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Ausgabe:

Dezember/1997

Spalte:

1128–1131

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Botermann, Helga

Titel/Untertitel:

Das Judenedikt des Kaisers Claudius. Römischer Staat und Christiani im 1. Jahrhundert.

Verlag:

Stuttgart: Steiner 1996. 200 S. gr.8° = Hermes, 71. Kart. DM 88,­. ISBN 3-515-06863-5.

Rezensent:

Rudolf Freudenberger

Wie bereits der Untertitel der von der Göttinger Althistorikerin vorgelegten Studie "Römischer Staat und Christiani im 1. Jahrhundert" anzeigt, geht es in dieser Arbeit nicht nur um die historisch angemessene Auslegung der bekannten, auch textkritisch umstrittenen Suetonstelle (De vita Caesarum libri, Divus Claudius 25,4), sondern auch um die Wiedergewinnung der "Behandlung des Urchristentums" für "die Althistoriker in Deutschland", welche diese "seit etwas zwei Generationen so gut wie völlig den Theologen überlassen haben", was die Vfn. schon einige Jahre zuvor als "unverzeihlich" gebrandmarkt hatte (dies., Paulus und das Urchristentum, Rezension des Paulusbuches von Jürgen Becker, ThR 56, 1991, 296-305, Zitat 296). Bereits damals hatte sie angekündigt, "demnächst eine eigene Untersuchung" vorzulegen, in der sie darlegen wolle, daß ihr durchweg "das Bild des Lukas (von den von ihm in der Apostelgeschichte berichteten Ereignissen und Vorgängen) plausibler erscheint" als dasjenige zeitgenössischer deutscher theologischer Exegeten (art.cit. 302). Mit dem zu rezensierenden Werk hat die Vfn. diese Vorankündigung in exemplarischer Weise eingelöst ­ und zwar an Hand jener Suetonstelle, die sie bereits in ihrer Rez. aus dem Jahr 1991 als Beleg dafür herangezogen hatte, daß zu Lebzeiten des Paulus die römische Reichsverwaltung noch nicht erkannt habe, "daß in den Christen eine neue, vom Judentum unabhängige Gruppierung entstanden war" (art. cit. 304).

Dabei ist natürlich bereits die Klärung der weitgehend auch heute noch umstrittenen Deutung der genannten Stelle eine besondere Herausforderung. So konnte noch anfangs unseres Jahrzehnts der Verfasser einer verdienstvollen Studie über apologetische Geschichtsschreibung in der Antike, Gregory B. Sterling (Historiography and Self-Definition, N.T. S. 64, Leiden-New York-Köln 1992, 312, A 9), zu Sueton, Claudius 25,4 noch ganz unbefangen schreiben: "It is debatable whether this refers to Christian missionary activity or to local Jewish disturbances".

Auch eine entsprechende Notiz der Apostelgeschichte in 18,2, welche die Vertreibung des judenchristlichen Ehepaares Aquila und Priscilla aus Rom durch ein ausdrücklich allen Juden geltendes Edikt des Kaisers Claudius kennt, wird üblicherweise in den deutschsprachigen Kommentaren zur Apg ziemlich kurz und nebenbei abgehandelt (vgl. E. Haenchen, KEK III, Göttingen 7/1977, 512 mit Bezugnahme auf 78; J. Roloff, NTD 5, Göttingen 1981, 270; G. Schneider, HThK V, 2, Freiburg-Basel-Wien 1982, 248f; G. Schille, ThHK V, Berlin 1983, 362.ff.; R. Pesch, EKK V, 2, Zürich-Neukirchen 1986, 147, 152). Angesichts dieser durchwegs defizitären Forschungslage in der deutschsprachigen neutestamentlichen Exegese zumindest in dieser Hinsicht ist die vorliegende gründliche, vor allem aber von "gesundem Menschenverstand" geradezu programmatisch geleitete Untersuchung von Frau B. rundum begrüßenswert! Ihre Schrift ist folgendermaßen gegliedert:

Einem ausführlichen Literaturverzeichnis (9-13), dem nur einige wenige einschlägige Untersuchungen anzufügen wären (in alphabetischer Reihenfolge: R. Freudenberger, Das Verhalten der römischen Behörden gegen die Christen im 2. Jahrhundert, MBPF 52, München 21969; A. N. Sherwin-White, Roman Society and Roman Law in the New Testament, Oxford 1963; J. Speigl, Der römische Staat und die Christen, Amsterdam 1970; G. B. Sterling, o. c.), folgt eine ausführliche Einleitung, die sich vor allem mit der einschlägigen Forschungsgeschichte seit Theodor Mommsen und Adolf Harnack befaßt (15-28). In ihrer eigenen Untersuchung geht die Vfn. unter II auf Apg. 18, 2 f. ein (29-49). Sie setzt sich dabei zunächst mit der grundsätzlichen Bestreitung des lukanischen Doppelwerks als eines Ge-schichtswerks in der sog. "historisch-kritischen Schule" der deutschsprachigen Exegese unseres Jh.s auseinander (29-43).

Hier hätten ihr die Ergebnisse der breiten Untersuchung Sterlings (o. c. bes. 311-389) gute Dienste leisten können, denn darin wird Lukas als ein Meister der vor allem im hellenistischen Judentum bis hin zu Josephus entwickelten "apologetischen Geschichtsschreibung" überzeugend dargestellt. Sterlings heuristische Definition dieses literarischen Genus, das sich eng an die klassische griechische Geschichtsschreibung anlehnt, trifft ja gerade auf das lukanische Doppelwerk zu: "Apologetic historiography is the story of a subgroup of people in an extended prose narrative written by a member of the group who follows the group’s own traditions but hellenizes them in an effort to establish the identity of the group within the setting of the larger world" (o. c. 17). Für die Missionsreden der Apg hatte, unabhängig von Sterling, E. Plümacher Lukas ebenfalls in die Tradition augusteischer Ge-schichtsschreibung eingereiht (Die Missionsreden der Apostelgeschichte und Dionys von Halikarnass, NTS 39, 1993, 161-177)!

Bei der anschließenden kurzen Diskussion der Notiz Apg 18,2 kommt die Vfn. zu dem erwarteten Ergebnis: "Wenige Jahre vor dem Prokonsulat des L. Junius Gallio, 51/52, wurde das jüdische Ehepaar Aquila und Priscilla von Claudius aus Rom ausgewiesen und siedelte nach Korinth über. Zusammen mit ihnen mußten auch andere Juden Rom verlassen. Es besteht eine große Wahrscheinlilchkeit, daß Aquila und Priscilla schon bei ihrer Ausweisung für das Evangelium von Jesus Christus gewonnen waren" (49). Dabei verfährt die Vfn. allerdings nicht ganz ohne selektive Willkür gegenüber dem von ihr sonst so sehr beim Wort genommenen Text der Apg, wenn sie das lukanische "alle" aus allgemeinen Erwägungen über einen angeblich generell übertreibenden lukanischen Sprachgebrauch relativiert (48, vgl. 50-54).

Es folgt die Diskussion der zentralen Belegstelle für ein Judenedikt des Claudius, Sueton Claudius 25,4. Die Vfn. verhandelt zunächst einmal die numerische Stärke der römischen Judenschaft sowie deren administrative Erfassung, die beide eine Vertreibung aller Juden aus der Reichshauptstadt schwer nachvollziehbar machen (50-54). Dieser Tatbestand weist vielleicht auf eine lukanische Eigentümlichkeit hin, die nachträgliche "Verrechtlichung" von ursprünglich in ihren rechtlichen Auswirkungen nicht ersichtlichen literarischen Überlieferungen historischer Vorgänge, wie sie L. Bormann für Lukas aufgezeigt hat (Die Verrechtlichung der frühesten christlichen Überlieferung im lukanischen Schrifttum, NT 74, Leiden-New York-Köln 1994, 283-311). Danach trifft ein kaiserliches Edikt jeweils alle, nicht einen mehr oder weniger zufälligen Teil der intendierten Gruppe! Sueton datiert übrigens das Judenedikt des Claudius nicht. Meistens wird deshalb dafür die Datierung in der Kirchengeschichte des Paulus Orosius, der ja die Kaiserviten Suetons benutzt hat, übernommen (adversus paganos 7, 6, 15), d. h. das Jahr 49 n. Chr., was die Vfn. zurecht als einen unerlaubten Zirkelschluß ablehnt (54-57).

Ein Höhepunkt der vorliegenden Untersuchung ist die m. E. gelungene Demontage der üblichen Deutung der Wendung "impulsore Chresto" bei Sueton auf einen unbekannten jüdischen Aufrührer bzw. Messiasprätendenten mit dem geläufigen Sklavennamen Chrestus (57-71). Anschließend verfolgt sie die Kontroverse "Chresto-Christo" in der älteren Forschung (72-87), ein schönes Beispiel kundiger Aufarbeitung einer dornigen Forschungsgeschichte! Trotz der Verlegenheit, in die uns Sueton dadurch bringt, daß er in Claudius 25,4 "Chresto", in Nero 16,2 aber "Christiani" schreibt, warnt die Vfn. zu Recht davor, solche bruchstückartigen Informationen "durch übertriebene Skepsis zu entwerten" (102). Es bleibt bedenkenswert, daß Sueton wohl den Briefwechsel seines Förderers und Freundes, des jüngeren Plinius, mit Trajan kannte, in dem ja der amtliche, von Christus abgeleitete Name der neuen Sekte "Christiani" vorkam (ep. 10,96, passim vgl. Apg 11,26), so daß er ihn bei der Notiz über die Neronische Verfolgung auch so benutzte, es bei der Notiz über das frühere Edikt des Claudius jedoch bei der begreiflichen volkstümlichen Verballhornung des Namens dieses Sektengründers beließ, zumal ja auch Tacitus (ann. 15, 44, 2ff.) den nach 113 wohl im kaiserlichen Mandatenbuch für die ausreisenden Statthalter verwendeten Namen der damit amtlich zur "kriminellen Vereinigung" erklärten Sekte übernahm (so Freudenberger o. c. 237-241).

Spannend lesen sich auch die Ausführungen der Vfn. über das Claudiusedikt bei Cassius Dio (60,6, 6), jenem hohen kaiserlichen Beamten aus der Zeit der syrischen Kaiser (103-140). Dabei steht die Frage der Datierung dieser inhaltlich deutlich vom kaiserlichen Edikt bei Sueton und in der Apg. unterschiedenen Anordnung des Claudius nach Dio im Mittelpunkt des Interesses: Sie ist ziemlich eindeutig auf das Jahr 41 festzulegen (105 f.) und mit dem auf dieses Jahr anzusetzenden Brief des Claudius an die Alexandriner zu verbinden (107-114). Demnach gab es zwei Judenedikte des Claudius (132 ff.)! Die dabei entwickelte Hypothese von einem ersten Romaufenthalt des Apostels Petrus nach 40 erscheint mir allerdings doch etwas an den Haaren herbeigezogen (136 ff., vgl. jetzt O. Böcher, Art. Petrus I, TRE 26, 1996, 263-273, bes. 266 ff.).

Sie hängt wohl mit der generellen Bestreitung zusammen, die die Vfn. ge-genüber jeder apokalyptischen Spannung auch im Diasporajudentum in den Jahren vor dem großen jüdischen Aufstand in Palästina von 66 an an den Tag legt ­ sie scheint mir nicht den erfaßbaren Verhältnissen zu entsprechen (vgl. die moderne Literatur zu dieser Frage, die L. H. Feldman, Josephus and Modern Scholarship, Berlin-New York 1984, 484-491, gesammelt und kurz kommentiert hat).

Geradezu aufregend liest sich Teil V, in dem das Aufkommen des Christennamens mit dem Verhältnis des römischen Staates zu den Christiani im 1. Jah. in unmittelbare Beziehung gesetzt wird (141-188). Leider vermischen sich in diesem Schlußteil scharfsichtige Beobachtungen zu den entscheidenden Quellenbelegen (Tac.ann. 15, 44, 2, 1Petr 4,16, Apg 11,26) und stupende Kenntnis der neuen Forschungsgeschichte mit manchmal geradezu abenteuerlichen Spekulationen (z.B. 146ff.; 171 f.; 175 f.; 179 f.; 183 ff.). Dabei gerät die scharfe Abrechnung mit der theologischen Interpretation dieser Schlüsselstellen, insbesondere in der Apg. zu einem Meisterstück historischer Analyse, die jedem angehenden Theologen als Pflichtlektüre vorgegeben werden sollte (157-167), weil sie das Scheitern theologischer Vorurteile an der jeweiligen Textgestalt, vor allem in Apg 11,26, unbarmherzig ans Licht zerrt! Die Vfn. verlegt ihrerseits die Entstehung der Außenbezeichnung Christiani für die Christusanhänger zunächst als Sekte innerhalb des Judentums in die zweijährige Gefangenschaft des Paulus in Caesarea in den Jahren 57-59 (171 ff.).

Diese Lösung ist allerdings auch wieder hochspekulativ und historisch unwahrscheinlich. Eine glaubwürdigere Lösung ließe sich wohl mit der Entstehung der antiochenischen Christengemeinde durch die aus Jerusalem vertriebenen Hellenisten besser erklären und mit der wohl auch dort anzusiedelnden Erstbezeichnung dieser neuen Gemeinde als ekklesia verbinden, wie das K. Berger gezeigt hat (Volksversammlung und Gemeinde Gottes, Zu den Anfängen der christlichen Verwendung von ekklesia, ZThK 73, 1976, 160-207, vgl. ders., Theologie des Urchristentums, Tübingen-Basel, 1994; 141 f., 147 f.; 351 f.). Eine plausible historische Einordnung einer solchen frühen Verselbständigung der Christen von der jüdischen Synagogengemeinde ist ansatzweise bereits von M. Hengel vorgeschlagen worden (Zur urchristlichen Geschichtsschreibung, Stuttgart 21984, 87). In dieser Hinsicht geduldig weiterzuforschen, ist sicher mühsam, aber in jedem Fall ergiebiger als kühne Vermutungen!

Insgesamt hat die Vfn. jedoch ein in jeder Hinsicht wichtiges und geradezu aufregendes Werk vorgelegt, das für jeden an den Ursprüngen unseres Glaubens interessierten Theologen lesenswert ist! Leider hat sich beim Druck bzw. beim Korrekturlesen eine Reihe von Fehlern eingeschlichen oder behauptet.

Besonders ärgerlich sind folgende Fehler: S. 56 A 149 findet sich das Zitat bei Eus. H. E 2, 18, 9; S. 60 unten muß es heißen: Tacitus (ann 15,44,2); S. 77 A 218 muß es heißen: Amberg in der Oberpfalz; auf S. 94 fehlt Mitte 1. Absatz im Text die Anm. 286; S. 95 Mitte Absatz unten muß es wohl heißen: "die stadtrömische Administration"; S. 102 A 320 muß es heißen ’paganen’; S. 105 A 331 steht das Cassius Dio Zitat in 60, 8,1; S. 143 wird ohne entsprechenden Hinweis in dem Zitat aus 1Petr 4,14-16, V 14b ausgelassen. Das angebliche "Provokationsrecht" des Paulus sollte bei einer Neuauflage nochmals anhand der neueren römisch-rechtlichen Literatur überprüft werden, vgl. nur J. Bleicken (Senatsgericht und Kaisergericht, AAWG.PH 53, 1962, 171 ff.) und W. Kunkel (Consilium, Consistorium, JAC 11/12, 1968/69 ders. Kleine Schriften, Weimar 1974, 405-440, bes. 417 f).