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Ausgabe:

September/2007

Spalte:

932 f

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Allison Jr., Dale C.

Titel/Untertitel:

Studies in Matthew. Interpretation Past and Present.

Verlag:

Grand Rapids: Baker Academic 2005. 282 S. gr.8°. Geb. US$ 34,99. ISBN 0-8010-2791-8.

Rezensent:

Ulrich Luz

Unter diesem, von B. W. Bacon inspirierten Titel legt Dale C. Allison, Neutestamentler am Pittsburgh Theological Seminary und zusammen mit W. D. Davies Autor des großen dreibändigen Matthäus­kommentars im »International Critical Commentary«, einen Aufsatzband zum Matthäusevangelium vor. Das weckt hohe Er­war­tungen, denn A. ist mittlerweile einer der besten amerikanischen Exegeten der mittleren Generation. Wie es sich für einen matthäischen Schriftgelehrten ziemt, legt A. aus seinem Schatz Altes und Neues vor. Anders als bei manchen anderen Schriftgelehrten überwiegt bei A. das Neue: Alle sechs Aufsätze des ersten Teils, der mit »The Exegetical Past« überschrieben ist, sind Erstveröffentlichungen. Unter den Aufsätzen des zweiten Teils, mit dem Titel »Literary and Historical Studies«, sind einige überarbeitete Fassungen früherer Aufsätze; andere sind ebenfalls Erstveröffentlichungen.
Die sechs Aufsätze des ersten Teils beschäftigen sich mit der Auslegungs- und Wirkungsgeschichte des Matthäusevangeliums. Die Fülle des Materials, das A. in seinen Fallstudien aus allen Epochen, die Neuzeit eingeschlossen, vorlegt, ist großartig: Man stößt laufend auf auslegungsgeschichtliche Raritäten und auf Belege, welche man in keinem anderen Werk finden kann. Im sechsten Aufsatz mit dem Titel »Reading Matthew through the Church Fathers« (117–131) erklärt A., warum ihm die Rezeptionsgeschichte wichtig ist: Sein Hauptinteresse liegt nicht, wie in meinem eigenen Kommentar, auf der hermeneutischen Ebene: Es geht ihm nicht in erster Linie darum, mithilfe der Wirkungsgeschichte die eigene hermeneutische Situation zu erhellen und in anderen Auslegungstraditionen Korrektive zu eigenen, konfessionsgeschichtlich oder kulturgeschichtlich »ererbten« Auslegungen zu finden. A. ist viel stärker an der Rekonstruktion des Ursprungssinns interessiert. Wichtig ist ihm die Auslegungsgeschichte zur Erhebung der Intertextualität der matthäischen Texte: Für die Frage, auf welche biblischen Intertexte der Evangelist anspielen wollte, ist außerordentlich wichtig, was die bibelkundigen und in der antiken Tradition des lauten Lesens verwurzelten Kirchenväter an Anspielungen hörten: Ist ein biblischer Intertext in Auslegungen der Kirchenväter mehrfach erkannt worden und stammt er aus einem dem Evangelisten gut bekannten biblischen Makrotext, so ist die Chance hoch, dass es sich um eine von ihm beabsichtigte Anspielung handelt. Die patristische Rezeptionsgeschichte ist also ein ausgezeichnetes Mittel, um das Reservoir matthäischer Intertexte zu erfassen. Dabei betont A., auch hier von der Kirchenväterexegese inspiriert, die grundsätzliche Offenheit der Texte: Verschiedene intertextuelle Bezüge schließen einander nicht aus (vgl. 104 f.). Außerdem weist die antike Rezeptionsgeschichte des MtEv hin auf weltanschau­liche, religiöse und kulturelle Vorgaben, welche die Rezipienten mitbrachten, und damit auf Auslegungsmöglichkeiten und mögliche rhetorische Strategien der Texte. Manchmal weist sie auch auf grundlegende theologische Verständniskonzepte hin, die den Texten und frühen Rezeptionen gemeinsam sind.
Der Aufsatz »The Magi’s Angel« (Mt 2,2.9 f.; 17–41) exemplifiziert die Bedeutung der Rezeptionsgeschichte für kulturelle und religiöse Vorverständnisse der Lesenden: Sterne stellte man sich in der Antike oft als körperliche Wesen vor, die sich frei am Firmament bewegen. Darin sind sie Engeln ähnlich, mit denen sie auch oft identifiziert wurden. A. zeigt dies m. E. plausibel mit reichem re­zeptionsgeschichtlichem und religionsgeschichtlichem Mate­rial. – Der Aufsatz »Gott sehen« in Mt 5,8 setzt vermutlich den Gedanken der Körperlichkeit Gottes voraus, der noch bis hin zu Augustin eine diskutable Auslegungsoption blieb (43–63). Die Studien zu Mt 5,21–24 und zu Mt 27,45 (65–78.79–105) versuchen, die Auslegungsgeschichte für die Frage nach den für die Texte konstitutiven Intertexten fruchtbar zu machen. Im Fall von Mt 5,21–24 verweist A. auf Gen 4,1–16, im Fall von Mt 27,45 neben Am 8,9 f. auf Ex 10,22; Gen 1,2; Jer 15,9 und Sach 14,6 f. Seine Vorschläge sind subtil und mit viel zeitgenössischem und auslegungsgeschichtlichem Quellenmaterial belegt. Nicht alle haben mich gleichermaßen überzeugt: Die Unterscheidung zwischen vom Text bzw. seinem Autor qua intentio operis intendierten Anspielungen auf Intertexte oder biblische Geschichten und für die ersten oder späteren Leser durchaus möglichen (und vom Text her nicht »verbotenen«) Bezügen auf Intertexte bleibt methodisch sehr schwierig, gerade wenn man, wie ich, A. darin zustimmt, dass Offenheit zu den Texten gehört und auch mehrere Intertextbezüge möglich sind.
Die im zweiten Teil des Bandes enthaltenen Aufsätze sind für diejenigen, die den großen Matthäuskommentar von Davies-Allison kennen, vertrauter. Nur auf Weniges kann hier hingewiesen werden: Im Aufsatz »Structure, Biographical Impulse and the Imitatio Chris­ti« (135–155) stellt sich A. auf die Seite derer, die in der Nachfolge von B. W. Bacon das Evangelium nach den fünf Reden in fünf Bücher strukturieren, und wendet sich gegen eine »narrative« Strukturierung mit 4,17 und 16,21 als wichtigen Einsatzpunkten. Die auf die Reden folgenden oder ihnen vorangehenden Erzählteile sind mit den Reden thematisch eng verbunden. Manchmal ist das plausibel (z. B. bei Kap. 8–9 und Kap. 11–12), manchmal weniger (z. B. bei Kap. 14–17 [founding of the Church] oder bei Kap. 19–23 [commencement of the passion]). Hilfreich ist ein Aufsatz, der unter missverständlichem, aber modischem Titel »Deconstructing Matthew« von den Widersprüchen im MtEv handelt und sie zu klassifizieren versucht (237–249). Ein längerer Aufsatz ist dem Aufbau der Bergpredigt gewidmet (173–215): Die Bergpredigt – und auch andere Teile des MtEv – sind nach A. weitgehend »triadisch« strukturiert – was mir einleuchtet. Weniger einleuchtend ist für mich nach wie vor die von A. aufgenommene und weitergeführte These von W. D. Davies, dass die Bergpredigt eine christliche Antwort auf die drei von Mischna Aboth 1,2 Simon dem Gerechten zugeschriebenen »Pfeiler der Welt«, Torah, Tempelkult und Liebeswerke (1,2), sei. Was haben Mt 6,1–18 mit dem Tempelkult zu tun? Auch die mit vielen Beobachtungen untermauerte These, dass 6,19–7,11 ein ähnlich geschlossener und durchkomponierter Abschnitt wie 5,21–48 unter dem Thema »social relations« sei, hat mich nur zum Teil überzeugt.
Auf die Themen der noch nicht erwähnten Aufsätze sei kurz hingewiesen: S. 107–116 zu Mt 28,9; S. 157–162 zu Mt 1,1; S. 163–172 zu Mt 5,32; 19,9 und 1,18–25; S. 217–235 zur intratextuellen Verankerung der Passionsgeschichte im MtEv; S. 251–264 zu 2,16–18 resp. zur Frage, ob Gott Ursprung auch des Bösen sei.
Der Aufsatzband ist ein Schatzkästlein, in dem man auf unendlich viele in der Forschung noch nicht ausgewertete religionsgeschichtliche und auslegungsgeschichtliche Quellen stößt. Die Thesen, die A. auf sein Material aufbaut, sind meistens plausibel. Der Band bedeutet eine echte Bereicherung für die Matthäusforschung.