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Ausgabe:

September/2007

Spalte:

938–940

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Noël, Filip

Titel/Untertitel:

The Travel Narrative in the Gospel of Luke. Interpretation of Lk 9,51–19,28.

Verlag:

Brussel: Wetenschappelijk Comité voor Godsdienstgeschiedenis, Koninklijke Vlaamse Academie van België voor Wetenschappen en Kunsten 2004. XII, 483 S. gr.8° = Collectanea Biblica et Religiosa Antiqua, 5. Kart. EUR 45,15. ISBN 90-6569-909-0.

Rezensent:

Christfried Böttrich

Nachdem Ph. Noël 1994 eine Untersuchung zur großen lukanischen Auslassung (Mk 6,45–82 zwischen Lk 9,17/18) vorgelegt hatte, lässt er mit dieser Arbeit nun eine weitere ausführliche Studie, diesmal zur großen lukanischen Einschaltung folgen – die freilich über die Grenzen dieses Abschnittes (9,51–18,14) schon hinausführt und damit von der Frage nach den Quellen zu einer Analyse der lukanischen Komposition im Ganzen übergeht. Mit seiner Untersuchung tritt N. in die Debatte der letzten Jahrzehnte um den sog. »Reisebericht« bzw. die »central section« des Lukasevangeliums ein, die längst schon zum Schlüssel für das Verständnis des ganzen Werkes bzw. zum Ausweis für die exegetische Position seiner Kommentatoren geworden ist.
Wenn Lukas in seinem Vorwort programmatisch bemerkt, er habe alles »der Reihe nach« aufgeschrieben, so macht sich die ordnende Hand – von einigen markanten Umstellungen im Galiläateil abgesehen – besonders in dieser Phase des Weges bemerkbar: Frei von den Vorgaben des Markusstoffes eröffnet sich dem Autor ein Gestaltungsspielraum, den er für die Ausprägung seiner litera­rischen und theologischen Absicht nutzt. Hier ist der Pulsschlag der lukanischen Theologie besonders deutlich zu verspüren. In den Episoden der Wanderung zwischen beiden großen Eckpunkten (den Grundlegungen in Galiläa und den Polarisierungen in Jerusalem) bringt Lukas in offensichtlich wohlkalkulierter Verflechtung Situationen zur Darstellung, die von Entscheidungen handeln und die für die Gemeinde seiner Zeit von besonderer Re­ levanz gewesen sein dürften. Damit ist aber auch zugleich das Hauptproblem an­gezeigt: Nach welchem Prinzip fügt Lukas die Episoden des Weges zusammen? Von welcher Intention lässt sich seine ordnende Hand leiten? Welches der vielfältigen Motive trägt den Ton? Gibt es so etwas wie einen Tenor oder einen roten Faden für diesen Abschnitt? Von der Antwort hängt dann auch die Beurteilung des theologischen Profils im Ganzen ab – wenn man denn den Autor und Theo­logen Lukas hier in besonders authentischer Weise am Werk sieht.
Entsprechend vielfältig stellen sich auch die Vorschläge dar, die zur Interpretation des »Reiseberichtes« bzw. der »central section« gemacht worden sind. Nirgends ist das Spektrum der Hypothesen so breit und so kontrovers wie im Blick auf diese zehn Kapitel! Und selten hat sich die Exegese an einer Texteinheit mit einem so beeindruckenden Maß an Kreativität erprobt! Dennoch ist das Ergebnis ernüchternd: Gerade da, wo Lukas am deutlichsten selbst gestaltet und Profil zeigt, scheint er am wenigsten greifbar zu sein. Seine »central section« erweist sich je länger je mehr als Experimen­tierfeld einer hypothesenfreudigen Zunft, die dort auch reichlich Anhaltspunkte aller Art findet. Von dem Nachweis einer verifizier­baren Reiseroute über intertextuelle und symbolische Deutungsmuster bis hin zur Auflösung der Einheit »Reiseweg« in neue li­terarische Einheiten reichen die Vorschläge. Dabei kann man sich des Eindruckes nicht erwehren, dass ein gewisser Originalitätsdruck das Bemühen um ein integratives Modell, das die vielfältig guten Einzelbeobachtungen verbinden könnte, dominiert. Auch N. vermag eine solche Integration nicht zu leisten, lässt jedoch die Sensibilität für eine Vielfalt an Aspekten deutlicher als andere Untersuchungen erkennen. Deshalb nimmt auch die Auseinandersetzung mit den verschiedenen Hypothesen und Deutungsmodellen in seiner Arbeit etwa die Hälfte des Raumes ein. Der Reiseweg Jesu gerät unversehens zu einer Rundreise durch eine weitläufige Forschungslandschaft.
Dass N. dabei an der Existenz einer als »travel narrative« be­stimmbaren Einheit festhält, macht schon der Titel deutlich, der den Gegenstand des Interesses zugleich mit der Begrenzung auf Lk 9,51–19,28 angibt. Zunächst aber unternimmt es N., die Debatte um diesen Textabschnitt noch einmal ausführlich darzustellen (I–V). Sodann begründet er seine eigene Abgrenzung hinsichtlich des Anfangs (VI) und Endes (VII). Inwiefern innerhalb dieses Rahmens auch markinisches Material Platz findet, begründet er schließlich anhand des Doppelgebotes der Gottes- und Nächstenliebe Lk 10,25–28 (VIII). Durch eine umfangreiche Bibliographie sowie zwei Indizes (Autoren, Bibelstellen) wird die Untersuchung abgeschlossen.
Ähnlich wie viele Autoren vor ihm (deren keiner sich der langen Forschungsgeschichte zur »central section« entziehen konnte) gliedert N. die zahlreichen Interpretationen in verschiedene Gruppen. Dabei geht er nicht chronologisch vor, sondern fragt nach den jeweiligen methodischen Grundmustern. Am Anfang steht die Darstellung redaktionskritischer und erzählanalytischer Ansätze (I). Entweder werden dabei die christologischen Züge der Erzählung herausgestellt oder die Diskurse und Instruktionen in ihrer paränetischen Funktion betont. Andere Ausleger spüren den ekklesiologischen Bezügen nach oder beschreiben die erzählerische Dy­namik einer Einheit, die mehr ist als eine Aneinanderreihung disparater Wortüberlieferung. Eine zweite Gruppe bilden jene In­terpretationen, die von einer Strukturanalyse der Einheit ausgehen (II). Im Mittelpunkt steht dabei die Beobachtung chiastischer bzw. konzentrischer Strukturen, ohne dass jedoch Einigkeit über deren Ansetzung bestünde. An der Frage nach dem Zentrum solcher bewusst strukturierter Einheiten sowie nach der wechselseitigen Interpretation jener Partien, die einander entsprechen, bemisst sich dann auch die theologische Intention. Doch hier neigt der Scharfsinn wohl häufig zu Überinterpretationen, die sich den ursprünglichen Hörerinnen und Hörern wohl kaum erschlossen haben dürften. Die dritte Gruppe, in der intertextuelle Bezüge eine Rolle spielen, erscheint als die umfangreichste (III). Den entscheidenden Impuls vermittelte hier die Untersuchung von C. F. Evans (1955), der im lukanischen Reisebericht eine Art christliches Deuteronomium sah und diese Hypothese durch den Nachweis konkreter Textbezüge zu untermauern versuchte. Auf gleicher Ebene liegen neben weiteren Variationen der »Deuteronomiums-Hypothese« auch jene Versuche, die den »Reisebericht« als Testament Jesu verstehen, in Beziehung zur Wanderschaft durch die Wüste setzen, mit der Landnahmetradition in Verbindung bringen, Jesaja als maßgeblichen Bezugstext ausmachen oder das Exodusmotiv im Hintergrund des Weges Jesu nach Jerusalem sehen. Erst die vierte Gruppe greift jenes Verständnis auf, das am Anfang der Forschungsgeschichte stand und in jüngster Zeit wieder zu neuem Leben erwacht ist – nämlich das der biographisch-historischen Nachzeichnung eines nachvollziehbaren Reiseweges (IV). In diesem Kapitel, das fast ausschließlich der Auseinandersetzung mit A. D. Baum gewidmet ist, stellt sich die Frage nach dem Selbstverständnis des Lukas als eines hellenistischen Historikers auf grundsätzliche Weise. Das letzte Kapitel der forschungsgeschichtlichen Bestandsaufnahme (V), unter die Überschrift »Evaluation and Pros­pect« gestellt, referiert hauptsächlich die Arbeit R. von Bendemanns (2000), der die Existenz eines »Reiseberichtes« wie einer »central section« überhaupt in Frage stellt und eine Neustrukturierung der narrativen Logik jener Großsektion einschließlich der Auflösung des bislang unbestrittenen Anfangssignales in 9,51 zu be­gründen versucht. Aus den kritischen Anfragen an von Bendemann erwächst dann in den folgenden Kapiteln die eigene Position N.s.
Unter der Voraussetzung, dass ein zielorientierter Weg Jesu nach Jerusalem dem Konzept der lukanischen Erzählung entspricht (andernfalls müsse man so blind für alle Signale sein wie jener Mann in Lk 18,35–43), untersucht N. noch einmal den Anfang in 9,51 (VI). Nachdem er die Septuagintismen des Verses beschrieben und seine strukturelle und narrative Funktion thematisiert hat, kommt er zu dem Ergebnis: »Lk 9,51 is meant to be a christological verse which functions as a kind of title for the travel narrative …« (247). Von dieser »Titelangabe« aus weitet sich bereits der Blick bis zum Schluss des Evangeliums und darüber hinaus bis zum Beginn der Apg. Schwieriger ist das Ende der »Reiseerzählung« zu bestimmen (VII). Hier werden noch einmal sämtliche Vorschläge (18,30.34; 19,10; 19,44.46. 48; 21,38) präsentiert und abgewogen, um schließlich das Ende bei Lk 19,28 (mit der Parabel von den anvertrauten Talenten) zu verteidigen. Die Einzugsgeschichte (19,29–40) betrachtet N. schon als integralen Bestandteil des Jerusalemabschnittes. Trotz einer Fülle von Argumenten, die die Abgrenzung nach vorn und nach hinten begründen, bleiben Fragen bestehen. Doch das liegt wohl weniger an der Analyse (welches Auslegers auch immer) als an der Eigenart lukanischer Erzähltechnik, die einen sehr viel größeren Wert auf fließende Übergänge als auf scharfe Schnitte legt.
Den Abschluss bildet – gleichsam als Testfall – eine detaillierte Analyse von Lk 10,25–28 (Doppelgebot). Anhand dieser Perikope lässt sich die synoptische Frage gleichsam noch einmal in nuce studieren – was N. auf anschauliche Weise und unter Musterung aller denkbaren Konstellationen vorführt. Am Ende bleibt es bei der Feststellung, dass Lukas den Markustext redaktionell bearbeitet hat.
Im Ergebnis der Untersuchung hält N. fest, was angesichts der längst uferlos gewordenen Diskussion als konsensfähig gelten kann. Vor allem ist das die schlichte Feststellung: Es gibt eine »Reiseerzählung«! Lukas hat das Motiv des Weges bei Markus vorgefunden, ausgebaut, durch Reiseformeln strukturiert und mit Material gefüllt, das den Weg Jesu in Beziehung zu der Lebensgestaltung seiner Gemeinde setzt. Das klingt wenig spektakulär und sieht eher nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner aus. Allerdings hat N. durch die auf breiter Basis aufgearbeitete Forschungslage sowohl das Problembewusstsein von Neuem geschärft als auch die möglichen Lösungen noch einmal insoweit vorsortiert, dass die eigenständige Positionierung seines Zielpublikums unter erleichterten Bedingungen erfolgen kann.
Ein letztes Wort wird zu dem lukanischen »Mittelteil« der öf­fentlichen Wirksamkeit Jesu wohl nie gesprochen werden. Die klare und transparente Darstellung der Diskussion, wie sie mit dieser Arbeit vorliegt, wird jedoch in Zukunft viele vorletzte Worte überflüssig machen.