Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

September/2007

Spalte:

988–990

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Wimmer, Reiner

Titel/Untertitel:

Religionsphilosophische Studien in le­benspraktischer Absicht.

Verlag:

Fribourg: Academic Press Fribourg; Freiburg-Wien: Herder 2005. 332 S. gr.8° = Studien zur theologischen Ethik, 111. Kart. EUR 45,00. ISBN 3-7278-1533-7 (Academic Press Fribourg); 3-451-28952-0 (Herder).

Rezensent:

Klaus von Stosch

Der Sammelband des Tübinger Philosophen R. Wimmer umfasst einige seiner wichtigen religionsphilosophischen Veröffentlichungen aus den letzten 15 Jahren. Die meisten Beiträge sind stark von Wittgenstein und Kant geprägt und verfolgen ein lebensweltlich-alltagspraktisches Anliegen, insofern sie Religionen als Lebenspraxisformen verstehen, die das menschliche Dasein im Ganzen prägen und ihm Sinn, Halt und Richtung geben. Die Struktur des Buches ist an der Grundunterscheidung zwischen systematischen, problembezogenen Abhandlungen auf der einen Seite (Teil A) und interpretatorischen, werkbezogenen Abhandlungen auf der anderen Seite (Teil B) orientiert. Während der zweite Teil fast ausschließlich aus bereits publizierten Aufsätzen W.s besteht und dabei meist eher Detailfragen analysiert und einige vermeidbare Wiederholungen enthält, ist der Großteil des ersten Abschnitts des Buches für die Publikation neu geschrieben und lohnt eine ausführlichere Auseinandersetzung. Ich will mich hier auf die wichtigsten Beiträge dieses Teils konzentrieren.
Im ersten, ursprünglich im Jahr 1992 publizierten Beitrag Gott und der Sinn des Lebens. Religions- und existenztherapeutische Re­flexionen (13–42) polemisiert W. gegen den Gedanken der Begründbarkeit des Daseins Gottes und die Auffassung, dass die Frage nach Gottes Dasein eine Frage objektivierender Theorie ist (40). So richtig W.s Einsicht ist, dass die Auflösung des Glaubens in Wissen kein erstrebenswertes Ziel der Theologie sein kann (14), so wenig überzeugt seine gänzliche Absage an das Unternehmen einer Begründung des Glaubens an Gottes Dasein vor der Vernunft. Bei allen lobenswerten Einsichten in die Grammatik religiöser Rede fällt doch bereits in diesem ersten Beitrag eine für sein ganzes Buch charakteristische Tendenz einer unnötigen Polarisierung zwischen Begründungsansprüchen theoretischer Vernunft und berechtigten Einsichten in die lebenspraktische Verankerung religiöser Rede auf. Gerade die ständige Bezugnahme auf Wittgenstein rechtfertigt dabei nicht die von W. propagierte Missachtung der Begründungspflichten der kognitiven Dimension religiöser Rede. Denn auch wenn man W. (und Wittgenstein) Recht geben kann, dass eine metaphysisch-objektivierende Betrachtung der Rede von Gott zu einem unsinnigen Sprachgebrauch führt (25), so ist damit noch keineswegs ausgemacht, dass der Rede von Gott jeder referentielle und konstatierbare Bezug zu der extramentalen Wirklichkeit abzusprechen ist bzw. dieser Bezug nicht einer Prüfung durch die Vernunft zu unterziehen ist.
Das – auch in seinem zweiten Beitrag Vernünftigkeit und Glaubwürdigkeit monotheistischer Religiosität (43–58) sichtbar werdende– Hauptproblem der Wittgensteininterpretation W.s besteht in meinen Augen darin, dass er für die Religion als Ganze den Wittgensteinschen Begriff der Lebensform in Anspruch nimmt und damit eine unerschütterliche, übervernünftige, in der Praxis verwurzelte Form des Glaubens als Basis der Religion gegen Kritik immunisiert (46). Geleitet von solchen Überlegungen kann er sa­gen: »Die religiöse Lebens- und Praxisform als solche ist einer Be­gründung oder Rechtfertigung weder bedürftig noch fähig.« (40) Diese eng an Wittgenstein angelehnte Formulierung verfehlt Wittgensteins Verständnis von Lebensformen, die keineswegs so gefasst sind, dass sie als religiöse gegen Kritik immunisiert werden können. Gerade bei solchen Interpretationen ist es ärgerlich, dass W. die Erträge der neueren deutschsprachigen Wittgensteinforschung ignoriert.
In Kapitel 4 Bedarf die Moral der Religion? (77–93) nimmt W. die These einer notwendigen Verankerung der Moral in der Religion von C. F. von Weizsäcker zum Anlass, um die bereits von Paulus und Luther entwickelte Intuition zu würdigen, dass es eine Erfahrung der Gnade ist, das Gute tun zu können (77–102). Durch Rekurs auf Kant begründet W. völlig zu Recht, dass es falsch wäre, aus dieser Intuition heraus die Autonomie der Moral in Frage zu stellen. Die Erfahrung unbedingten Sollens brauche keine theologische Be­gründung. Aber dennoch gebe es die abgründige Erfahrung, dass man das als gut Erkannte trotz guten Willens nicht realisieren kann, dass sich äußere oder innere Hindernisse als zu stark erweisen, um das als gut Erkannte ins Werk setzen zu können (93). Um dieser Lutherischen Erfahrung genauso wie dem Kantischen Autonomieideal gerecht werden zu können, postuliert W., dass es eines Handelns Gottes bedürfe, um den Menschen gewissermaßen zur Freiheit zu befreien und es ihm zu ermöglichen, das als gut Erkannte wirklich zu tun. »Der Mensch bedarf nicht etwa nur der göttlichen Mitwirkung mit seinem Tun, sondern zuvörderst des Handelns Gottes, um überhaupt gut sein (und das Gute tun) zu können – der böse, unfrei gewordene Mensch bedarf der Wiederherstellung seiner Freiheit, und zwar ab extra, durch Gott!« (91) So schlüssig diese Lösung auf den ersten Blick klingt und so berechtigt der Versuch ist, die Intuitionen Luthers und Kants miteinander zu verbinden, so lässt W.s Konzeption doch Überhangfragen offen: Darf man das Handeln Gottes auf die von W. zu Recht geltend gemachte transzendentale Ebene reduzieren oder wird man Luthers Intuition erst gerecht, wenn auch mein gutes Wollen noch einmal als von Gott getragen und angestoßen gedacht wird? Wie genau ist dann aber das Verhältnis von Theonomie und Autonomie im Akt des von Gott zuvor befreiten Sünders zu denken? W. bietet hier interessante Denkanstöße, die aber vielleicht noch genauer ausgeführt werden müssten, da seine Hinweise auf mystische Erfahrungen, die er am Ende gibt, begrifflich etwas unscharf bleiben.
Äußerst anregend ist auch W.s fünfter Beitrag Bedingungslose Schuldvergebung?, in dem er sich mit der Moralität der bedingungslos Schuld vergebenden Liebe Gottes auseinandersetzt (103–122). Kann es – so lautet seine Fragestellung – aus moralischer Sicht legitim sein, wenn einem nicht bereuenden Sünder von einer Instanz bedingungslos vergeben wird, die unter der Verfehlung des Sünders nicht primär zu leiden hatte? W. argumentiert überzeugend dafür, dass eine solche moralische Forderung nicht universalisierbar und damit aus der Sicht Kantischer Ethik nicht Gegenstand eines Sollens sein kann, dass sie aber durchaus als »Erlaubnisgesetz« moralisch legitimierbar sei (106) und letztlich in einen »Bereich jenseits der Moral und der Ethik« gehöre (122).
Im letzten Beitrag des ersten Teils Gott vor Gericht? Das Buch Hiob und die Frage einer Theodizee (123–146) plädiert W. dafür, die Theodizeefrage vom (theoretischen) Kopf auf die (praktischen) Füße zu stellen (144) und den Weg für eine praktische und existenzielle und damit persönliche und individuelle Antwort frei zu machen (146). So verständlich dieses Plädoyer für eine praktisch-authentische Theodizee ist, so nimmt sie doch die Notwendigkeit des Aufweises der Nichtwidersprüchlichkeit des Gottesglaubens vor dem Forum der theoretischen Vernunft nicht ernst genug. Die theoretische Auseinandersetzung mit dem Theodizeeproblem ist nicht einfach unsinnig, sondern angesichts des Protestatheismus notwendig, um zu erkennen, dass es in diesem Bereich »zu jedem Grund einen Gegengrund gibt«, und so dem praktischen Glauben verantwortet Platz machen zu können. W. ist in seiner Wittgen­steinschen Destruktion ungerechtfertigter theoretischer Ansprüche der Vernunft oft sehr nah an diesem Versuch dran, scheint mir aber die für eine kriteriale Bewertung religiöser Überzeugungen so wichtigen erkenntniskonstruktiven Leistungen der Vernunft insgesamt zu unterschätzen.
Trotz dieser Bedenken ist das Buch insgesamt anregend und bietet eine Fülle von sonst vielleicht zu wenig bedachten wertvollen Denkanstößen, die zumindest zu einer selektiven Lektüre einzelner Beiträge einladen.