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Ausgabe:

September/2007

Spalte:

971 f

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Ochs, Ekkehard, Werbeck, Walter, u. Lutz Winkler [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Das geistliche Lied im Ostseeraum.

Verlag:

Frankfurt a. M.-Berlin-Bern-Bruxelles-New York-Oxford-Wien: Lang 2004. 285 S. m. Abb. 8° = Greifswalder Beiträge zur Musikwissenschaft, 13. Kart. EUR 51,50. ISBN 3-631-39816-6.

Rezensent:

Jürgen Henkys

Der Band enthält die Beiträge einer vom Institut für Kirchenmusik und Musikwissenschaft an der Universität Greifswald veranstalteten wissenschaftlichen Konferenz zum Thema »Geistliches Lied im Ostseeraum zwischen Reformation und 1900«. Das war schon die achte Tagung (2000) in einer der »Musica Baltica« verpflichteten Reihe. Der Klärung des Generalthemas, seiner forschungsgeschichtlichen Einordnung und seiner Begriffe (»geistliches Lied«, »Ostseeraum«) dient der einleitende Beitrag von Walter Werbeck.
Die Aufsätze des Sammelbandes verfolgen musikalische Fragen des geistlichen Liedes, und sie tun das in historischer Perspektive. Aber es gibt zwei Ausnahmen. Nicht historisch, sondern rein be­grifflich-faktorenanalytisch geht Gerd Rienäcker vor, wenn er gleich zweimal die »Wort-Ton-Beziehungen in lutherisch-protes­tantischen Gemeindeliedern« erörtert: zuerst in einer langen Thesenreihe, anschließend in einer kaum weniger abstrakten Entfaltung. Auf historisch verortete Liedbeispiele wartet man vergeblich. Natürlich spielt dann auch der Ostseeraum keine Rolle. Die zweite Ausnahme: Nicht an der Musik, sondern nur an Texten ist Heike Müns interessiert, wenn sie in Mecklenburg gesammelten »Verballhornungen von Gesangbuchliedern im 19. Jahrhundert« nachgeht.
Fast den gesamten Ostseeraum fasst Folke Bohlin ins Auge. Er skizziert »die reformatorische Singebewegung« in ihrer Ausbreitung nach Norden (vor allem Schweden) und Nordosten. Die entscheidende Gestalt war der Rostocker Joachim Slüter. Vor allem an Schweden haften weiterhin die Beiträge von Anders Dillmar (über J. C. F. Hæffner und seine Choralbücher), von Markus Rathey (über das programmmusikalische Orgelspiel des Abbé Vogler) und von Margareta Jersild (über »Traditional Hymn Singing« nicht nur in Schweden, sondern auch im schwedischsprachigen Bevölkerungsteil Estlands). Die russische Kirchenmusik unter dem Einfluss westlicher Kirchengesänge im 18. Jh. behandelt Vladimir Gurewitsch, das lettische geistliche Chorlied am Ende des 19. Jh.s Mi­kus ˇCeˇze. Königsberg kommt mit den verschollenen Beständen seiner Staats- und Universitätsbibliothek ins Spiel: Klaus-Peter Koch stellt auf Grund noch vorhandener Katalognachrichten un­terschiedliche Komplexe zusammen, die aufschlussreich sind für die Entstehung, Sammlung und Überlieferung geistlicher Lieder.
Gleich vier Autorinnen und ein Autor widmen sich dem geistlichen Lied in Danzig/Gda´nsk und machen damit nachdrücklich auf die polnische Forschung aufmerksam. Danuta Szlagowska gibt Einblick in eine in Danzig befindliche Manuskriptsammlung von »Polish Christmas Carols« und klärt damit die Herkunft und Eigenart zahlreicher polnischer Weihnachtslieder. (Ihr Beitrag wäre in der »Liederkunde zum EG« bei Nr. 53 nachzutragen.) Polnische evangelische Gesangbücher aus Danzig von 1586-1803 stellt Vio­letta Kostka vor, und mit dem Melodienbuch des Danziger Ge­sangbuchs von 1841 beschäftigt sich Jolanta W o´zniak. Ungemein interessant ist der Beitrag von Danuta Popingis über das Glockenspielrepertoire der Danziger Katharinenkirche. Auf Grund einer er­haltenen Programmzettelsammlung des Organisten an St. Ma­rien Otto Krieschen dokumentiert Jerzy Marian Michalak Werke aus dem 19. Jh., die an Kirchenliedern haften, und skizziert dabei auch die Lebensläufe von sechs Komponisten. – Wenn Matthias Schneider den Vorlagen der Choralvariationen über »Puer natus in Bethlehem« von Paul Siefert nachgeht, hängt auch diese Studie an Danzig: Der behandelte Komponist wurde dort geboren und wirkte ab 1623 an St. Marien.
Der geographische Kreis schließt sich mit Vorpommern, Meck­lenburg und Schleswig-Holstein. Um die zum geistlichen Lied gehörigen Musikalien in der Universitätsbibliothek Greifswald geht es im Artikel von Peter Tenhaef. 2200 Titel umfasst die Gesangbuchsammlung. Der Autor führt in die Gliederung dieses reichen Bestandes ein. Ganz anderer Art sind die etwa 200 vertonten Stücke, die sich in der umfangreichen Abteilung »Vitae Pomeranorum« finden, nämlich Kasualkompositionen und vertonte Widmungsgedichte. Über das Choralbuch von A. Wagner und die Praxis des Ge­meindegesangs in Vorpommern schreibt Markus T. Funck. Die »Bicinia sacra« (1623) des Rostocker Daniel Friderici, musikdidaktische Kompositionen aus der Feder des Herausgebers der berühmten »Piae Cantiones« (Greifswald 1582), behandelt Andreas Maczkat. Wie andere Beiträger des Sammelbandes liefert er zum Text auch Notenbeispiele. Einen aufschlussreichen Blick auf die verwirrende Lage des Gemeindegesangs nach der Einführung des rationalistischen Gesangbuchs für die Herzogtümer Schleswig und Holstein (Johann Andreas Cramer) vermittelt Michael Kube. Es war der Kieler Organist G. Chr. Apel, der mit seinen zwei Choralbüchern (1817 und 1832) vor der Aufgabe stand, das Chaos der Melodiezuweisungen zu ordnen. Ein Beitrag zum dänischen Kirchenlied fehlt.
Der Rezensent ist an der Kirchenliedforschung beteiligt, ohne doch selbst Musikwissenschaftler zu sein. Umso lieber hat er den Greifswalder Sammelband zur Kenntnis genommen. Er ist beeindruckt von der Vielfalt der Fragehinsichten und von der regionalen wie lokalen Konzentration, die hier – im arbeitsgemeinschaftlichen Austausch – der geschichtlichen Aufhellung des geistlichen Liedes zugute kommen.