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Ausgabe:

September/2007

Spalte:

985–988

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Troeltsch, Ernst

Titel/Untertitel:

Fünf Vorträge zu Religion und Geschichtsphilosophie für England und Schottland. Der Historismus und seine Überwindung (1924). Christian Thought. Its History and Application (1923). Hrsg. v. G. Hübinger in Zusammenarbeit m. A. Terwey.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2006. XVI, 266 S. gr.8° = Ernst Troeltsch Kritische Gesamtausgabe, 17. Geb. EUR 128,00. ISBN 978-3-11-018232-3.

Rezensent:

Hermann Fischer

Der neue Band der Troeltsch-KGA erscheint im Unterschied zu den bisherigen, von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften betreuten Bänden (4.5.7.8.15) im Auftrag der Kommission für Theo­logiegeschichtsforschung der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, deren Vorsitzender, Friedrich Wilhelm Graf, zugleich als Hauptherausgeber der Troeltsch-KGA fungiert. Außerdem ist das Herausgebergremium um Christian Albrecht erweitert worden.
Der Band enthält die letzten Vorträge, die T. für eine Reise nach England und Schottland im März 1923 vorbereitet hatte, die er aber infolge seines frühen Todes am 1. Februar 1923 nicht mehr halten konnte. Es handelt sich dabei um drei als Einheit konzipierte und mit der Überschrift »Ethik und Geschichtsphilosophie« versehene Abhandlungen (1. Die Persönlichkeits- und Gewissensmoral, 2. Die Ethik der Kulturwerte, 3. Der Gemeingeist) und um die beiden Studien: »Die Stellung des Christentums unter den Weltreligionen« und »Politik, Patriotismus, Religion«. Diese Vorträge sind in der englischen Fassung unter dem Titel »Christian Thought. Its History and Application« posthum Ende November 1923 erschienen, in der deutschen Fassung unter dem von Troeltschs Frau Marta gewählten Titel »Die Überwindung des Historismus« Mitte Januar 1924. Beide Versionen werden im vorliegenden Band kritisch ediert.
Diese Studien haben ungewollt den Charakter eines Vermächtnisses. Noch einmal partizipiert der Leser am schier aussichtslosen Ringen T.s mit den Problemen des historischen Relativismus und an seinen mehr beschwörenden als gelungenen Versuchen einer Eindämmung der mit ihm verbundenen Gefahren. Nach der Fertigstellung des großen (3.) Bandes seiner Gesammelten Schriften »Der Historismus und seine Probleme. I. Buch: Das logische Problem der Geschichtsphilosophie« (1922) arbeitet T. von Dezember 1922 bis Januar 1923 an den Vorträgen und versucht in ihnen we­sentliche Aspekte seines gegenwärtigen Schaffens und der vor ihm liegenden Aufgaben zu skizzieren. Sie enthalten »den Kern meiner ganzen gegenwärtigen Gedankenarbeit« (68), T. verweist selbst auf die gerade abgeschlossene Historismus-Monographie (114). In einem Brief an den Reformkatholiken Friedrich von Hügel, der die Vortragsreise – nach dem Ersten Weltkrieg! – angeregt und organisatorisch vorbereitet hatte, schreibt T., dass die ersten drei Vorträge »einen Teil der Grundideen meines kommenden II. Bandes des Historismus« enthalten (hier: 23). Allerdings bietet T. nur sehr allgemein gehaltene Perspektiven, denn für die Arbeit am zweiten Buch des Historismusbandes veranschlagte er mehrere Jahre. Dieser Band hätte, wie er in einem weiteren Brief an F. v. Hügel schrieb, zuerst »einen Abriß der europäischen Universalgeschichte« enthalten sollen, um dann zur »Lösung der geschichtsphilosophischen Aufgabe« in Gestalt einer Ethik überzuleiten (vgl. hier: 24). Man wird im Blick auf solche weitgesteckte Aufgabenstellung und die Arbeitsweise T.s vermuten dürfen, dass dieses II. Buch genauso Fragment geblieben wäre, wie es das erste faktisch ist.
Der Historismusband und die Vorträge sind zeitlich benachbart und – wie T. selbst hervorhebt – thematisch miteinander verzahnt. Deshalb irritiert die Behauptung des Herausgebers, es sei auffällig, dass sich die Leitbegriffe der T. vorschwebenden systematischen Konzeption wie etwa »Kultursynthese«, »Universalgeschichte«, »Auf­bau« und »Europäismus«, die er im Schlusskapitel des Historismus-Buches exponiert, in den Vorträgen nicht finden. Die mit diesen Begriffen signalisierte Thematik ist in den Ausführungen T.s aber, wie sich zeigen wird, allenthalben präsent, und es fallen auch entscheidende Begriffe wie etwa »Europäertum« oder »(Kultur-)Synthese«. Natürlich darf man angesichts der spezifischen und damit auch begrenzten Aufgabenstellung der Vorträge nicht den Ideenreichtum der großen Monographie über den Historis­mus erwarten, aber das Grundproblem ist hier wie dort das gleiche.
Bereits auf der ersten Seite der Vorträge (68) formuliert T. als zentrales Thema »das Verhältnis zwischen der endlosen Bewegt­-heit des geschichtlichen Lebensstromes und dem Bedürfnis des menschlichen Geistes, ihn durch feste Normen zu begrenzen und zu gestalten«. Die historische Individualität als Kerngedanke des historischen Bewusstseins scheint einer Anarchie der Werte und Urteile Tür und Tor zu öffnen. In den ersten drei Vorträgen setzt T. unter Aspekten der Ethik, die noch am ehesten Elemente des Gültigen bereitzustellen scheint, zu Versuchen einer Problembewältigung an. Mit der Idee »der freien, in sich selbst begründeten und einheitlichen Persönlichkeit« ist ein klarer Zweck des sittlichen Handelns vorgegeben (73), aber dieses »rein formale« Ziel wirft bei der Überführung in die konkrete Lebenswirklichkeit auf Grund der hohen Komplexität des Ethischen erneut diejenigen Probleme auf, deren Überwindung es leisten sollte. T. schildert diese Schwierigkeiten und gelangt zu einem ernüchternden Ergebnis (78): »Unter diesen Umständen bleibt für die Verwirklichung der moralischen Humanitätsidee überhaupt keine Hoffnung übrig, den Strom des geschichtlichen Lebens endgültig und vollständig durch zeitlos gültige, überhistorische Moralität einzudämmen und zu kanalisieren«. Schon beim einfachsten, allgemeinsten Moment »des ethischen Bewußtseins versagt die Möglichkeit einer endgültigen Be­grenzung des historischen Lebensstromes« (79). Diese Einsicht gilt nicht nur im Blick auf die individuelle Gewissensmoral (68–80), sondern auch für die im zweiten Vortrag erörterte überindividuelle Güter- bzw. Kulturethik (80–92). Die bisherigen Versuche, ein System der Güter aus einer einheitlichen Wurzel mit einem einheitlichen Ziel zu entwickeln (u. a. Platon, Plotin, Schleiermacher, Hegel), sind gescheitert. Dennoch kann – analog zur »Kultursynthese« im Historismusband – nicht darauf verzichtet werden, »die Zusammenarbeitung dieser Kulturwerte zu einem einheitlichen Ganzen für die Gegenwart und Zukunft innerhalb eines gegebenen großen Kulturkreises« in Angriff zu nehmen (89); eine »bewußte und konstruktive Synthese« sei nötig (90; vgl. auch 103). T. gesteht ausdrücklich zu, dass es sich dabei um eine »Konstruktion« handelt, aber eben nicht – wie bei Hegel – um eine »Apriori-Konstruktion«, sondern um eine »Aposteriori-Konstruktion, die in erster Linie Voraussetzungen, Geschichte und Schicksal des eigenen Kulturkreises kennen muß« (90). Leitend ist also die »historische Individualität des eigenen Kulturkreises« (91), wiederum eine relative Größe. Selbst wenn die Konstruktion auf objektiven Gegebenheiten aufruht, potenziert sich die Relativität noch einmal dadurch, dass die Synthese »in letzter Linie eine persönliche Lebenstat« bleibt (91). Hier entscheidet zuletzt der Glaube, »und der Glaube rechtfertigt« (91). In einer originellen, den ursprünglichen Sinn aber fast völlig verdeckenden Weise wird am Ende die lutherische Rechtfertigungslehre bemüht.
Gewissensmoral und Kulturethik vermögen in ihrem spannungsvollen Verhältnis zueinander die gesuchte Normierung und Gestaltung des historischen Lebensstromes nicht zu leisten, sie bedürfen nach T. einer Fundierung im »Gemeingeist«. Tatsächlich wird dieser Gemeingeist im dritten Vortrag (92–104) aber mehr postuliert, mehr beschworen als in seinen Grundzügen – und sei es auch nur für das Europäertum – einsichtig gemacht. T. benennt Elemente des Volksgeistes (99), aber sie werden nicht in ihrem Verhältnis zueinander und in ihrer tatsächlichen Leistungskraft vor Augen geführt, »können gar nicht zu einer Gemeinschaft überhaupt zusammengedacht werden« (99). Die Ausführungen erwe­cken den Eindruck, dass das »hilflose Konglomerat«, das T. für die kirchlichen und philosophischen Ethiken diagnostiziert, auch für seinen eigenen Versuch gilt. Zwar wird immer wieder die Notwendigkeit von »Synthesen« betont (102 f.), aber dem steht das wiederholte Eingeständnis des »Vielspältigen« gegenüber (93.97.103.126). Der zusammenfassende Satz bezeugt mehr das Dilemma als die Lösung: »Die Aufgabe der Dämmung und Gestaltung ist also ihrem Wesen nach unvollendbar und unendlich und doch im einzelnen immer wieder lösbar und praktisch gestellt. Eine radikale und absolute Lösung gibt es nicht, nur kämpfende, partielle und synthetisch verbindende Lösungen« (103).
Ein ähnlicher Befund ergibt sich für das Christentum (105–118). In seiner berühmten Schrift »Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte« (1902) hatte T. noch versucht, mittels eines mehrschichtigen Kriteriengefüges zumindest eine »Höchstgeltung« des Christentums sicherzustellen. Dieses Gerüst wird jetzt preisgegeben und das Christentum lediglich als Religion des Europäertums gedeutet. Der entscheidende Gesichtspunkt der historischen Individualität verträgt sich nicht mit dem Gedanken der Höchstgeltung. »Die Idee der Individualität des Europäertums und des mit ihm eng verbundenen Christentums tritt nun viel stärker in den Vordergrund, und die doch immer etwas rationalistische Idee der Geltung und der Höchstgeltung tritt stark zurück. Entscheidend sind die Tatsachen und der Gang des Schicksals … Das Christentum ist aus einer jüdischen Sekte die Religion des gesamten Europäertums geworden. Es steht und fällt mit diesem, wie umgekehrt dieses völlig entorientalisiert, hellenisiert und europäisiert ist … Die Geltung des Christentums besteht vor allem darin, daß wir nur durch es geworden sind, was wir sind, und nur in ihm die religiösen Kräfte behalten, die wir brauchen« (114).
Dieser Rück­zug auf die Linie des »Europäismus« wirft schon im Blick auf das Selbstverständnis des Christentums gravierende Probleme auf. Ganz neu stellen sich die Fragen im Blick auf die Entwicklung des Christentums in Afrika und Asien, und die Konsequenzen der Globalisierung sind noch unabsehbar. Besonders vor solchem Hintergrund springt die Zeit- und Standortgebundenheit der Ausführungen T.s ins Auge. – Der letzte Vortrag über »Politik, Patriotis­mus, Religion« (119–132) verdankt sich vor allem der damaligen politischen Konstellation und stellt den Kompromiss als Leitbegriff des politischen Handelns in den Mittelpunkt.
Eine materialreiche »Einleitung« (1–32) und ein »Editorischer Bericht« (33–65) machen den Leser mit dem historischen Umfeld vertraut und vermitteln ihm wichtige Einsichten für das Verständnis der Texte. Detailgenau rekonstruiert der Herausgeber die Entstehungsgeschichte, vor allem der Übersetzung der Vorträge ins Englische. Für die Interpretation der Gedanken T.s trägt die eng­lische Fassung relativ wenig aus, mag sie auch für die Wirkungsgeschichte hilfreich sein. Einige kleinere Versehen können auf sich beruhen, vergeblich sucht man aber nach den Konkordanzen, die für den Schluss des Bandes angekündigt werden (30), dort aber nicht zu finden sind.
Bei der Wiederbegegnung besonders mit diesem Text fühlt man sich an Fr. Meineckes Urteil über seinen Freund erinnert (hier: 208), »daß seine positiven Leitgedanken und Ziele in einem gewissen Mißverhältnis standen zu dem phänomenalen Reichtum sublimierter historischer Anschauungen, daß seine gewaltige Rede oft merkwürdig versagte, wenn es galt am Schlusse … unzweideutig das eigene Wollen und Denken zu entwickeln«.