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Ausgabe:

September/2007

Spalte:

997–999

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Seibert, Christoph

Titel/Untertitel:

Politische Ethik und Menschenbild. Eine Auseinandersetzung mit den Theorieentwürfen von John Rawls und Michael Walzer.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2004. XII, 401 S. gr.8° = Forum Systematik, 20. Kart. EUR 30,00. ISBN 3-17-018366-4.

Rezensent:

Ralf Karolus Wüstenberg

Dem Philosophen John Rawls verdankt der englische Sprachraum den bedeutendsten Beitrag zur politischen Ethik im 20. Jh. Vor allem mit seinem epochalen Werk »A Theory of Justice« (1971, dt. 1975) gelingt ein Paradigmenwechsel. Gegenüber meta­ethischen Studien wandte sich Rawls dezidiert einem normativen Thema zu, nämlich der Gerechtigkeit. Gegenüber dem Utilitaris­mus hält Rawls die Gerechtigkeit für jenen moralischen Anspruch, dem sich keine Rechtsordnung entziehen kann, so dass auch dem politischen Liberalismus ein hohes Maß an Sozialstaatlichkeit und Chancengleichheit zugemutet wird.
Der hier lediglich angedeutete Paradigmenwechsel verweist auf die Bedeutung jeder fachbezogenen Rezeptionsanstrengung. In der Theologie, genauer in der theologischen Sozialethik wird Rawls seit den 1970er Jahren immer wieder ins Gespräch gebracht. Die vorliegende Untersuchung des Tübinger Theologen Christoph Seibert markiert bereits insofern einen Meilenstein in diesem Ge­spräch, als S. im überwiegenden Teil seiner Analyse das anspruchsvolle Gerechtigkeitskonzept in seiner (relativen) Eigenständigkeit wahrnimmt und nicht zu rasch in die theolo­gische Rezeption einsteigt, was zu übereilten sozialethischen ›Kurzschlüssen‹ führen kann. Es ist nämlich für S. nicht ausgemacht, dass eine theologische Sozialethik direkt an neuere Gerechtigkeitstheorien anschließen kann. Vielmehr gilt es zunächst deren Leitkonzepte und ihre Implikationen zu erarbeiten, man könnte auch mit Dietrich Ritschl von den »impliziten Axiomen« sprechen, die ein Gerechtigkeitsmodell »steuern«. Neben Rawls beschäftigt sich S. vergleichend mit dem Gerechtigkeitskonzept des weniger bekannten, aber nicht minder bedeutenden Michael Walzer, wie er es vor allem in seinem Hauptwerk »Spheres of Justice« 1983 (dt. 1992) entfaltet. Der Quervergleich erfüllt, wie noch auszuführen ist, manche heuristische Funktion. Erst am Schluss des Buches (353–367) wird knapp angedeutet, wie sich theologische Sozialethik in den Fragen der gesellschaftlichen Wohlordnung in einer pluralen, offenen Ge­sellschaft im Diskurs mit den Theorie­entwürfen von Rawls und Walzer verorten könnte.
Die mit dem »Dr.-Leopold-Lucas-Nachwuchswissenschaftlerpreis 2004« bedachte Untersuchung will aufzeigen, »dass und in welcher Weise die Rationalität sozialethischer Theoriebildungen letztlich in einem materialen Verständnis der conditio humana – einem Menschenbild – fundiert ist.« (25) So erklärt sich der programmatische Buchtitel: »Politische Ethik und Menschenbild«. Im Einzelnen entfaltet S. Fragestellung und Programmatik in drei Bereichen: der Werkinterpretation der Gerechtigkeitskonzeptionen von Rawls und Walzer, der Erarbeitung der Implikationen (oder auch material-regulativen Vorstellungen) dieser Theorien, und schließlich der Klärung des Verhältnisses zwischen Menschenbild und politischer Ethik, ja, der Frage inwiefern dieses (rationale) Verhältnis theorieintern nicht bereits (materiale) As­pekte immer schon mitreflektiert und welche davon für die theologisch-sozialethische Diskussion anschlussfähig sind. »Für alle drei Themenbestände bleiben freilich jene Problemkreise politischer Ethik bedeutsam: einerseits die Frage nach dem Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft, andererseits die Frage nach dem Verhältnis zwischen universalen Geltungsansprüchen und der Geschichtlichkeit aller diesbezüglichen Verstehensoperationen.« (27).
In den beiden großen Studien zu Rawls (unter dem Stichwort »Gerechtigkeit als Fairness«: 29–182) und zu Walzer (unter dem Stichwort »Komplexe Gleichheit«: 183–331) arbeitet S. im Zuge einer analytischen Darstellung höchst differenziert sowohl materiale Detailfragen distributiver Gerechtigkeit als auch die jeweils in An­schlag gebrachten kategorialen Leitorientierungen der diskutierten Entwürfe heraus. Die analytische Darstellung zeigt insgesamt auf, wie sich das jeweilige Verständnis des Menschen vor dem Hin­tergrund einer programmatischen Gesamtanschauung be­wegt, die sich ihrerseits schon im anthropologischen Leitbegriff spiegelt.
Was Rawls’ Gerechtigkeitstheorie betrifft, so steht die theoretische Rechtfertigung jener allgemeinen Bedingungen im Vordergrund, denen eine gerecht verfasste demokratische Gesellschaft insgesamt zu genügen hat. Ihm geht es um die Ausarbeitung einer in sich geschlossenen normativen Konzeption für das Ganze der sozialen Grundstruktur. »Es geht primär um den Aufweis der Möglichkeit einer gerechten Gesellschaft, nicht vorrangig um die Frage nach deren Verwirklichung« (334). Einen anderen Akzent setzt Michael Walzer: »Walzer zufolge« – so bringt S. es auf den Punkt – »lassen sich Gerechtigkeitsprinzipien nämlich nicht unabhängig von ihren konkreten Anwendungskontexten bestimmen, sondern nur als Implikate solcher Verhältnisse: Nicht der vernünftig begründete Möglichkeitsaufweis steht im Vordergrund, sondern die kritische Beschreibung einer gegebenen Praxisgestalt mit den ihr in­härenten Steuerungspotentialen und normativen Entwicklungsmöglichkeiten« (336). Während bei Rawls programmatisch die Rechtfertigung eines singulären Standpunktes der Gerechtigkeit in den Mittelpunkt tritt, so bei Walzer die Beschreibung von nicht ineinander überführbaren Gerechtigkeitskriterien. Entsprechend differieren die Gegenstandsbereiche. Bei Walzer: »Everyday ex­peri­ence of morality« als umfassende Sphäre moralischer Diskurse; bei Rawls: »Conside­red judgements of justice« als informativer Hintergrund des Recht­fertigungsansatzes. Welches Menschenbild leitet die jeweiligen Theorien? Bei Rawls ist der Leitbegriff der »free and equal moral person« verpflichtend, der nach »A Theory of Justice« die Fähigkeit zur rationalen Lebens­führung in der Entwicklung einer Vorstellung des Guten und eines ent­sprechenden Gerechtigkeitssinnes beinhaltet (vgl. 138 ff.). Leitend für Walzers Theorieentwurf ist der Begriff des Menschen als eines »culture-producing creature«, woraus hervorgeht, dass der Mensch sich und seine Welt immer schon vor dem Hintergrund semantischer Bezugssysteme versteht (254 ff.). Der Vergleich beider Gerechtigkeitskonzeptionen birgt einen heuristischen Ertrag. Beide Theorien bringen ein jeweils unterschiedlich gelagertes Selbstverständnis des Liberalismus zum Ausdruck, »dessen eigentümliche Spitze sich sowohl in der Programmatik als auch im Menschenbild und darin vor allem im anerkennungstheoretischen Gehalt ablesen lässt: Während bei Rawls die Gleichförmigkeit der Personen die Leitperspektive abgibt, bemüht sich Walzer um eine Verschränkung von Gleichheit und Differenz, die das Anerkennungsprinzip komplexer zu gestalten erlaubt, als es bei Rawls offenkundig geschehen ist.« (352)
Anschlussmöglichkeiten für die theologische Ethik (353 ff.) ergeben sich nach S. aus dem im Quervergleich herausgearbeiteten philosophischen Anerkennungskonzept, in dem sich selbst schon ein kategoriales Verständnis des Menschseins (mit entsprechend normativem Status) artikuliert. Dass individuelle Freiheit ihre eigenen Entwicklungsmöglichkeiten nicht vorbei an den Entwick­lungsmöglichkeiten des sozialen Gesamtlebens (und umgekehrt) hat, ja, dass ganz grundsätzlich als »Aspekte des Personseins« einer seits die »Unverwechselbarkeit der Personen als eigentümliche Individuen, andererseits die Gemeinsamkeit der Personen als einander gleiche Exemplare der Menschheit« gelten, darin sieht S. be­reits eine Verständigungsmöglichkeit mit dem Kern eines theo­logischen Anerkennungsbegriffs, wie er etwa in Schleiermachers Ethik zu finden sei. Über Rawls und Walzer hinausgehend sei der Unverfügbarkeitsbegriff zu radikalisieren (360 f.). Gefragt wird nach dem »Grund jener Unverfügbarkeiten« und der »Gewissheit der eigenen Kontingenz, des eigenen Ungesichertseins« (361). Wo dies auch methodisch geschieht (und der Anspruch einer ›freistehenden‹ Gerechtigkeitskonzeption aufgegeben wird), da werden – so S.s wichtige Schlussfolgerung – weltanschaulich-religiöse Gründe in den Diskurs integriert »und eben in diesem Sinne als ordnungsgestaltende – und nicht lediglich ordnungserhaltende – Faktoren in einer pluralistischen Öffentlichkeit geltend« gemacht (366).
Grundsätzlich wird man dieser überaus gründlichen Analyse, die im Angelsächsischen wohl unter »Philosophical Theology« fallen würde, eine Verbreitung über den fachtheologischen Diskurs hinaus wünschen, werden doch inhaltlich wie sprachlich philosophisch interessierte Leser und dezidiert »Gerechtigkeitsspezialis­ten« angesprochen. Die einleitend erwähnte Stärke der Untersuchung, nämlich behutsam nach theologischen Anschlussmöglichkeiten zu suchen, kann für Leser, die nach konstruktiv-kritischer Orientierung im konkreten gesellschaftlichen Gerechtigkeitsdis­kurs suchen, auch als Schwäche erscheinen. Eine Disproportionalität zwischen der analytischen Darstellung und der konstruktiven theologischen Interpretation ist in jedem Fall unübersehbar, wenn auch von S. beabsichtigt. Vielleicht ist es für die weitere Arbeit an dieser Thematik hilfreich, wenn über die Einbindung von gerechtigkeitstheoretischen Entwürfen in die konkret »gerechtigkeits­praktischen« Fragen nachgedacht wird.
Vgl. dazu etwa den angelsächsischen Diskurs der »transitional justice« seit den 1990er Jahren, der die großen Gerechtigkeitsthemen mit konkreten Fragen nach politischen Umbrüchen ins Gespräch bringt: Wie ist eine gesellschaftliche Wohlordnung wieder herzustellen? Wie kann Gerechtigkeit dem Einzelnen widerfahren? In der philosophischen und theologischen Rechtsethik (C.D. Marshall, T.R. Richards) tritt der Begriff der »restorative justice« hervor, der, weil in besonderer Weise am Anerkennungskonzept orientiert, vielversprechend in eine konstruktive Verbindung mit den neueren Gerechtigkeitsentwürfen gebracht werden könnte.