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Ausgabe:

September/2007

Spalte:

949–952

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Flasch, Kurt

Titel/Untertitel:

Theorie der Philosophiehistorie.

Verlag:

Frankfurt a. M.: Klostermann 2005. 455 S. 8° = Philosophie hat Geschichte, 2. Lw. EUR 49,00. ISBN 3-465-03431-7.

Rezensent:

Karl-Hermann Kandler

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Flasch, Kurt: Historische Philosophie. Beschreibung einer Denkart. Frankfurt a. M.: Klostermann 2003. 374 S. m. 1 Abb. gr.8° = Philosophie hat Geschichte, 1. Lw. EUR 49,00. ISBN 3-465-03267-5.


Mit diesen beiden Büchern beschreibt F. »eine Denkart – man könnte sie ›historische Philosophie‹ nennen« —, die er in einer Fülle von Beiträgen, nur zum Teil bisher veröffentlicht, entwickelt hat. Er bezeichnet sich selbst als »Historiker des Denkens«. In ungewöhnlich persönlich gehaltener Weise stellt er seine Arbeitsweise vor und will sie gegen Missverständnisse klarstellen (I, 7 f.). Diese hat er mehrfach geradezu provoziert.
Die Beiträge, die F. in jeweils vier Teile ordnet, sind doch recht disparaten Themen gewidmet. Eine systematische Darstellung er­gibt sich daraus nicht. Grundsätzliche Beiträge (wie »Über Cusanus schreiben«; I, 81–126; »›Mittelalter‹, ›Renaissance‹, ›Reformation‹«; I, 231–254; »Wozu erforschen wir die Philosophie des Mit­telalters«; II, 319–338) stehen neben Nachrufen oder Laudationes; Beiträge zur Philosophie des Mittelalters neben solchen zur Ge­schichte des 20. Jh.s (z. B. »Geistige Mobilmachung 1914 und heute«; I, 299–318). Genauere bibliographische Angaben fehlen in Bd. 1. Scharf in seiner Kritik, vor allem an Denkern wie Thomas von Aquin oder Bonaventura, aber auch an einigen seiner Rezensenten aus dem Kreis römisch-katholischer Theologen, ist er ebenso bereit, aus Rezensionen zu lernen und seine Ausführungen zu präzisieren.
Aus der Fülle von 38 Beiträgen können nur wenige angesprochen werden. In »Wozu intellectual history?« bekennt er: »Ich studiere die mittelalterliche Philosophie, um mir einen differenzierten Begriff zu verschaffen, was theoretisches Denken in einer geschichtlichen Welt vermag« und wie es ihr gegenübersteht (I, 78 f.). In »Cusanus schreiben« erläutert F. sein lebenslanges Nachdenken über diesen großen Denker des Spätmittelalters. Im Zentrum sieht er die »Koinzidenz der Gegensätze«, die »traditionsbetonte … Theologen und neuscholastische Philosophen« abgeschwächt hätten. Während eine Reihe von Cusanus-Forschern in den Mittelpunkt sein Werk De docta ignorantia stellten, findet F. mehr bei ihm, nämlich wie er »sich denkend bewegt, also gerade nicht auf einem Standpunkt stehengeblieben ist«. In seinem Denken nehme die Menschheit »heiter Abschied vom Denken der Scholastik« (I, 83 ff.). Im Gegensatz zur üblichen Wertung der cusanischen Schriften will F. in De coniecturis dessen Schlüsseltext erkennen. Nur: Nikolaus von Kues hat in De docta ignorantia schon auf De coniecturis hingewiesen als seinen ganz eigenen Versuch, über menschliches Erkennen nachzudenken, kommt aber später darauf nicht zurück. Während De docta ignorantia ein bewusst theologisches Werk sein will und auch ist (Nikolaus von Kues spricht von »in rebus divinis talem qualem ratiocinandi modum«), ist De coniecturis ein philosophisches, das (fast) ohne Zitate von Autoritäten auskommt. Beide Werke ergänzen sich, nur führt F. seine durchgehend kritische Haltung allem Theologischen gegenüber (er spricht von »Re-Scholastizierung«; I, 95) dazu, das theologische Denken, sicher ein philosophisch reflektiertes theologisches Denken, bei Ni­kolaus von Kues nicht ernst zu nehmen, auch wenn er anderswo betont, sein »Projekt beruht auf der Untrennbarkeit von Philosophie, Theologie und Naturwissen der älteren Zeit« (I, 213), doch spürt man davon zu wenig.
F. polemisiert gern, so auch gegen die Verwendung von eingeschliffenen Termini. Er möchte am liebsten »die Epochenvorstellung … der verdienten Ächtung zuführen«, denn sie habe »die Forschung behindert«. Oder er wendet sich heftig dagegen, alles mittelalterliche Denken allegorisch zu deuten. Ja, er wendet sich dagegen, die »Geschichte des menschlichen Denkens unter der Leitidee der ›Entwicklung‹« zu betrachten, wenn auch der Begriff »als heuristische Idee unentbehrlich« sei. Und besonders haben es ihm die Termini Scholastik und Mystik angetan; sie als Etiketten zu verwenden, vermeide er (I, 145.170.148 ff.189 ff.199). Wichtig ist ihm für das Studium der mittelalterlichen Philosophie vor allem der Rückgriff auf antikes Denken. Er verfolgt logisches Denken »von Berengar bis Cusanus« (I, 212). Auf die Zäsur, die F. in seinem großen Cusanus-Buch mit dem Jahr 1450 setzt, kommt er nicht zu sprechen. Dass Nikolaus von Kues seitdem das »südliche Licht« geleuchtet habe und erst jetzt ihm alles »licht« wurde, wie er in seinem Buch behauptet, ist so nicht haltbar, denn die Jahre in Brixen (1451–1458) waren sicher seine dunkelsten, hat er doch in den Auseinandersetzungen mit Herzog Siegmund und Äbtissin Verena von Stuben um sein Leben gebangt.
Wenn F. auch bei Thomas von Aquin »sein eminentes didaktisches Geschick« hervorhebt, wirft er ihm und anderen vor, »den Glauben als Unterwerfung unter faktisch-autoritativ Verbürgtes« zu deuten. Dessen Harmonisierung habe der späteren Generation nicht gereicht, »sie sah die ungeheuren Schwierigkeiten der spätantik-philosophischen Glaubensformeln; sie fand die Frage der Zuordnung von Vernunft und Glauben, von Philosophie und Theologie keineswegs befriedigend gelöst. Sie ersann scharfsinnig immer neue Lösungsvorschläge«. Aber genau diese brachten die ›Scholastik‹ zunehmend in Verruf, die Wissenschaft isolierte sich immer mehr vom alltäglichen Leben. Es gelang ihr keine »befriedigende Harmonisierung von Glauben und Wissen« (I, 235.246). In diesem Zusammenhang kommt F. auch – wie so oft – auf Augustin zu sprechen, ohne ihn aber als konsequenten Ausleger der paulinischen Theologie zu begreifen. Zur Reformation, von der F. sonst wenig spricht, meint er, der Versuch, sie von Luthers Theologie her anzugehen, sei »zu redimensionieren« (I, 254). Wenn F. sagt, der Glaube sei bei Nikolaus von Kues ethische Direktive und Vergewisserung (I, 266), so ist darauf hinzuweisen, dass Cusanus mehrfach, besonders aber in der Reformatio generalis, betont, allein der Glaube mache selig (»Keiner ist gerechtfertigt, außer er [d. h. Christus – K.] hat ihn gerechtfertigt im Verdienste seines Todes«). Die Betonung der Rechtfertigung durchzieht die ganze Zeit seines Wirkens und kommt vor allem in seinen Predigten immer wieder zum Ausdruck, wenn auch noch in spätmittelalterlicher Diktion.
Das Rundschreiben »Fides et ratio« von Papst Johannes Paul II. unterzieht F., wie zu erwarten, einer scharfen und scharfsinnigen Kritik. Aus ihm spreche »offen und klar der Wille zur Restauration«, es sei ein »eindrucksvolles Monument vorhersagbarer Vergeblichkeit« (I, 320.324).
Im zweiten Band will F. die Begründung für seine »Historische Philosophie« geben. Völlig zu Recht betont er, »historisches Philosophieren läßt sich nicht als dogmatisches System vorstellen«; ihm geht es um »Fruchtbarkeit im Detail« (II, 61). Immer wieder weist er den Philosophierenden an die Texte, um deren Unübersetzbarkeit in vielen Fragen er weiß (II, 38). Der Philosoph darf aber nicht denken, Philosophiehistorie sei die eigentliche Philosophie. Das sei sie gewiss nicht (II, 91). An anderer Stelle heißt es aber: »Die Beschäftigung mit den Denkern der Vergangenheit beginnt philosophisch zu werden« (II, 318).
Interessant ist auch der Beitrag »Hierarchie und Enthierarchisierung im Denken des 13. Jahrhunderts« (II, 136–160), in dem F. vom Hierarchiebegriff ausgeht, wie ihn (Ps.-)Dionysius Areopagita geprägt hat. Thomas wirft er vor, wie er die Sklaverei und die Unterordnung der Frau unter den Mann begründet: »Das Vernunftprimat ist der Primat des Sklavenhalters und des Mannes.« Während Thomas die Hierarchisierung mit Hilfe des Naturbegriffs stützt, begründen umgekehrt Duns Scotus oder Marsilius von Padua damit die Enthierarchisierung. Eckhart geht so weit, die Schöpfung der Frau aus der Rippe des Mannes damit zu begründen, »daz si glich waere«, ebenso behauptet er die Gleichheit der menschlichen Seele mit Gott. Insgesamt wendet sich F. dagegen, »das mittelalterliche Denken insgesamt ›hierarchisch‹ zu nennen« (II, 152 ff.). Dem Rezensenten fehlt bei dieser Darstellung eine Parallelisierung mit dem ordo-Begriff.
F. bekennt, er erforsche »die mittelalterliche Philosophie, um die mittelalterliche Welt komplexer … erfassen zu können« (II, 331). Dazu gehört, was er auf die Frage »Welche Rationalität fordert der Philosoph von der Theologie« (II, 382–400) antwortet: »Ich verstehe … Philosophie … als die historische Erforschung der Entstehungs- und Geltungsbedingungen von Rationalitäten« (383). Was er bei der Theologie – er hat ausschließlich die römisch-katholische im Blick – einfordert, kann nicht mit wenigen Worten besprochen und beantwortet werden.
Zum Schluss darf der Rezensent auch persönlich sprechen, wie es der Autor tut. Ich habe viel von F. gelernt, sicher mehr, als von jedem anderen Philosophiehistoriker des Mittelalters. Vor allem seine Entdeckung der Gedankenwelt des Dietrich von Freiberg, deren er sich mit Recht rühmt (I, 16), hat mich beeindruckt und zu eigenen Arbeiten angeregt. Aber es gibt auch Gebiete, in denen ich F. nicht zu folgen vermag. Seine Cusanus-Interpretation empfinde ich als zu einseitig, begreife ich doch Nikolaus von Kues vor allem als Theologen, freilich als philosophisch reflektierenden Theologen. Seine Predigten und einige seiner Schriften (u. a. De docta ignorantia III, De visione Dei, Idiota de sapientia) belegen das m. E. eindeutig. Letztlich sind es die andauernden Invektiven gegen die Theologie, die sich störend bei der Rezeption der Gedanken von F. auswirken. Dabei denke ich auch an seine Augustin-Deutung. Ich fühle mich manchmal an die atheistische Philosophiegeschichte von Marxisten (H. Ley, M. Buhr) erinnert, was F. sicher nicht will. Doch bleibt es dabei: Man kann von F. viel lernen.