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Ausgabe:

September/2007

Spalte:

952–954

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Perler, Dominik

Titel/Untertitel:

Zweifel und Gewissheit. Skeptische Debatten im Mittelalter.

Verlag:

Frankfurt a. M.: Klostermann 2006. XII, 443 S. gr.8° = Philosophische Abhandlungen, 92. Kart. EUR 29,00. ISBN 978-3-465-03496-4.

Rezensent:

Volker Leppin

Die einleitende Bemerkung, dass man mit einem Buch über Skeptizismus im Mittelalter ein »Minenfeld« betrete (VII), mag Nicht-Mediävisten überraschen. Doch tatsächlich wirken an vielen Stellen in der Forschungsgeschichte normative Vorgaben nach, auf Grund deren entweder Skeptizismus im späten Mittelalter festgestellt und verurteilt oder zur Verteidigung dieser geistesgeschichtlichen Phase bestritten wird. P. geht durchaus mit aktueller Absicht an die Texte des späten Mittelalters heran, aber er unterwirft sie nicht einem normativen Raster, sondern befragt sie nach ihren denkerischen Implikationen. Ausgehend von dem als Motto gewählten Satz Ludwig Wittgensteins, dass das »Spiel des Zweifelns selbst schon die Gewissheit« voraussetze, rekonstruiert er anhand von vier Debattenlagen aus der Zeit zwischen 1267/8 und 1377/8 die impliziten Voraussetzungen der jeweils Beteiligten.
Dabei geht es ihm nicht allein um skeptische Positionen, sondern er sucht nach skeptischen Fragen wie der, ob der Mensch etwas wissen könne – auch wenn diese Fragen im Einzelfall vielleicht gerade dazu gestellt wurden, um eine antiskeptische Position zu begründen. So erweitert er nicht nur sein Forschungsfeld, sondern auch gängige Formen der Rekonstruktion mittelalterlichen Denkens: Nicht der Beitrag zu einem bestimmten Lehrpunkt ist entscheidend, sondern das Abschreiten eines Problemhorizontes. Die Re­konstruktion der Debatten erfolgt bei P. um vier Problemkonstellationen: Zweifel am natürlichen Wissen, an der absoluten Gewissheit, an der intuitiven Erkenntnis und am demonstrativen Wissen. Diese Debatten rekonstruiert P. historisch – aber er nimmt in gewisser Weise auch selbst daran teil, doch so, dass er durch beharrliches Fragen die argumentativen Voraussetzungen der von ihm untersuchten Autoren herausarbeitet. So muss sich ein Heinrich von Gent immer wieder Bemerkungen mit einer Einleitung wie dieser gefallen lassen: »Natürlich könnte ein radikaler Skeptiker auch an diesem Punkt wieder einhaken und fragen« (47). Oder P. legt Prämissen offen, »die Aureoli stillschweigend voraussetzt« (241). Hinzu kommen Exkurse zu Forschungsdebatten und direkte Konfrontationen der Autoren miteinander. So werden die Debatten auch durchsichtig für gegenwärtige Fragen gemacht. Dass all dies in leichtfüßigem Stil erfolgt, macht die Lektüre nicht nur zu einem Gewinn, sondern auch zu einem Vergnügen.
Der erste Debattenkreis, die skeptische Frage nach dem natürlichen Wissen, stellt Heinrich von Gent (gest. 1293) und Duns Scotus (ca. 1265/6–1308) in den Mittelpunkt. Kaum merklich führt P. dabei in die bei Heinrich skeptisch befragte und bei Duns daraufhin weiterentwickelte species-Theorie des Aristotelismus im 13. Jh. ein, mit der Heinrich sich auseinandersetzt, um zentral seine Illuminationstheorie zu behandeln; im Einzelnen wird man hier fragen können, ob nicht, gerade um den Debattencharakter herauszustreichen, das Verhältnis zu Bonaventura an dieser Stelle einer genaueren Beleuchtung bedurft hätte. Zur Erläuterung greift P. hier wie auch sonst gelegentlich auf das Beispiel des Computers zurück: Die göttliche Illumination entspreche der Hilfe, die das Rechtschreibeprogramm im PC einem Menschen leistet, der »durch die zahlreichen Schreibvarianten, die im Zuge der Rechtschreibereform entstanden sind, etwas verunsichert« ist (81). Dieser gut zugängliche Zugriff droht allerdings auch zu Verkürzungen zu führen, wenn P. zu Recht ausführt, dass die göttliche Illumination ein allgemeines, nicht nur Privilegierten vorbehaltenes Phänomen ist, hieraus aber die Rede von einer »natürlichen Illumination« ableitet (83), die die von Heinrich hamartiologisch vorausgesetzte Gebrochenheit der menschlichen Existenz als ein wichtiges theologisches Movens für Skepsis in den Hintergrund treten lässt. Allerdings wird man zugestehen müssen, dass die von P. gebotene Deutung ihm in beeindruckender Weise die Erklärung erleichtert, warum der späte Heinrich nicht mehr Gebrauch von der Illuminationslehre machen musste (84 f.), die sich nach P.s Deutung ganz in einen natürlichen Vorgang hinein aufgelöst hat.
Einen weiten, von Thomas von Aquin (gest. 1274) bis Gregor von Rimini (ca. 1300–1358) reichenden Bogen schlägt das zweite Großkapitel. Bei der Frage nach der absoluten Gewissheit geht es um die mit unterschiedlicher Akzentuierung diskutierte Möglichkeit, dass der Mensch durch Dämonen oder gar Gott selbst getäuscht beziehungsweise belogen und ihm damit die Grundlage jeder Gewissheit entzogen werden könne. Thomas erscheint dabei in der Behandlung der Frage nach dem Einwirken von Dämonen in die Erkenntnis des Menschen als Vertreter eines »epistemologischen Optimismus« (132), der von einer Abgestimmtheit des menschlichen Erkenntnisapparates auf die Dinge außerhalb des Verstandes ausgeht und darum die Auseinandersetzung mit einem radikalen Skeptizismus weitgehend überflüssig macht. Indirekt wirft P. hier ein bezeichnendes Licht auf die Debatte um den Aristotelismus im ausgehenden 13. Jh. Einer der wichtigsten Kontrahenten des Thomas in diesen Debatten, der konsequente Aristoteliker Siger von Brabant (ca. 1240 – ca. 1284), teilt zwar die Ablehnung von Skepsis mit dem Aquinaten, setzt sich aber nun in bezeichnender Deutlichkeit 1272 tatsächlich mit einem radikalen Skeptizismus, nämlich der Annahme, dass alle wahrgenommenen Bilder bloß wie Träume seien, auseinander. Der so abgewiesene Skeptizismus ge­wann aber nun gerade in der Folge der Verurteilung des konsequenten Aristotelismus durch die ansteigenden potentia-absoluta-Spekulationen neue Nahrung. Durch die mit Petrus Johannis Olivi (ca. 1248–1296) beginnende Nachzeichnung dieser Linie, die in dem von Gregor von Rimini schließlich abgelehnten, aber ausführlich verhandelten Gedanken gipfelt, dass Gott möglicherweise den Menschen täuschen wolle, trägt P. den theologischen Be­gründun­gen angemessen Rechnung, vor deren Überbetonung zur Er­klä­rung von Skepsis er einleitend zu Recht gewarnt hat (11 f.).
Bei der sich um Wilhelm von Ockham kristallisierenden Dis­kussion um die intuitive Erkenntnis eines nicht-existierenden Gegenstandes reagiert P. im dritten Kapitel geschickt auf den Forschungsstrom, der herausgearbeitet hat, dass diese Lehre bei Ock­ham keineswegs eine Verunsicherung der Erkenntnis bedeutet, sondern der korrekten Erkenntnis von Nichtexistenz dienen soll, weist aber darauf hin, dass auf diese Weise angesichts der gewählten Konstruktion einer Erkenntnis eines nicht-existenten Gegenstandes skeptische Erwägungen nicht konsistent zu vermeiden sind. Deren Entfaltung zeichnet er wiederum in der gewohnten Präzision und unter Berücksichtigung zahlreicher weiterer Autoren– Aureoli (ca. 1280–1322), Chatton (ca. 1285–1344) und anderer – nach.
Das vierte Kapitel bringt neben Johannes Buridan (ca. 1304/5–1358) zum Abschluss eine Darstellung von Nikolaus von Autrecourt, dem wie keinem anderen im Mittelalter das Etikett des radikalen Skeptikers anhängt. Doch P. entgeht auch bei diesem Autor, dessen Briefe er schon vor beinahe 20 Jahren in Übersetzung vorgelegt hat, tradiertem Schubladendenken: Autrecourt ist bei ihm ein »epistemologischer Fundamentalist« (311), der freilich gerade we­gen der Forderung nach radikaler Evidenz für Erkenntnis zahlreiche Erkenntnisakte hinsichtlich ihrer Gewissheit in Zweifel ziehen muss.
Nicht nur hier bricht P. wohltuend feststehende Bilder auf. Sein Buch ist ein exzellentes Beispiel moderner Mediävistik und ein Beleg dafür, dass konsequentes historisches Fragen sich nicht von der Gegenwart abkehrt, sondern ihr neue Horizonte eröffnet. Auch eine skeptische Lektüre dürfte mit der Gewissheit enden, dass hier einer der gewichtigsten und anregendsten jüngeren Beiträge zur mittelalterlichen Geistesgeschichte vorliegt.