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Ausgabe:

September/2007

Spalte:

992–995

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Frech, Siegfried, u. Michael Haspel [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Menschenrechte.

Verlag:

Schwalbach: Wochenschau Verlag 2005. 285 S. m. Tab. kl.8° = Basisthemen Politik. Kart. EUR 16,80. ISBN 3-89974-218-4.

Rezensent:

Christofer Frey

Über Menschenrechte ist viel gesagt und veröffentlicht worden; trotzdem besteht noch ein großer theoretischer Begründungs- und Klärungsbedarf. Dem soll die vorliegende Veröffentlichung allerdings nicht dienen. Sie ist für Multiplikatoren gedacht, die den Anspruch der Menschenrechte als Allgemeingut der Bildung wei­tergeben wollen oder sollen. Deshalb zielen einige Beiträge dieses Sammelwerks auf die Menschenrechtsbildung, auf mögliche Kurrikula und die Befähigung von Lehrerinnen und Lehrern im weitesten Sinn (vgl. 211–268). Die Erwartungen des Ethikers als Leser kommen zu kurz, weil diesem die mitgeteilten Informationen hinreichend bekannt sein dürften. Wenn jedoch die Ethik unter kirchlichen Multiplikatoren nur geringe Chancen hat, weil der Lauf der Zeit dem kirchlichen Personal wegen teils chaotischer Reformen viel Selbstbeschäftigung zumutet, könnte eine Veröffentlichung wie diese der dringend notwendigen Horizonterweiterung dienen; es gibt andere, schwerwiegendere Sorgen als die eigenen.
Die Perspektiven der beteiligten Autorinnen und Autoren ge­hen in unterschiedliche Richtungen. Nur auf einige kann in diesem Zu­sammenhang eingegangen werden.
Der grundlegende Beitrag des Marburger Sozialethikers Mi­chael Haspel (Menschenrechte in Geschichte und Gegenwart, 15–40) führt die Menschenrechte mit gutem Grund auf die Tradition der ›bill of rights‹ sowie auf Reaktionen auf konkrete Unrechtserfahrungen zurück und gibt einen Durchblick durch die Ge­schichte der Entfaltung der Menschenrechte in den UN seit 1945. Vielleicht fehlt diesem Beitrag der neu zu schärfende Blick in die kulturelle Bedingtheit der tragenden Konzepte; denn wer sich mit Rechtssystemen und Verfassungsfragen nicht-westlicher Staaten befasst (islamische seien in diesem Fall ausgenommen), wird bald erkennen, wie schwer die Übernahme des Person- und des Autonomiebegriffs in andere Rechtssysteme ist. Auch wenn die Jellineksche These der protestantischen Herkunft der Forschungslage nicht mehr standhält, sind Beiträge des naturrechtlich und christlich geprägten Westens zur Vorbereitung der Menschenrechtsdis­kussionen nicht zu vernachlässigen. Sie sind nicht nur ideengeschichtliche Fragmente, sondern prägen die Perspektive auf die Wirklichkeit des Rechtswesens und die politische Moral in den un­terschiedlichen Gemeinwesen. Das beweist – allerdings negativ – die konstatierte Rückkehr des Konfuzianismus zu der Rechtsidee des ›li‹ ohne (!) individuelle Rechte (Koenig, 108).
Im weiteren Verlauf des Sammelbandes und seiner Beiträge wird deutlich, dass die Menschenrechtsdebatte weit über das Rechtliche hinausgeht, denn die verschiedenen Verfasser legen Wert auf soziale ›basic rights‹ und nehmen sowohl den sozialen als auch den zivilen Menschenrechtspakt der UN als selbstverständlich hin. Jedoch ist anzumerken, dass die Erweiterung der Menschenrechte zu allgemeinen politischen Appellen deren Justiziabilität erheblich einschränkt. Man muss wissen, was man tut – die Ökumene gibt ein Beispiel einer ideologisch bedingten Blockade, wenn jahrzehntelang die ›zweite‹ und die ›dritte‹ Welt im Namen der sozialen Menschenrechte gegen die ›erste‹ koalierten und dieser Isolierung der individuellen Menschenrechte vorwarfen. Die Autorinnen und Autoren scheinen sich allerdings einig zu sein, dass es ohne Freiheit keine sozialen Rechte, aber ohne ein Mindestmaß sozialer Teilhabe auch keine aktive Wahrnehmung der politischen Freiheit geben kann.
Der Beitrag von Edinger (zu ›Institutionen und Verfahren des Menschenrechtsschutzes‹, 41–74) beschränkt sich deshalb folgerichtig auf die zivilrechtlichen Aspekte und die zugeordneten rechtlichen Institutionen. Mit dem Phänomen des internationalen Terrorismus ist gerade das zivilrechtliche System herausgefordert. Mit der Menschenrechtspolitik kommt jedoch das soziale und nicht nur das juristisch-formale Element zum Zuge, wie der Beitrag von Lochbihler (Die Menschenrechtspolitik der Europäischen Union, 75–90) zeigt. Denn die in der Europäischen Union immer wieder strittige Asylpolitik greift nicht nur rechtlich in die Souveränität der Herkunftsländer ein, sondern stellt die Frage, warum gerade jene, die den Weg nach Europa schaffen, durch die Aufnahme in ein Sozialsystem vor andern in ihrer Heimat viele Vorteile haben sollen.
Für den Ethiker von besonderer Bedeutung ist die Erörterung vom Matthias Koenig zu ›Universalismus und Relativismus‹ (91–112). Koenig ordnet auf die eine Seite ›objektive‹ Konzeptionen – etwa des Naturrechts bei Maritain und Finnis (wobei die Mitwirkung des Ersteren bei der Vorbereitung der Deklaration von 1948 vielleicht gar nicht bekannt ist) – und auf die andere Seite relativistische – seien sie deskriptiv, epistemologisch oder normativ. Koenig weiß selbst, dass diese Debatte durch das Verhältnis des Islams zu den ›westlichen‹ Menschenrechten verschärft wird. Allerdings leidet die Debatte unter dem Gewicht der diskurstheoretischen oder der vernunftrechtlichen Begründung. Sie verdeckt die Frage nach der Herkunft der Kapazität zur Universalisierung. Während Küng sein minimal-naturrechtliches Programm an den Religionsfrieden und die Kraft einer jeden Religion binden wollte, antworten die Diskurstheoretiker und andere bekanntlich mit einer Skepsis gegenüber Religionen, die sich erst in letzter Zeit lockert. Dem Islam und seinem strengen Monotheismus werden von Koenig Kapazitäten, universale Gleichheitsnormen zu gewinnen, zugesprochen. Hier müsste kritischer und differenzierter verfahren werden, denn die ›umma‹ ist eine islam-zentrische Konstruktion, während das Naturrecht besagt, dass Gott auch außerhalb der reli giösen Institution – und sogar inkognito – am Werk sein kann. Gerade die ex-zentrische Kraft des biblischen Gottesbegriffs er­laubt eine andere Weise der Universalisierung; und sie setzt schon in neutestamentlicher Zeit das Überschreiten der Clan- und der Stammesgrenzen voraus. Nicht jeder Gottesbegriff leistet das. Der Beitrag von Würth scheint deshalb auch skeptischer zu sein (137–164: zu Strategien, vor allem auch gegenüber dem Islam).
Jene Programme zu Menschenrechtsbildung und -erziehung, die die letzten Beiträge beherrschen, müssten vielleicht noch mehr auf diese kognitiven, moralischen und religiösen Kapazitäten achten; die in den Beiträgen dringend empfohlene Kenntnisnahme der Bemühungen vor allem seitens der UN ist jedoch sehr wichtig. Gerade Pädagogen müssten bedenken, dass jede und jeder gern für sich die Menschenrechte in Anspruch nimmt, aber viele den beinahe notwendig anzuschließenden moralischen Gedanken der Reziprozität gar nicht erst erwägen. Nichts ist gefährlicher als in der Bundesrepublik das Recht auf Religionsfreiheit mit zweifelhaften Geldern einzuklagen, nachdem man einige Zeit in Saudi-Arabien gelebt hat, aber dort nicht bleiben wollte. Zwar bejahen wir die Menschenrechte um der Stabilität unseres Rechtssystems willen und damit auch um unserer selbst willen, und wir sollten davon die politische Moral unterscheiden. Deswegen sollten wir anderen die grundlegenden Rechte bedingungslos zuerkennen. Aber in zweiter Linie müssten die so Begünstigten aus Ländern mit einer schwachen Menschenrechtskultur auch moralische Verpflichtungen übernehmen und über eine Revision ihres sonst gewohnten Verhältnisses von Religion und Politik nachdenken. Das wäre die stärkste Herausforderung zur politisch-gesellschaftlichen Stabilisierung einer Menschenrechtskultur und -praxis auch in unserem Land. Der intellektuelle Multikulturalismus wird immer fraglicher, weil er die gesellschaftlich-ökonomischen Folgen einer bestimmten kulturellen Einstellung nicht beachtet; und die ist den Wünschen der Betroffenen, an Errungenschaften ihrer neuen Gesellschaft teilzuhaben, oft konträr.
Zu der heute wichtigsten Frage in der Menschenrechtsdis­kussion hätten Leser dieses Sammelwerks mehr Anregungen und Antworten erwarten können: Wo finden sich die Instanzen der Ver­antwortung? Solange die Menschenrechte politisch-deklamato­rischen Charakter haben, können sie von dem einen Regime gegen das andere ausgespielt werden, ohne dass es den ihnen unterworfenen Staatsbürgern hilft. Die Besetzung der Menschenrechtskommission der UN mit Menschenrechte verletzenden Regimen ist ein eklatanter Fall der politischen Instrumentalisierung gegen die ursprüngliche Intention (vgl. 45 ff.). Die Menschenrechte könnten für autoritäre Regime zum Vorwand werden, einen Teil ihrer Bevölkerung loszuwerden und durch das Asylrecht oder einen Flüchtlingsstatus in anderen Ländern unterzubringen, wo sie in Sozialsysteme integriert werden müssten, zu denen sie nichts beigetragen haben oder beitragen werden. Die zuletzt Verantwortlichen wären dann die arbeitenden Bevölkerungen der Gesellschaften mit günstiger politischer und ökonomischer Verfassung. Diese nicht gerade gutwillige Karikatur ist manchmal annähernd wahr. Sogar vorbeugende militärische Interventionen könnten sich auf die Menschenrechte berufen. Also ist die politisch-moralische Proklamation voll dialektischer Fallen, solange die Verantwortung nicht institutionalisiert und durchgesetzt werden kann. Hier knüpfen Rechte an eine allgemeine politische Moral an, die sich oft mit massiven Interessen auseinandersetzen muss. Diese düstere Sicht wäre allerdings einer Menschenrechtskultur oder -bildung konträr. Vermutlich deshalb wird die Problematik in dem hier besprochenen Werk nicht offen verhandelt.
Es ist also ein Unterschied zwischen der formalen Zustimmung zu den Menschenrechten und der Übernahme der Verantwortung für die Konsequenzen festzustellen. Der Band ist auf die Akzeptanz der Menschenrechte in der deutschen Gesellschaft angelegt, aber diese hängt mit Sicherheit auch von der Auseinandersetzung mit politischer Instrumentalisierung der Menschenrechte und ihrem ideologischen Missbrauch zusammen. Das wird aus gutem Grund anhand des antiterroristischen Kampfes exemplifiziert, betrifft aber auch die sehr schwierigen islamischen Versuche, Menschenrechte innerhalb der eigenen Tradition zu interpretieren.