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Ausgabe:

September/2007

Spalte:

1005 f

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Lück, Wolfgang

Titel/Untertitel:

Die Zukunft der Kirche. Evangelische Gemeinden im 21. Jahrhundert.

Verlag:

Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2006. 205 S. gr.8°. Geb. EUR 34,90. ISBN 3-534-19348-2.

Rezensent:

Wolfgang Nethöfel

Wolfgang Lück, Wiesbadener Pfarrer i. R. und Privatdozent für Praktische Theologie, leitete jahrelang die Arbeitsstelle für Er­wachsenenbildung der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau und ist jetzt ehrenamtlicher Leiter der Stadtakademie Darmstadt. In sein Buch sind reiche praktische Erfahrungen ebenso eingegangen wie eine langjährige theoretische Auseinandersetzung mit vielen Aspekten im Umfeld der gegenwärtig diskutierten aktuellen Kirchenreformthemen.
Einleitend diagnostiziert L. hinter und unter dem Krisengerede in der Kirche drei »Grundmuster oder Ursachen«: die Rückkehr vom Nachkriegsboom zur Normalität, die in kirchlichen Schrumpfungsprozessen aller Art wahrgenommen wird, Individualisierung und Pluralisierung als tiefgreifende gesellschaftliche Wandlungsprozesse und schließlich eine Auseinanderentwicklung von Kirche und gelebter Frömmigkeit als »religiöse Evolution«. Die jüngsten Studien beschrieben die Mitgliedschaft der evangelischen Kirche zwar als erstaunlich stabil. Die Organisation müsse aber ihre Mitglieder neu wahrnehmen, um ihren Auftrag weiterhin erfüllen zu können.
Dem will L. mit seinem Buch dienen, das pointierte Wahrnehmungen immer wieder in Beziehung setzt zu soziologischen, kultur- und religionswissenschaftlichen Studien und zur einschlägigen praktisch-theologischen Literatur, die im Text knapp referiert wird und darüber hinaus durch ein umfangreiches Literaturverzeichnis erschlossen ist. Der Hauptteil des Buches unterzieht sich dieser Aufgabe in sorgfältig abwägenden Kapiteln, die auch in die historische Dimension des Themas einführen.
Das »Kirchenproblem des Protestantismus« deutet L. schon im ersten Kapitel ebenso praxisbezogen wie programmatisch als Unfähigkeit, von überkommenen, im Nachkriegsboom nur scheinbar stabilisierten Monopolpositionen Abschied zu nehmen und auf spätmoderne Differenzierungen einzugehen. Reicht es aber aus, wenn sich die Organisation Kirche von permanent gelebten Sozialbeziehungen auf institutionelle Bindungen »bei Gelegenheit« um­stellt, um angemessen auf eine zunehmend distanzierte Mitglied schaft zu reagieren? L. fordert anschließend eine »Öffnung der Kirche für die Religion«. Die ist vor allem im städtischen Umfeld vielgestaltig, weil sie individuell gelebt wird. Die Zivilgesellschaft organisiert sich auch dann noch in einem säkularisierten Pluralismus, wenn es um den Erhalt der örtlichen Kirche geht, während sich die lokale Kirche als »Clubgemeinde« an traditional geschlossenen Gemeinschaftsformen ausrichtet und an deren Organisationsdichte ihren Erfolg misst.
Protestantische Kirchlichkeit verfehlt auf diese Weise zielsicher die gelebte Religion ihrer Mitglieder. Diese lebt unbekümmert um protestantische Theologie von der »Entdeckung ›heiliger‹ Orte und Räume« (seien diese nun Kirchen, Pilgerwege oder schlichtweg »die Natur«) und sie sichert »das bleibende Gewicht der Pastoren« in der Gemeinde. Allerdings nicht, weil diese kirchliche oder öffentliche Religion repräsentieren, sondern weil sie private Frömmigkeit organisieren. Sie verdanken ihre Bedeutung nicht der Institution, sondern ihrer biographischen und kulturellen, eigentlich: ihrer kulturgeschichtlichen Funktion. Folgt die Kirche ihren Mitgliedern: Will sie aktuell bleiben, geht es um »Protestantismus als Bildungsreligion«.
Was aber bedeutet das für die »Organisationsstrukturen des Protestantismus«? L.s These lautet, Kirchenreform werde eben deshalb Programm, weil die Kirche ihren Mitgliedern folgen muss. Tut sie das konsequent, wird sie zwischen Stadt und Land, lokalen und biographisch geprägten Bedürfnissen ihrer Mitglieder unterscheiden. Sie muss an der Nachfrage ihrer Mitglieder orientiert ihre Organisation funktionalisieren und regionalisieren und ihr Management professionalisieren nach dem Vorbild anderer Nonprofitorganisationen. Das Marktangebot, das sich so ergibt, impliziert dann aber gerade nicht, »marktförmig« zu werden.
Mit einem doppelt missverständlichen Ausdruck überschreibt L. das letzte Kapitel »Gemeinschaftswerk Kirche«. Es geht soziologisch nicht um die Organisationsform einer geschlossenen Gemeinschaft und institutionell nicht um ein »Werk« (in Alternative zur Anstalts- oder Vereinsrechtsform). L. wünscht sich die protestantisch freie Bildung einer intermediären Organisation, die vermittelt zwischen den bestehenden parochial gebundenen Formen des Kirchentums und dem spontanen bürgerschaftlichen Engagement und der religösen Selbstorganisation »der Evangelischen«.
»Ich hatte einen Traum«, überschreibt L. den Schluss seines Bu­ches. Ließ das voranstehende Kapitel mit der ekklesiologischen und historischen Rechtfertigung des institutionellen Leitbegriffs »evangelisch« (statt »Kirche«) noch einmal die Stärke dieses erfahrungs- und kenntnisreichen Kirchenreformbuches hervortreten, so zeigen sich jetzt gebündelt die relativen Begrenztheiten des Ansatzes bei den konkreten Erfahrungen »vor Ort«. Die aufgezeigten Alternativen werden plausibel genau in dem dort stets vorausgesetzten städtischen Kontext und vor dem Hintergrund eines weiter funktionierenden deutschen Volkskirchentums, das auf dem Strom kultureller Überlieferungen schwimmt wie ein Tanker. Hier angedockt, kühn enternd und sich unbekümmert nährend von anderswo erarbeiteten Schätzen und eingetriebenen Tributen entsteht die Vision neuer protestantischer Kirchenfreiheit. Eine selbstkritische Linke hat das Vi­sionäre, das sich so einer Konstellation verdankt, einst als »parasitäre Anarchie« denunziert. Das mag Kirchenreformer immerhin veranlassen, auch andere, auf den ersten Blick weniger attraktive Alternativen nicht aus den Augen zu verlieren, die von einem jetzt noch möglichen Umbau auf hoher See ausgehen.