Ersterer eher abschätzig von Gemeinde spricht, sieht Letzterer in ihr die Ermöglichung leibhafter Kommunikation. Bezugspunkt ist für beide »nicht mehr das Christentum, sondern Religion« (175). Bei den »volkskirchlichen« Gemeindetheorien von Lück, Lindner und Roosen sieht Z. die Gefahr, dass die pastoralen Betreuungsstrukturen nicht verändert werden und Koinonia als neue Sozialität kaum in den Blick kommt. Kunz-Herzog und besonders Zulehner kommen Z.s Konzept deutlich näher, Gemeindebildung in der zu pflegenden Volkskirche anzustreben.
Im § 3 bespricht Z. drei Typen von Theorien des Gemeindeaufbaus. E. Sulze steht für den Typ »Christianisierung«, der von der defizitären Christlichkeit des Volkes ausgeht. Der zweite Typ »Religiöse Individualität« wird anhand des biographisch orientierten Konzeptes des bayrischen Pfarrers R. Mischke erläutert, das die unterschiedlichen Grade der Kirchenverbundenheit durch Akzeptanz verschiedener Beteiligungszyklen stabilisiert und damit den Gestalt-Aspekt des Glaubens relativiert. Den dritten Typ »Evangelisation« bzw. »Missionarischer Gemeindeaufbau« erklärt Z. unter Bezug auf Luther und Spener, wobei die neueren Konzepte die Verengung zur ecclesiola in ecclesia zu vermeiden suchen. Dem Einwand, missionarischer Gemeindeaufbau schaffe zwei Klassen der Getauften, hält Z. die Fragwürdigkeit der Vereinnahmung aller als mündige Christen entgegen.
Der zweite Teil setzt Gemeindeaufbau und Seelsorge zueinander in Beziehung. Die biblisch-theologische Grundlegung ergibt, dass das auf den Einzelnen bezogene Handeln immer mit der Gemeinschaft verbunden ist. Umgekehrt wird der Leib Christi in seinen einzelnen Gliedern erbaut. Wie diese Verbindung in der Geschichte der Seelsorge zur Geltung kam, zeigt Z. an Beispielen bis zu gegenwärtigen Konzepten wie der systemischen und interkulturellen Seelsorge. Knapp erwähnt er die Überwindung des Defizienzmodells durch H. Luther u. a., die mystagogische Seelsorge, Salutogenese, Empowerment und »lebenslanges Lernen«. Ohne Gemeinde gäbe es auch die am Individuum orientierte Seelsorge nicht, sie ist deren Ort und Ressource. »Das Ziel des Gemeindeaufbaus besteht in einer seelsorglichen Gemeinde, Gemeindeaufbau zielt auf den Einzelnen« (310) nicht nur als Objekt, sondern auch als Subjekt von Seelsorge. Z. verweist auf Morgenthalers »gemeindezentrierte Seelsorge«.
Im dritten Teil untersucht Z. das Verhältnis von Gemeinde und Einzelnem im Anschluss an Berger und Luckmann, deren Theorie der Plausibilitätsstrukturen und der intermediären Institutionen kritisch rezipiert wird. Wie kann Gemeinde so gestaltet werden, dass sie dem Einzelnen eine stabile Plausibilitätsstruktur bietet und als kognitive Minderheit diasporafähigen Glauben entwickelt und in die Gesellschaft hinein wirkt? Im Gegensatz zu Berger sehen andere amerikanische Soziologen im Pluralismus eine Ursache religiöser Belebung. Pollack und Wohlrab-Sahr modifizieren diese These in Bezug auf Ostdeutschland. Am Beispiel Ostdeutschlands zeigt Z., wie die Umkehrung der Mehrheitsverhältnisse negative Plausibilitätsstrukturen schaffen konnte. Der Wandel von der kulturgestützten zur persongestützten Christlichkeit geschieht auch in der freiheitlich-pluralistischen Gesellschaft. Unterschiedliche Wertungen der empirischen Untersuchungen ergeben sich aus differenten Interessen der Interpreten. Hinsichtlich der Säkularisierung folgt Z. dem eher skeptischen Urteil Pollacks und katholischer Autoren (Zulehner, Ebertz, Gabriel, Kaufmann). Besonders kritisch ist die Tradierungsfähigkeit des Christentums zu sehen, weshalb religiöse Sozialisation eine Hauptaufgabe ist. Notwendig ist ferner nicht nur subjektive, sondern auch objektive Plausibilität, d. h. eine solche, die biographische und gesellschaftliche Um­brüche überdauert.
Im Schlussteil wird unter Bezug auf K.-H. Bieritz die praktisch-theologische Kategorie »Haus« als exemplarische Konkretion vorgestellt. Im »Haus« konvergieren die soziologische und die theo­logische Linie: Es bietet die soziale Basis eines diasporafähigen Glaubens und ist der Ort, an dem sich die Individualität und die Sozialität des Glaubens wechselseitig fördern. Gefahren wie die Selbstisolierung werden bedacht, wiegen aber die positiven Möglichkeiten nicht auf, zumal das »Haus« als Teil eines Netzwerkes verstanden wird. Eine Zusammenfassung, ein Literaturverzeichnis (499–535!), ein Personen-, Sach- und Bibelstellenregister erleichtern die Arbeit mit dem manchmal etwas zu redundanten, aber sehr lesenswerten Buch. Hoffentlich findet es in den Diskussionen um die Kirche im 21. Jh. die gebührende Beachtung.