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Ausgabe:

September/2007

Spalte:

963–965

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Grütz, Reinhard

Titel/Untertitel:

Katholizismus in der DDR-Gesellschaft 1960–1990. Kirchliche Leitbilder, theologische Deutungen und lebensweltliche Praxis im Wandel.

Verlag:

Paderborn-München-Wien-Zürich: Schöningh 2004. 548 gr.8° = Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte. Reihe B: Forschungen, 99. Lw. EUR 58,00. ISBN 3-506-71730-8.

Rezensent:

Christian Dietrich

Die Arbeit ist 2002 am Max-Weber-Kolleg für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien der Universität Erfurt unter Leitung von Josef Pilvousek eingereicht worden. Wie der Untertitel nahelegt, nimmt die Studie sowohl theologische als auch sozialwissenschaftliche Fragestellungen auf. Das Zweitgutachten hatte Dorothee Wierling übernommen. Ausgangsthese von G. ist, dass der Katholizismus am Ende der DDR sehr bunt war, es ihm jedoch an einer Laienöffentlichkeit mangelte. Doch so stark diese These ist, so schwer lässt sie sich belegen. Die Unterdrückung der Gesellschaft im Machtbereich der SED hatte ja zur Folge, dass sich eine eigensinnige Öffentlichkeit nur sehr schwer entfalten konnte. Entsprechend schmal fällt auch die Quellenbasis aus.
G. beobachtet einen erheblichen Wandel »der lebensweltlichen Ausprägungen« des ostdeutschen Katholizismus zwischen 1960 und 1990. Um diesen zu beschreiben, greift er den Begriff »Dispositiv der Dauer« (Rainer Bucher, Kirchenbildung in der Moderne, 1998) in Anlehnung an Michel Foucault auf. Damit soll die »Doppelstrategie von interner Pluralisierung und gleichzeitiger Ab­schottung von den Pluralitätsirritationen der Moderne« (62) des Katholizismus nach der französischen Revolution beschrieben werden. Bucher hat das Ende der »Installation der Dauer« für den westlichen Katholizismus während der 60er Jahren beschrieben. Für G. ist dies im ostdeutschen Katholizismus bis 1989 ebenfalls geschehen. Als Ursachen nennt er »gesellschaftliche Irritationen und Frustrationen, innerkirchliche Aufbrüche und Lockerungen sowie imaginierte Partizipationen an westlichen Modernisierungsschüben. Diese Prozesse vollziehen sich innerhalb der unter den Bedingungen eines sozialistischen Systems auf Beharrung und Bewahrung ausgerichteten kirchlichen Strukturen« (63). Der Grazer Professor R. Bucher hat für den westlichen Katholizismus den Wertewandel unter den Aspekten »vom Seelenheil zur Menschenwürde«, »von der Moral zum Pastoral« und von den Kirchenrechten zu den Menschenrechten beschrieben. So griffig gibt es dies bei G. nicht. Nach einer 50-seitigen begrifflichen Klärung von DDR-Gesellschaft, Katholizismus und Rezeption des II. Vatikanums zeigt G., wie Ende der 1960er Jahre Konflikte innerhalb des ostdeutschen Katholizismus aufbrechen. Er spricht von einer »Sattelzeit« um 1968 (351). Auch wenn die Bischöfe, allen voran Kardinal Bengsch, sich ein enges Zusammenrücken der Kirche gerade gegenüber der SED wünschten, war gerade die Pluralität Kennzeichen einer lebendigen Kirche. B. Schäfer hatte in seiner politwissenschaftlichen Studie (1998) gezeigt, dass es bei den Konflikten innerhalb der Priesterschaft zu überraschenden Kooperationen zwischen der katholischen Hierarchie und dem SED-Staat kam. G. widerstrebt eine Analyse der Machtpolitik, er wollte mit seiner Dissertation »Neuland« betreten (189), deshalb konzentriert er sich auf den »Eigensinn« und die »heimlich blühende Gesellschaft« (Überschrift zu I.2) innerhalb der durchherrschten Gesellschaft. Er analysiert den Wandel zentraler katholischer Leitbilder (Ehe, Gemeinde, Priester).
Im Brennpunkt der Auseinandersetzungen in und mit der ka­tholischen Kirche steht u. a. die Sexualmoral. Sie entzündeten sich insbesondere an der Enzyklika »Humanae vitae« aus dem Jahre 1968. Während die Deutsche Bischofskonferenz diese Enzyklika nur modifiziert rezipierte und neben dem Lehramt die Gewissensentscheidung der Ehepartner bei Fragen der Familienplanung würdigte, verhinderte Kardinal Bengsch eine ähnliche Interpretation für die ostdeutsche Bischofskonferenz. So provozierten die im Sep tember 1968 beschlossenen »Hinweise« eine breite Diskussions- und Protestkultur innerhalb der ostdeutschen Priesterschaft, in Studentengemeinden und unter Laien. G. stellt die Herausbildung der innerkatholischen Opposition in den Kontext der Beheimatung der »Flüchtlingskirche« in der »Diaspora« seit Mitte der 1950er Jahre. »Episkopale Skepsis gegenüber dem katholischen Vereinswesen« (197) und tradierter Antimodernismus hatten Mitte des 20. Jh.s die Familie pastoral deutlich aufgewertet. In der DDR waren Familie und Kirche die letzten gesellschaftlichen Refugien. So war die Zeit reif für eine Neuinterpretation der Familie. Aus der Not wurde eine Tugend (Fastenbrief der Bischöfe 1960). Die Familie wurde immer stärker zum Zentrum der Kirchbildung und Rechristianisierung der Gesellschaft (211). G. zitiert das Bonmot Bischof Aufderbecks »Die Hand, die die Wiege bewegt, bewegt die Welt.« (220) Flaggschiff für die Wertschätzung der Familie und den Wertewandel wurden die in Leipzig ab 1960 herausgegebenen Elternbriefe bzw. Ratgeberbücher der Reihe »Die Hauskirche«.
Die Studie stellt verschiedene Aspekte der Wertetransformation im Kontext der sozialistischen Familienpolitik und der demographischen Entwicklung dar. Nach einer großflächigen Sichtung der Kontroversen innerhalb der Studentengemeinden, der oppositionellen Priesterkreise, den Synoden bis hin zum »Kleinen Katholikentreffen« 1987 in Dresden und den Debatten in der Kirchen­zeitung »Tag des Herrn« kommt G. zu dem Ergebnis, dass die De­institutionalisierung von Ehe und Familie in der DDR »weiter fortgeschritten ist als in der Bundesrepublik«. Dieser Prozess hat auch in die katholischen Gemeinden hineingewirkt. »Prägekraft und Reichweite kirchlicher Normen ließ nach.« (296) Zugleich kam es zu einem »Individualisierungsschub« und einer »lebensweltlichen Pluralisierung« innerhalb des DDR-Katholizismus (297). Dennoch blieb die Familie das Zentrum katholischer Vitalität bis heute: »Die Familien werden auch morgen Lebens- und Glaubensschulen bleiben und nachhaltiger wirken als Bischofspredigten« (Bischof Wanke in der Silvesterpredigt 2006). Welche Rolle die Etablierung des Gewissens (im Gegengewicht zum Gehorsam) als ethische Norm und theologischer Wert im ostdeutschen Ka­tho­lizis­mus spielte, hat G. nicht weiter untersucht. Dabei hatte die Deutsche Bischofskonferenz 1968 schon diesen Pfad der Moderne be­treten und klagten Laien und Priester die Respektierung der Gewissensentscheidungen durch die Hierarchie (und in anderer Weise durch den Staat) im gesamten Untersuchungszeitraum ein.
Besonders radikal war der Paradigmenwechsel beim »(Pfarr-) Gemeindebild«. Im LThK des Jahres 1960 gab es keinen eigenstän­digen Artikel »Gemeinde«, da sich darunter angeblich »protestan­tisches ›Sondergut‹« verbarg (299), und auch das II. Vatikanum kannte keine ausgearbeitete »Gemeindetheologie«. Doch in den 1960er Jahren beginnt eine deutliche Absetzbewegung von der »Pfarrei«. Dabei mischten sich ekklesiologische Entdeckungen und kirchenreformerische Impulse. M. E. wirkte dabei die Liturgiereform nachhaltig. Sie wird in der Studie nicht weiter gewürdigt. G. untersucht die konzeptionelle Elitebildung durch die Ordinarienkonferenz und die Notwendigkeit der Integration von Laien in die »Pfarrei« durch die besondere Diasporasituation. Er kommt zu dem Ergebnis, dass immer stärker partnerschaftlich argumentiert und die missiona­ri­sche Grunddimension der Ge­meinde hervorgehoben wurde, wo­bei der »missionarische Geist« mehr nach innen als nach außen ge­rich­tet war. Immer wieder wird die Ortsgemeinde als »Bru­der­schaft« (340) antizipiert, doch (zumindest anfangs) scheiterten »spirituell motivierte Elitebildungen«. 1965 wurde das Institut des Diakonatshelfers eingeführt – weit über 1000 gab es zu Ende der DDR. Trotz erheblichem Widerstand in der Hierarchie begann die Einrichtung der verschiedenen Räte, insbesondere der Pfarrge­mein­deräte (Rahmenordnung 1977). Mitte der 80er Jahre mussten die Bischöfe je­ doch feststellen, dass »gerade aktivere Teile der Laienschaft« sich »protestantischen Vorstellungsmustern« angenähert hatten (388), und F. G. Friemel beobachtete zugleich eine »neue Ge­neration autochtoner Katholiken« (1986, zit. 379), die sich von den traditionellen katholischen Werten weitgehend verabschiedet hatten.
Mehrfach meint G., dass der ostdeutsche Katholizismus »nach 1989 politisch ›schlagkräftig‹« war (471), und suggeriert, dafür eine Erklärung zu bieten. Doch die friedliche Revolution wird in der Studie weder dargestellt noch reflektiert. Der »Weltauftrag« des Katholiken war zur Zeit der SED massiv reduziert. Wolfgang Thierse fühlte sich als »Staatsbürger, als Mensch mit Beruf, als Zeitgenosse … in der katholischen Kirche nicht sonderlich heimisch« (138, Anm. 97). Entsprechend konstatiert G.: »Die Ökumenische Versammlung brachte die katholische Kirche näher an die gesellschaftlichen Probleme in der DDR heran, als es davor je der Fall war.« (183) Wie sich die »DDR-Ökumene« und wie sich gerade der Wertewandel in einem intensiven Austausch zwischen den Kirchen entwickelte, kommt in der Studie nicht in den Blick. Dabei waren die Pluralisierungsprozesse meist mit einer ökumenischen Weite der Protagonisten verbunden (Magdeburg 1965–68, Aktionskreis Halle, Evangelisch-Katholischer Briefkreis, Kooperation der Studentengemeinden, Jenaer Vorträge »Maßstäbe des Menschlichen«, Pädagogische Zukunftswerkstätten und Friedensgebete an vielen Orten in den 1980er Jahren). Nach Bucher ist der Gewinn souveräner Außenbeziehungen des einzelnen Christen Kennzeichen des Wandels des Katholizismus. Dazu trug die Elitebildung innerhalb des ostdeutschen Katholizismus in allen drei untersuchten Aspekten (Familie, Gemeinde, Priesterschaft) bei. Eine schlüssige Beschreibung des Katholizismus am Ende der DDR ist jedoch nicht ohne die Analyse der vielfältigen Außenbeziehungen zu bekommen. Das sagt schon die Selbstbezeichnung des ostdeutschen Katholizismus: »Diaspora«.