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Ausgabe:

September/2007

Spalte:

933–935

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Harris, Murray J.

Titel/Untertitel:

The Second Epistle to the Corinthians. A Commentary on the Greek Text.

Verlag:

Grand Rapids-Cambridge: Eerdmans; Milton Keynes: Paternoster 2005. CXXVIII, 989 S. gr.8° = The New International Greek Testament Commentary. Lw. US$ 75,00. ISBN 0-8028-2393-3 (Eerdmans); 0-85364-580-9 (Paternoster).

Rezensent:

Florian Wilk

H., emeritierter Professor für Exegese und Theologie des Neuen Testaments an der Trinity Evangelical Divinity School, Deerfield (Illinois), präsentiert mit diesem Buch die Summe seiner jahrzehntelangen Erforschung des 2Kor, wie sie u. a. in seiner Dissertation über 5,1–10 (1970), seinem 108-seitigen Beitrag zu »The Expositor’s Bible Commentary« (Band 10, 1976) und seinem Artikel für das »New Dictionary of Biblical Theology« (2000) dokumentiert ist.
Auf Vorbemerkungen, Abkürzungs- und Literaturverzeichnis (mit rund 1500 Titeln) folgt die Einleitung (1–125), in der H. literar(krit)ische und historische Fragen, die der 2Kor aufwirft, ausführlich erörtert, kurz diverse Gliederungsmodelle überschaut und die Theologie des Briefs skizziert. Der eigentliche Kommentar (127–942) orientiert sich an den drei – nach inhaltlichen Aspekten abgegrenzten – Teilen 2Kor 1–7; 8–9; 10–13 und mündet in eine erweiterte Paraphrase dieses Textes (943–962). Am Ende stehen Sach-, Autoren- und Stichwortregister.
Dem Ziel der Reihe NIGTC gemäß »to cater particularly to the needs of students of the Greek text« (XII) widmet H. den gram­matisch-syntaktischen und textkritischen Problemen besondere Aufmerksamkeit – mit dem Ziel, das theologische Verständnis des Textes in seinem geschichtlichen Kontext zu befördern: »at root Chris­tian theology is grammar applied to the biblical text« (XIV). Dementsprechend erfolgt die Kommentierung der zwei bis elf Verse umfassenden Sinneinheiten nach folgendem Muster: Überschrift – Einleitung zur Eigenart des Abschnitts (mit Bemerkungen zu Hintergrund, Inhalt, Struktur, Sprachgebrauch oder Kontext) – Übersetzung (in der Tradition englischer Übersetzungen des Neuen Testaments) – textkritische Notizen – Wiedergabe und Auslegung des griechischen Textes, gegliedert nach Versen, Phrasen und (z. T.) Begriffen – Zusammenfassung – Bibliographie. Bisweilen sind Erläuterungen zu größeren Textpassagen eingeschaltet, die teils bis zu einer halben Seite (so zu 2Kor 1,12–2,13; 2,14–7,4; 8,1–15; 8,16–9,5; 9,6–15; 10,1–18; 12,14–13,10), teils zwei bis vier Seiten um­fassen (so zu 7,5–16; 8–9; 10–13).
H. präsentiert den 2Kor in Abwehr aller Teilungs- und Ergänzungshypothesen als einheitlichen, sukzessiv verfassten Brief.
Die Darstellung des Aposteldienstes 2,14–7,4 bilde eine ›große Digression‹ (240), die Paulus in den Reisebericht 2,12 f.; 7,5 ff. integriert (der Dank 2,14 sei durch die Erinnerung an den Erfolg des Titus in Korinth veranlasst, die der Name ›Makedonien‹ [2,13] auslöse; 7,4 gebe das Thema für 7,5–16 vor) und als Zentrum der Verteidigung seines Dienstes 1–7 konzipiert habe. Die ›ethische Homilie‹ (15) 6,14–7,1 sei als ›kleine Digression‹ (492) in den Schlussteil der Darstellung eingebunden, um die Korinther zur völligen Trennung vom ›Heidentum‹ als der Bedingung ihrer Aussöhnung mit ihm anzuhalten. Die Kapitel 8 und 9 bildeten einen kohärenten Appell zur Vollendung der Kollekte für Jerusalem, der sich organisch an die Vertrauensäußerung 7,16 anfüge. Mit Kapitel 10–13 reagiere Paulus dann auf neue Nachrichten über einen gewachsenen Anti-Paulinismus in Korinth (verursacht durch jüdische ›Pseudo-Apostel‹ [11,13] aus Judäa, die sich als Christen ausgaben, auf die Jerusalemer ›Über-Apostel‹ [11,5; 12,11] beriefen und mit den Proto-Gnostikern in der Gemeinde verbündeten), wobei er mehrfach Aussagen aus 1–9 aufgreife.
Insgesamt stelle das Schreiben eine Apologie des paulinischen Apos­tolats dar, die einen erfreulichen und erfolgreichen Verlauf des angekündigten Besuchs in Korinth gewährleisten solle.
Den besonderen Umständen seiner Abfassung gemäß entfalte der 2Kor die paulinische Theologie mit spezifischen Akzenten.
Im Zentrum stehe das Rettungshandeln Gottes durch Christus, dessen Tod Menschen den Weg bahne, durch Bekehrung mit Gott versöhnt zu werden und im neuen Bund ein gottgefälliges Leben zu führen. Dem Apostel obliege deshalb die Predigt der Versöhnungsbotschaft ebenso wie die Anleitung zur Kirchenzucht; dabei habe er zugleich an der ›Schwachheit‹ des Todes und an der Kraft des Auferstehungslebens Christi teil. So wie Paulus sich durch Anpassungsfähigkeit, Eifersucht, Hingabe, Zuneigung und Fürsorge als geistlicher Vater der Korinther erweise, so sollten sie ihr Leben in Heiligkeit vor den Ungläubigen, in geduldigem Leiden mit Paulus, im willigen Dienst für die Armen, im Widerstand gegen das Wirken Satans und in getroster Erwartung des Todes als des Übergangs in die Gegenwart des Herrn führen.
Einen speziellen Akzent setzt H. mit dem (einzigen!) Exkurs zum ›persönlichen Hintergrund‹ des 2Kor (164–182): Die akute Todesgefahr, in die Paulus nach 1,8–11 in Asia – wohl infolge des dritten Anfalls seiner Krankheit (vgl. 12,7 f.; Gal 4,13) – geraten sei, habe sein Todesverständnis vertieft und seine Zuversicht, bei der Parusie am Leben zu sein, erschüttert. Demgemäß werden – neben 1,1 f.; 3,12–18; 5,16–6,2; 6,14–7,1; 13,11 ff. – die Texte 5,1–10 und 12,1–10 be­sonders ausführlich erläutert.
Der Kommentar beeindruckt durch seine gründliche Reflexion des griechischen Wortlauts, dessen grammatische und semantische Nuancen H. in Übersetzung und Auslegung zur Geltung bringt; dabei wertet er vor allem Parallelen im Corpus Paulinum und Bezüge auf die Septuaginta aus. Ferner fällt er (fast) alle exegetischen Urteile auf der Basis einer umfassenden Darstellung und sorgfältigen Bewertung der jeweiligen Forschungslage und hebt Wahrscheinliches zuallermeist klar von Möglichem ab.
H. präsentiert eine in sich schlüssige Interpretation des Briefs, die aber gerade als solche kritische Rückfragen provoziert: Eignen sich die Berichte der Apg ohne Weiteres als Rahmen für die Deutung des 2Kor? Ist es sachgemäß, die Selbstdarstellung des Apostels weitgehend als paradigmatisch für alle Christen aufzufassen (vgl. 175 [zu 5,1–10], 459 [zu 5,18 f.] etc.), seine Aussagen auf die einzelnen Gläubigen (und ihre Gemeinschaft) statt auf die Gemeinde (und ihre Glieder) zu beziehen (vgl. 261 f. [zu 3,2], 432 ff. [zu 5,17] etc.) und die Bekehrung des Individuums zum zentralen Ziel seiner Botschaft zu erklären (vgl. 335 ff. [zu 4,6], 447 ff. [zu 5,20], 461 f. [zu 6,2])? Die besondere Beziehung, die dem 2Kor zufolge zwischen dem von Gott berufenen Apostel und der von diesem gegründeten und umsorgten Gemeinde besteht, wird in der Auslegung von H. wohl nicht ausreichend gewürdigt.
Eine eingehendere Reflexion über jene Beziehung hätte auch den Ausführungen zur thematischen Kohärenz und literarischen Integrität des Briefs mehr Überzeugungskraft verliehen. Sie leiden zudem daran, dass die (an sich plausible) Annahme einer sukzessiven Abfassung die Vorausverweise auf Kapitel 10–13 in 1,12 ff.; 2,17–3,1; 5,12 f.; 7,2 u. ö. außer Acht lässt und dass formale Textmerkmale bei der Gliederung nur bedingt berücksichtigt werden.
Zu kurz kommen in diesem Buch angesichts seiner Zielsetzung die Resultate deutschsprachiger Forschungsbeiträge (etwa zu den Themen »Versöhnung« und »Schriftgebrauch«), die Frage nach der Textpragmatik (z. B. bei 3,4–18 und 11,1–12,13) sowie die sprachlichen und sachlichen Zusammenhänge zwischen dem paulinischen Brief und jüdischen Texten aus hellenistisch-römischer Zeit (bei 5,17; 6,16 u. v. ö.).
Wer sich über die skizzierte Eigenart und die genannten Grenzen des Kommentars von H. im Klaren ist, wird ihn bei der Exegese des 2Kor mit großem Gewinn nutzen.