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Ausgabe:

September/2007

Spalte:

1009–1011

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Vos, Cas J. A.

Titel/Untertitel:

Theopoetry of the Psalms.

Verlag:

London-New York: T & T Clark International (Continuum) 2005. 423 S. 8°. £ 25,00. ISBN 0-567-03078-4.

Rezensent:

Erhard S. Gerstenberger

Der bekannte Praktische Theologe Cas Vos von der University of Pretoria stellt seine interessante, auf homiletische und liturgische Praxis zielende Psalmenexegese vor. (Warum werden dem Buch eigentlich vier kollegiale Empfehlungen vorangestellt [13–18]? Eine südafrikanische Tradition?) Die alttestamentlichen Psalmen stammen aus dem Leben und sind für V. darum ein »book of life« (19–22), für das die Metapher der Wanderung große Bedeutung hat (so im Blick auf die Wallfahrtspsalmen, aber auch auf Ps 23 u. a.). Und sie sind ein »volume of poetry« (23–49). Diese literarische Kategorie ist V. ungemein wichtig, weil sie scheinbar universale Verbreitung und Gültigkeit beanspruchen kann, folglich direkt und allgemein zugänglich ist. Am Ende des Bandes entfaltet V. in zwei Kapiteln seine hermeneutisch-praktische Theorie der Psalmen- (und Schrift)auslegung. Da geht es zunächst um die »homiletical perspective on the Psalms« (289–334) und die »Psalms in liturgy« (335–367; der Schlussteil dieses fünften Kapitels besteht aus einer Musterpredigt über Ps 134, das letzte Lied der Wallfahrtsgruppe: 365–367).
Es ist sinnvoll, die Abschlusskapitel IV und V zuerst zu lesen, damit Aufbau und Inhalt des umfangreichen Hauptstückes (Kapitel III: »Hermeneutical and homiletical bridges«, 51–288) deutlicher hervortreten. Grundsatz für alle homiletischen Überlegungen ist die Offenheit für die heutige Zeit: »… the homiletician … [has] to not only become part of the world of the psalm, but also part of the experiential world of the listener.« (289) Diese moderne Welt zeichnet sich z. B. durch Pluralität, Individualismus und Globalisierung aus, nimmt eventuell die Wahrheit nur noch fragmentiert zur Kenntnis und ist am besten über die »offenen Fenster« von »poetry, painting, music, stories and film« zu erreichen (289–292; Zitat 292). Für die erwähnten Zugänge führt er eindrucksvoll und beispielhaft Tolkiens »Herr der Ringe« und die Comic-Figur Hulk vor (293–296). Christliche Predigt, auch über die Psalmen, hat nun die Aufgabe, Gottes Rettungshandeln in Christus in diese heutige Welt hinein zu verkünden (vgl. 299–304). »The special characteristics of the psalms is that they are messages of salvation. Salvation means that people are liberated by God and united with one another.« (299) »The basis of salvation comprises the actions of God in the Old Testament, as embodied in Jesus Christ in the New Testament.« (300) Damit stellt sich die Frage nach der christologischen Auslegung der Psalmen. V. beantwortet sie im Psalmenkontext überraschend mit der Umkehrung der Heilszusage: Der gute Hirte nimmt nach Joh 10 den Tod auf sich, erfüllt damit Ps 23, indem er ihm frontal widerspricht (301). »… the homiletician must place this New Testament interpretation alongside the psalm and look for the inter-textuality of the texts« (301). – Im Übrigen entwickelt V. beherzigenswerte Grundlinien für den homiletischen und liturgischen Gebrauch der Psalmen im christlichen Gottesdienst (304–364). Die schon erwähnte Musterpredigt (Thema: Segen am Ende des Lebensweges; 365–367) zeigt exemplarisch das Ergebnis seiner Bemühungen um die Psalmenbotschaft.
Die Arbeit des biblisch interessierten und gebundenen Homiletikers ist aller Ehren wert. Sie soll sich in seiner umfangreichen und tiefschürfenden Auslegung (51–288) erweisen. V. sichtet Berge von exegetischer Psalmenliteratur, wie seine Bibliographie und zahllose Zitate im Text beweisen. Er macht es sich wahrlich nicht leicht. Oft bringt er kollidierende Meinungen der Fachkollegen zur Sprache und entscheidet sich dann vorsichtig für die ihm wahrscheinlichere Version. Alles in allem kann der Rezensent nur beeindruckt feststellen, dass V., der Praktiker, sich ungewöhnlich intensiv und extensiv um die Interpretation des Wortes bemüht. Das geschriebene Wort ist ihm die alleinige Richtschnur: Kann man das von vielen Praktischen Theologien sagen? V. kämpft sich durch Grundfragen der Psalmenexegese hindurch, findet seine Position ein wenig jenseits von Form- und Gattungs-, Kult- und Sozialgeschichte in den literarisch, d. h. vor allem poetologisch ausgerichteten Theorien (51 f. u. ö.). Er ist einerseits von der ganzheitlichen Lektüre des Psalters fasziniert, will aber andererseits unbedingt auch jedem einzelnen Gedicht seine unverwechselbare Botschaft belassen, dabei möglichst viele gängige Sichtweisen der heutigen Interpretation aufnehmen (23–28). Aus der Vielzahl der zu berücksichtigenden Mo­mente ergibt sich dann eine Einteilung der Psalmen in elf Kate­gorien, die teils inhaltliche, teils situative Bestimmungsmerkmale aufweisen: »Introductory psalms« (52–79), »Laments and psalms of thanksgiving« (79–92), »Torah psalms« (92–115), »Psalms of trust« (115–140), »Entrance liturgies« (140–154), »Wisdom psalms« (154–208), »Royal psalms« (209–236), »Creation psalms« (236–251), »Pilgrimage psalms« (251–263), »Imprecatory psalms« (263–275), »Psalms of praise« (275–288). Ein Vergleich der aufgewendeten Seiten kann ge­wisse Vorlieben des Praktischen Theologen erkennen lassen. »Weisheitspsalmen« empfangen die weitaus meiste Aufmerksamkeit, und wenn man die verwandten Kategorien »Einleitungs-, Tora-, Vertrauens- und Schöpfungspsalmen« hinzuzählt, dann entsteht der Eindruck, es gäbe fast nur diese Großgattung im Psalter. »Klagelieder und Hymnen«, vertreten durch die Gruppen »Laments …, imprecatory psalms« und »psalms of praise«, nehmen nur einen vergleichsweise geringen Raum ein, obwohl sie im Alten Testament das Hauptgewicht tragen.
V. will nun nicht den gesamten Psalmenbestand untersuchen; er konzentriert sich auf die Auslegung einiger, weniger Beispieltexte für jede der genannten Kategorien. Diese Beispielpsalmen (für die Gruppe »Weisheitsgedichte« z. B. Ps 73; 111/112; 139) studiert er so eingehend wie möglich auf ihre strukturellen, stilistischen, theologischen (bis hin zu Wortuntersuchungen, für die ihm offenbar leider das ThWAT nicht zur Verfügung stand) Eigenheiten hin und schließt jede Einzeluntersuchung mit einer allerdings erstaunlich knappen Reflexion über die »message« des Textes ab. Da tauchen die Probleme der praktischen Umsetzung der Verkündigungsgehalte massiv auf: Z. B. zu Ps 2 die Frage nach Gewalt und Frieden in der Welt und die christologische Sicht (»Jesus’ glory is most evident during his apparent defeat in crucifixion«, 78); zu Ps 111/112 das Handeln Gottes für die Menschheit (»The Son is said to have been made in the image of God … Jesus showed mercy and compassion…«, 191).
Leser und Leserin der »Theopoetry of the Psalms« werden V. sicherlich dankbar für eine Fülle von Beobachtungen und Anregungen sein (Leserin vermisst vielleicht frauenspezifische Hinweise und Literatur). Kritische Mitteleuropäer mögen sich allerdings darüber wundern, wie einlinig und dogmatisch korrekt die biblische Theologie gezeichnet ist. Dabei enthalten die Psalmen sehr unterschiedliche, auch untereinander unvereinbare Vorstellungen von Mensch, Gott und Welt. Ferner sind die Brüche in der langen nachbiblischen Tradition – obwohl gelegentlich andeutungsweise zur Kenntnis genommen – kaum ernsthaft bedacht. Sollten die südafrikanische Mentalität, der (inter)kulturelle Lebenszusammenhang dafür we­der Handhabe bieten noch Bedarf anmelden?