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Ausgabe:

September/2007

Spalte:

990–992

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Feil, Michael

Titel/Untertitel:

Die Grundlegung der Ethik bei Friedrich Schleiermacher und Thomas von Aquin.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2005. X, 290 S. gr.8° = Theologische Bibliothek Töpelmann, 130. Geb. EUR 88,00. ISBN 3-11-018225-4.

Rezensent:

Christoph Seibert

Diese Arbeit ist die Druckfassung einer vom Fachbereich Katho­lische Theologie der Universität Mainz angenommenen Dissertation. Das zu wissen ist nicht uninteressant, da sich F. einer Auf­gabe stellt, die meines Wissens bislang noch unerledigt ist. Diese Aufgabe ist nicht nur anspruchsvoll und riskant, sondern ihre Lösung verspricht darüber hinaus auch außerordentlich ertragreich zu sein.
Anspruchsvoll ist sie, weil nichts Geringeres unternommen werden soll als eine vergleichende Rekonstruktion der fundamental­ethischen Entwürfe derjenigen zwei Großtheoretiker, die von je­weils epochaler Bedeutung für die protestantische sowie katho­lische Wissenschaftskultur sind. Riskant ist sie deshalb, weil hermeneutisch nicht ohne Weiteres klar ist, welche Vergleichs­punkte angesichts der Verschiedenheit der Philosophiekonzepte überhaupt zur Verfügung stehen: Während Thomas die Vernunftkritik eines Hume und Kant noch nicht kennt, entwickelt sich das Denken Schleiermachers unter Voraussetzung und in ständiger Auseinandersetzung mit ihr. Dieses Problem wird sehr deutlich gesehen und in den methodologischen Bemerkungen der Einleitung (1–7) auf zwei Weisen angegangen: Zum einen stellt F. schon im Voraus seine Leitidee vor, dass über alle Epochendifferenzen hinweg beide Theoretiker erstaunliche Konvergenzen in der Sache aufweisen. Dieser Befund wird vor allem auf die gemeinsame Beschäftigung mit Aristoteles zurückgeführt, also ideengeschichtlich gedeutet (4.268). Zum anderen scheint sich F. dabei dem hermeneutischen Grundsatz zu verpflichten, das Verstehen vergangener Dokumente der Menschheit könne nur gelingen, wenn von einer geschichtlichen Kontinuität des Menschseins ausgegangenen werde. Daraus folgt: Sofern es sich bei den zu verstehenden Dokumenten um einen Niederschlag menschlichen Denkens handelt, muss sich in allen Differenzen auch ein Gemeinsames bekunden (5). Die Herausarbeitung diese Gemeinsamen wird sodann zum eigentlichen Thema erklärt (6).
Ertragreich verspricht die Lösung der Aufgabe gerade angesichts der behaupteten Gemeinsamkeit in der Sache zu sein. Man muss allerdings zwischen den Zeilen lesen, um herauszufinden, welches brisante Problem dabei zur Debatte steht. Denn über den historischen Vergleich hinausgehend verspricht die Arbeit vor allem deshalb ergiebig zu sein, weil sie eine, wenn nicht die systematische Grundfrage des modernen Ethikdiskurses bedenkt. Die Gegenüberstellung der durch die Vernunftkritik der Aufklärung geschiedenen Entwürfe wirft nämlich die Frage auf, ob und vor allem wie es unter nachkantischen Bedingungen möglich sein kann, die Einheit von Sein und Sollen, die für Thomas vorausgesetzt ist, zu denken. Schleiermacher gehört bekanntlich zu denjenigen Theore­tikern, die auch nach Humes Gesetz und der Scheidung von theoretischer und praktischer Vernunft darum bemüht sind, die auf­gerissene Kluft zwischen Sein und Sollen zu überwinden. Im Ho­rizont dieser brisanten Debattenlage, die heute etwa im Streit zwischen tugendethischen und verfahrensethischen Modellen lebendig ist, kann die Herausarbeitung von Konvergenzen gerade deshalb erhellend sein, weil dadurch gezeigt werden könnte, dass die Überwindung jener Dichotomie nicht unter allen Bedingungen als Rückfall in eine vorkritische Metaphysik getadelt werden müsste. So viel sei zur einleitend skizzierten Aufgabe und dem darin steckenden, leider aber nicht offengelegten systematischen Problem gesagt. Nun zur Durchführung.
Diese erfolgt in einer klassischen Dreiteilung: Auf die Rekonstruktion der ethischen Position Schleiermachers (8–135) folgt eine Darstellung der Ethik des Thomas (136–265); daran schließt sich eine sehr kurz gehaltene Schlussbemerkung an, die allerdings keine systematisch pointierte Zusammenschau des vorab Entwickelten liefert, sondern nochmals auf zentrale Konvergenzlinien hinweist (266–270). Bei dieser Gesamtkomposition fällt zweierlei auf: Zum einen wird keine chronologische Anordnung befolgt, da F. mit der Darstellung Schleiermachers beginnt, diesen Einstieg bei der Epoche »nach Kant« aber nahezu unkommentiert lässt. Zum anderen sticht hervor, dass die beiden Hauptteile auf der Makro­ebene nach einem identischen Muster komponiert sind. Dadurch wirkt der Aufbau nicht nur sehr übersichtlich und gut durchdacht, auch die Konvergenzthese lässt sich auf diesem Weg schon auf der Kompositionsebene eindrücklich darstellen. Dabei wird wie folgt vorgegangen:
Nach einer Skizze der für beide Theoretiker jeweils maßgeblichen zeitgeschichtlichen Krisen- und Umbruchssituation (8–16. 136–142) kommt es zu einer Einordnung der Ethik in das theologisch-philosophische Gesamtwerk (16–22.142–149). In diesem Zu­sam­menhang werden auch die für die Untersuchung relevanten Quellen genannt: Für den Schleiermacherabschnitt sind das vor allem die von H.-J. Birkner herausgegebenen Texte zur Ethik, die Akademievorträge sowie die §§ 3–6 der Glaubenslehre; nicht ge­nannt wird indessen Schleiermachers Christliche Sittenlehre. Im Thomaskapitel wird vornehmlich auf die Prima Secundae der Summa zurückgegriffen; im Zentrum stehen dabei die im lex-Traktat vorgetragenen Überlegungen zur lex aeterna und lex naturalis. Im Anschluss an diese einführenden Abschnitte wird mit der Herausarbeitung des Gegenstandes von Ethik die Grundlage für die nachfolgende Entfaltung gelegt (22–25.149–151). Dabei kommt es zur Feststellung, dass bei beiden der Mensch als »vernünftige Natur« Gegenstand der ethischen Reflexion ist (24 f.151), was zugleich besagt, dass der an den Menschen gebundene ethische Prozess unter den Gesichtspunkten seines Ursprungs, seiner Verfassung und seines ihm eingeschriebenen Telos genauer zu erfassen ist. Es sind also diese drei schon zu Beginn als die »für jede Fundamentalethik zentralen Fragen« (6) bezeichneten Gesichtspunkte, an denen sich die Entfaltung der beiden Modelle jeweils orientiert. Dabei ist es wichtig zu sehen, dass die Erörterung der ethischen Grenzfragen nach Ursprung und endgültiger Bestimmung des ethischen Prozesses nicht ausgespart bleiben, sondern als konstitutiv für das Verständnis der beiden Theorieentwürfe erachtet werden. Vor allem in diesem Zusammenhang kommt es daher zur religionsphilosophisch-theologischen Profilierung der beiden Positionen, was bei Thomas kaum verwunderlich scheint (265), in der Schleiermacherforschung allerdings umstritten ist. Und so lautet schließlich die im Anschluss an die Interpretation von E. Herms vorgetragene These, dass »Ethik ohne Religion … für Schleiermacher nicht vorstellbar« (135) sei.
Im Ganzen betrachtet erfolgt die Rekonstruktion der beiden komplexen Theoriemodelle in einer sehr übersichtlichen, sprachlich klaren und gut lesbaren Weise. Sie ist textlich gut belegt und wird durch den Rekurs auf Sekundärliteratur ergänzt. Allerdings vollzieht sich dieser Rekurs überwiegend affirmativ, so dass es zu keiner ernsthaften Diskussion mit der zeitgenössischen Schleiermacher- oder Thomasforschung kommt. Am Ende wird dem Leser geboten, was angekündigt war: eine solide und gut lesbare Einführung in zwei klassische Theorieprogramme mit dem Fokus auf einer »überblickartige[n] Sichtung konvergenter Linien« (7), nicht mehr, aber auch nicht weniger. Die Arbeit schließt zwar mit der Bemerkung, die Einsichten beider Autoren hätten auch noch für das ethische Bewusstsein der Gegenwart Relevanz, worin diese Relevanz aber genau bestehen könnte, bleibt ungesagt (270). Meinem Eindruck zufolge wird dadurch die wichtige, über das bloße Referat hinausgehende Pointe des Projektes verschenkt. Systematisch ungeklärt bleibt nämlich nicht nur, warum gerade die Fragen nach dem Ursprung, der Verfassung und der Bestimmung des Menschen »für jede [C.S.] Fundamentalethik« zentral sein sollen. Offen bleibt vielmehr auch die zentrale Frage, wie ein solcher Rekurs auf das Sein des Menschen überhaupt gelingen kann, ohne dabei als ein naiver Rückfall hinter die Einsichten der Vernunft­kritik verstanden zu werden. Die erbrachte Rekonstruktion der Schleiermacherschen Position liefert gutes Material, um diese Fragen anzugehen und die herausgearbeiteten Gemeinsamkeiten mit Thomas im ethischen Gegenwartsdiskurs zu profilieren. Doch leider werden die systematischen Konsequenzen aus der Rekonstruktion nicht eigens gezogen, wodurch zumindest die eigene Lektüreerwartung am Ende etwas enttäuscht wurde.