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Ausgabe:

April/1999

Spalte:

445–448

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Waltl, Manfred

Titel/Untertitel:

Eigennutz und Eigenwohl. Ein Beitrag zur Diskussion zwischen Soziobiologie und theologischer Ethik.

Verlag:

Frankfurt/M.: Lang 1997. 336 S. 8 = Forum interdisziplinäre Ethik, 18. Kart. DM 89,-. ISBN 3-3631-31388-8.

Rezensent:

Hubert Meisinger

Die Arbeit von Manfred Waltl, die als Inauguraldissertation im Sommersemester 1996 von der Katholisch-Theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München angenommen wurde, ist ein gelungener Beitrag zum Dialog zwischen Theologie und Naturwissenschaft. Er erfüllt die im Vorwort formulierte Aufgabe, daß sich "kritischer naturwissenschaftlicher Geist und christlicher Glaube nicht ausschließen müssen, sondern sich vielmehr gegenseitig herausfordern und befruchten können" (5). W. wählt dazu die Auseinandersetzung mit der Soziobiologie, die er von einem ethischen Standpunkt aus unvoreingenommen ernstnehmen und auf ihre Relevanz für die theologische Ethik untersuchen möchte. Damit begibt er sich bewußt auf umstrittenes Terrain: Sowohl innerhalb der Biologie wie im Dialog mit der theologischen Ethik wurde bzw. wird die Soziobiologie äußerst kritisch betrachtet. W. schließt sich dieser Tendenz nicht an - und er tut gut daran. Denn die Soziobiologie kann sehr wohl als ernstzunehmender naturwissenschaftlicher Beitrag zur Erforschung der biologischen Wurzeln des menschlichen Verhaltens angesehen werden, ohne gleich einem Ideologie-Verdacht ausgesetzt sein zu müssen, der jeglicher Diskussion im voraus den Boden entzieht.

Der charakteristische Leitgedanke seiner Arbeit, den W. in der Einleitung vorstellt, und gleichzeitig der Blickwinkel, unter dem der interdisziplinäre Dialog geführt wird, ist die "besondere Bedeutung des menschlichen Wohls für die theologische Ethik" (15). Genauerhin kennzeichnet er dieses Wohl als "solidarisches Eigenwohl", auf dessen Grundlage er für eine zu entfaltende, als Integrationswissenschaft verstandene Ethik plädiert. Als solche müsse sie "immer offen sein für Korrekturen und Ergänzungen, die sich aus weiteren Gesichtspunkten und der Einbeziehung anderer Fachbereiche ergeben" (40). W. versteht seine Arbeit präzisierend als "Beitrag zu einer strukturalen Ethik" (42), für die ihre ständige Verbesserung charakteristisch sei. (Selbst-)Bewußt bekennt er sich zu einem "christlichen Sinnhorizont" (45), von dem er den Dialog aus führt und der zur Entfaltung eines ethischen Anspruchs notwendig sei, da die biologische Natur des Menschen ambivalent sei und aus sich selbst heraus keinen ethischen Anspruch zu begründen vermöge.

Im ersten Kapitel geht es W. um "eine aus ethischer Sicht tragfähige Gesprächsbasis und um die Frage nach ihrer theologischen Verantwortbarkeit" (16). Nach differenzierten Überlegungen zur Geschichte und zur bleibenden Bedeutung des (vor allem thomistischen) Naturrechtsgedankens für den Normfindungsprozeß macht W. deutlich, daß gegenüber einem einseitig verstandenen Eigen- oder Gemeinwohl-Begriff und gegenüber der traditionellen Überbetonung des Gemeinwohls das solidarische Eigenwohl ein Strukturmerkmal christlicher Ethik darstellt, das auf dem Boden der biblischen Überlieferung stehe, wichtigen Anliegen der christlichen Tradition entspreche und sich in besonderer Weise für den konstruktiven Dialog mit der Soziobiologie eigne. Denn auch von ethologischer Seite habe ein Paradigmenwechsel stattgefunden. Während die "klassische Verhaltensforschung ganz im Sinne des Gemeinwohls von einer primär altruistischen Natur und vom Prinzip der Arterhaltung gesprochen [hat], so setzt die moderne Ethologie weit mehr beim Interesse des Einzelnen an" (112). Dieses von Soziobiologen sogenannte "Prinzip Eigennutz" sei jedoch mit dem ethischen "Prinzip Eigenwohl" nicht identisch, stelle aber einen Anknüpfungspunkt für einen Dialog dar.

Anschließend beschäftigt sich W. im zweiten Kapitel ausführlich mit dem soziobiologischen "Prinzip Eigennutz". Im Sinne einer genaueren Kenntnis des Gesprächspartners, die für W. konstitutiv zum Dialog zwischen verschiedenen Wissenschaften dazugehört, handelt es sich dabei vor allem um eine "Information" und eine "Einführung in wesentliche Inhalte und Denkweisen dieser Wissenschaftsdisziplin" (115). Nach einer Darstellung des Wandels, den die Ethologie von der klassischen Verhaltensforschung zur modernen Soziobiologie vollzogen hat und der vom Paradigmenwechsel von der Arterhaltung zum sogenannten "Prinzip Eigennutz" begleitet wird, führt W. mit Beispielen aus dem Tierreich in soziobiologische Denkweisen ein und macht den hohen Erklärungswert dieser Disziplin deutlich. Differenziert widerspricht er dabei auch immer wieder geäußerter Kritik an der Soziobiologie, die sich neben dem Sozialdarwinismusvorwurf u. a. auf die Vorwürfe des genetischen Determinismus und des normativen Biologismus konzentrieren. W. gelangt zu der Überzeugung, daß die "Soziobiologie den aktuellen Stand evolutionsbiologischer Forschung repräsentiert, insofern sich diese mit dem sozialen Verhalten der Lebewesen beschäftigt" (135). Im Sinne einer für das Tierreich belegten und nun auf den Menschen übertragenen Arbeitshypothese ist die soziobiologische Grundthese, daß Lebewesen danach streben, ihre Gene in die nächste Generation weiterzugeben und sich dementsprechend zu verhalten, W.s Ansicht nach relevant für die Betrachtung des menschlichen Sozialverhaltens und damit auch für eine theologische Ethik, da sie etwas zur "naturalen Dimension der menschlichen Wirklichkeit" (198) aussage. Dieses "Prinzip Eigennutz" bzw. dieser "Egoismus der Gene" sei jedoch kein bewußtes Streben. Es handele sich vielmehr um ein "in diesem Sinne zweckmäßiges Verhalten, das daraus resultiert, daß Lebewesen, die sich entsprechend verhalten, im Durchschnitt mehr Nachkommen besitzen als andere" (306). W. ist sich der immer wieder kritisierten Sprachproblematik bewußt und weist auf den Analogie-Charakter der verwendeten Begriffe (und Hypothesen) hin.

Konkret entfaltet er die Relevanz und den von ihm klar definierten Beitrag dieser soziobiologischen Erkenntnisse zu einer am Wohl des Menschen ausgerichteten Ethik in einem abschließenden dritten Kapitel anhand von sechs verschiedenen Gesichtspunkten, die er ausführlich erläutert und thesenartig folgendermaßen zusammenfaßt: "a) Die Soziobiologie verdeutlicht die Notwendigkeit einer bewußten Einsicht in oft unbewußt wirksame naturale Tendenzen. b) Die Soziobiologie liefert Einsichten in naturale Rahmenbedingungen menschlichen Könnens und in die Grenzen des ethisch Machbaren. c) Die Soziobiologie lenkt das Augenmerk auf die Stärken unserer naturalen Ausstattung, die von der Ethik positiv aufgegriffen werden können. d) Die Soziobiologie macht auf naturale Schwachstellen im Sozialgefüge aufmerksam und schärft den Blick für notwendige Normierungen. e) Soziobiologische Erkenntnisse und spieltheoretische Überlegungen erhellen die möglichen Folgen von bestimmten Handlungsweisen und Rahmenbedingungen. Sie legen damit Strategien nahe, wie ethisch Erwünschtes gefördert und praktisch verwirklicht werden kann. f) Die Soziobiologie zeigt die biologische Bedingtheit von Emotionen und gibt damit einer am Wohl ausgerichteten Ethik wertvolle Hinweise" (307). Immer wieder betont W. dabei ein ganzheitliches Verständnis des Menschen. Letztlich plädiert er für eine "Ethik des solidarischen Eigenwohls" (303), die sowohl die Liebe zu sich selbst als auch die Liebe zum Nächsten umfaßt. Er zeigt, daß diese Ethik von ihrem Ansatz her in der Lage ist, eine Beziehung zu den Erkenntnissen der Naturwissenschaften herzustellen, und daß es ihr gelingt, diese in einen christlichen Sinnhorizont zu integrieren und zur Humanisierung der naturalen Antriebe beizutragen. Eine solche christliche Ethik des solidarischen Eigenwohls kann nach W. einen wichtigen Beitrag dazu leisten, "Fortschritte zu machen auf dem Weg vom Eigennutz zu einem solidarischen Eigenwohl" - eine der entscheidenden Voraussetzungen dafür, "die gemeinsamen Herausforderungen in Gegenwart und Zukunft zu bestehen" (305).

Insgesamt ist W.s Arbeit ein sehr gut lesbarer, differenziert ausgearbeiteter und aufgrund der Entfaltung des Prinzips Eigenwohl eigenständiger Beitrag zur Diskussion zwischen Soziobiologie und theologischer Ethik, der unvoreingenommen Grundstrukturen und Zusammenhänge aufzeigt, ohne überall ins Detail zu gehen. Die Impulse durch seinen theologischen Lehrer Prof. Dr. Johannes Gründel sowie die Impulse seiner soziobiologischen Gesprächspartner Prof. Dr. Wolfgang Wickler und Frau Dr. Uta Seibt vom Max-Plank-Institut für Verhaltensphysiologie werden klar entfaltet.

Die damit verbundene weitgehende Zuspitzung auf die deutsche Soziobiologie-Diskussion vor allem auch im Bereich der Theologie ist jedoch ambivalent: Auf der einen Seite ermöglicht sie eine differenzierte und konzentrierte Auseinandersetzung mit diesem Ausschnitt der Soziobiologie-Diskussion, die in Deutschland gut nachzuvollziehen ist. Auf der anderen Seite läßt sie mögliche Impulse aus der ebenfalls differenziert geführten englischsprachigen Soziobiologie-Diskussion gerade auch im theologischen Bereich nicht zu Wort kommen. Unabhängig von dieser kritischen Bemerkung ist diese Arbeit ein Gewinn für eine konstruktive Beziehung zwischen Soziobiologie und theologischer Ethik.