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Ausgabe:

September/2007

Spalte:

921–924

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Veltri, Giuseppe

Titel/Untertitel:

Libraries, Translations, and ›Canonic‹ Texts. The Septuagint, Aquila and Ben Sira in the Jewish and Christian Traditions.

Verlag:

Leiden-Boston: Brill 2006. XI, 278 S. gr.8° = Supplements to the Journal for the Study of Judaism, 109. Lw. EUR 105,00. ISBN 90-04-14993-7.

Rezensent:

Evangelia G. Dafni

Der Titel sowie das Konzept der hier zu besprechenden Monographie sind von Isidor von Sevillas Werk Etymologiarum sive originum libri XX inspiriert, der in seinem Bemühen, profanes und religiöses Wissen seiner Zeit in der Form einer Enzyklopädie zu vereinigen, u. a. die Begriffe Bibliothek (III: 1 ff.) und Interpret (IV: 1 ff.) definierte und kurz und prägnant ihre Funktion im Altertum schilderte. Giuseppe Veltri will sich nun aber der seit dem letzten Jahrzehnt des vergangenen Jh.s viel diskutierten Frage nach der Kanonisierung der jüdisch-hellenistischen und rabbinischen Texte und deren Formationsprozess mit Hilfe der Septuaginta, des Aquila und des Jesus Ben Sirach zuwenden.
Das Werk ist in vier Teile gegliedert und wird beschlossen mit einer umfangreichen Bibliographie (231–260), Erklärungen über den Stil, die Transliterationen und die Art der Zitierung (261–262), einem Verzeichnis von Textstellen aus der Hebräischen Bibel, der jüdisch-hellenistischen Literatur, dem Neuen Testament, griechischen und lateinischen Autoren, rabbinischer Literatur, Kirchenvätern und jü­disch-mittelalterlichen Texten und Autoren, Namens- und Themenverzeichnissen (263–275).
In der Einleitung (1–25) stellt der Vf. klar, dass er nicht mit dem engen, traditionellen, kirchlichen Begriff von »Kanon« operieren will, sondern eigentlich mit einem breiteren, von der Literaturwissenschaft übernommenen. Von da aus sucht er biblische und die Bibel deutende Zeugnisse zu verstehen.
Im 1. Teil (»Libraries and Canon: Ascent and Decline of the Greek Torah«, 26–99) werden der kultische und historische Hintergrund, die akademische Bedeutung sowie alttestamentliche Andeutungen auf die Funktion von Bibliotheken im Altertum, d. i. Vorlesen und Hören als Ausdruck der autoritativen Aktualisierung von effektiven Traditionen, diskutiert. Der Vf. betrachtet die Bibliotheken als gleichbedeutend mit dem modernen Kanonbegriff, nämlich als »the authoritative, inclusive, exclusive, selective tradition and corresponding texts« (27). In diesem Sinne spricht er von einer offensichtlichen Absicht der Alexandrinischen Bibliothek, eine bestimmte Sammlung von klassisch-griechischen Texten als autoritativ zu propagieren, während er zugleich die griechische Übersetzung der Torah als die magna carta für die Identität der jüdisch-hellenistischen Gemeinden als kulturelle Minderheit in einer paganen Umgebung ansieht. Die Inspirationstheorie hinsichtlich der LXX ist für den Vf. zunächst nur eine Spekulation Philos von Alexandrien, die von den christlichen Quellen als Kanonizitätsanspruch zur Bestätigung der Wichtigkeit einer Übersetzung für die christliche Identität aufgefasst wurde. Der Aristeasbrief, die viel diskutierten jüdisch-hellenistischen sowie die christlichen Quellen der LXX-Legende werden aus der Perspektive der lebendigen Abhängigkeit (vital dependence) und hermeneutischen Angemessenheit (hermeneutical appropriation) nochmals betrachtet. Be­son­dere Aufmerksamkeit wird dem Zusammenhang zwischen den Legenden der LXX-Ursprünge, der Restauration der Homerischen Epen in der Zeit des Peisistratos und der Restauration der Torah von Esra, die nach der Meinung des Vf.s in der Zeit zwischen 1. Jh. v. Chr. und 1. Jh. n. Chr. entstanden und im 2.–3. Jh. n. Chr., als die Autorität der LXX in Frage gestellt wurde, zusammengetroffen sind und sich weiterhin gegenseitig beeinflusst haben (78–99).
Der 2. Teil (»Deconstructing History and Traditions: The Written Torah for Ptolemy«, 100–146) geht davon aus, dass nach der Zerstörung der jüdischen Gemeinde in Alexandrien und dem Aufstand Bar Kochbas kein rabbinisches literarisches Werk in griechischer Sprache mehr vorhanden sei und demnach die griechische sowie die jüdisch-hellenistische Kultur keinen Einfluss auf das rabbi­nische Judentum habe. Daher sei die rabbinische literarische Produktion nicht mehr auf die LXX, sondern ausschließlich auf die hebräische Bibel gestützt. Obwohl das palästinische Judentum der griechischen Sprache und Kultur gegenüber positiv eingestellt war, sei die Mehrheit der rabbinisch-jüdischen Traditionen von den babylonischen Akademien überliefert und hermeneutisch ak­tualisiert worden. Die LXX als Träger von Elementen jüdischer Exegese habe in den palästinischen und babylonischen Akademien hohes Ansehen genossen. Die auf die Kirchenväter zurückgeführte und von heutigen Gelehrten vertretene These, dass das Judentum vor Konstantin dem Großen vermieden hat, die griechische Torah (LXX) zu benutzen, sei – so der Vf. – pure christliche Propaganda (104 f.). Dies versucht er auf Grund einer synchronen Darstellung von LXX-Varianten als midraschische, epexegetische Referenzen plausibel zu machen (106–144). Zum Schluss (144 ff.) wirft er die Frage auf, ob die Überlieferung der LXX ein bewusster Schritt zur Kanonisierung vergangener hermeneutischer Traditionen sei. Wie in seiner Dissertation macht er auch hier darauf aufmerksam, dass die LXX ursprünglich für einen fremden König geschrieben sei und von den Rabbinen dort geändert wurde, wo es zu dualistischen Missverständnissen kommen konnte. Von dieser Bestimmung des historischen Ortes der Übersetzung her erklären sich die darin enthaltenen midraschischen Textänderungen. Aber die rabbinische Reduzierung der LXX auf eine partikuläre Situation (geschriebene Torah für den König Talmai, d. i. Ptolemäus) könnte nur zu ihrer Entkanonisierung führen (146).
Im 3. Teil (»Deconstructing Translations: The Canonical Substitution Aquila/Onkelos«, 147–189) definiert der Vf. die Übersetzung eines liturgisch oder didaktisch autoritativen Textes als den entscheidenden Eingriff eines Beobachters einer geschriebenen Tradition mit dem Ziel festzustellen, was wichtig genug ist, um weitergegeben oder durch Zensur zurückgehalten zu werden, und was für die Ge­meinde nicht mehr wichtig ist. Er hält die Übersetzung für den Weg zu einem effektiven Kanon (147). Von dieser Perspektive her wendet sich nun der Vf. zu der Stellung der rabbinischen Akademien und der christlichen Autoren der Übersetzung gegenüber. Er weist auf die Auffassung hin, dass diese Übersetzung ein göttlich inspirierter Akt der Textkomposition sei (148), und betont, dass die patristische Literatur das jüdische Verständnis der Übersetzung als Tradition adoptiert hat. Wenn nun die Übersetzung als Ganze sowohl die münd­liche als auch die schriftliche Torah mit einschließt, wozu braucht man das hebräische Original? Somit stellt sich aber die Frage nach den sakralen Sprachen und deren Übersetzbarkeit, was der Vf. an­hand von christlichem und jüdischem Zeugnis untersucht, um zum folgenden Schluss zu kommen: Die rabbinischen Akademien haben die Bibel liturgisch zensiert und ihren ursprünglichen Wortlaut dort, wo das Autoritätsprinzip gewährleistet war, in targumische Erklärungen verwandelt.
Die Funktion des Übersetzers als Interpret, d. i. Vermittler zwischen geschriebenem Text und Gemeinde bzw. offenbartem Textsinn und Volk als Offen­barungsempfänger, vergleicht er auf Grund talmudischer Zeugnisse mit der Rolle Moses als Vermittler zwischen Gott und Volk. Dabei macht er darauf aufmerksam, dass in jeder babylonischen Akademie zur Be­antwortung von Fragen nur eine Meinung als autoritativ propagiert wurde und es von der Pluralität zur Kanonisierung einer einzigen Tradition gegen alle anderen gekommen ist (162). Ein ideales Beispiel von typischem Entkanonisierungsprozess sieht der Vf. in der kanonischen Substitution der griechischen Übersetzung von Aquila und des aramäischen Targums von Onkelos, wobei nun die babylonische akademische Kanonisierung der Ideologie einer bestimmten Schule (school ideology) die Stelle der palästinischen Exegese einnimmt. Vorherrschender Faktor ist nun der Sprachwechsel.
Patristische sowie rabbinische Quellen, die sich im Unterschied zu den christlichen intensiv mit der Herkunft, der Nähe zu Rabbi Aqibas oder Jehoschuas oder Eliezers Schule und der Wirksamkeit Aquilas zur Zeit des römischen Kaisers Hadrian beschäftigen, befragt der Vf. in diesem Zusammenhang nach der Bedeutung der kanonischen Substitution. Daraus soll die bestehende Ähnlichkeit der Traditionen, die von Aquila und Onkelos vertreten werden, herausgestellt werden, so dass man zu dem Schluss kommt, dass, was die babylonische Gemara dem aramäischen Targum des Onkelos zuschreibt, ebenso die palästinische dem griechischen Targum (Übersetzung) des Aquila zu­schreibt (186). Demnach schließt der Vf., dass der Sprachwechsel den Kanonwechsel hervorgerufen hat oder zumindest einen Wechsel von kanonischen Elementen.

Im 4. Teil (»[De]canonization in the Making: The Wisdom of Jesus ben Sira«, 190–222) wird die Entkanonisierung im Werden auf Grund der Rezeption in rabbinischen Texten des deuterokanonischen Buches Weisheit von Jesus Sirach untersucht. Der Vf. hält den Prolog dieses Buches für einen Ausdruck der Intention seines Autors, die Leser zu überzeugen, dass das Werk seines Großvaters das Wesen vergangener Weisheit zusammenfasst. Dies macht es zu einem außerordentlich wichtigen, eindeutig jüdischen Zeugnis von dem, was man als Entkanonisierung bezeichnet, mit anderen Worten als Kombinationsprozess von weisheitlichen Texten mit Übersetzungstheorie(technik) und Kanonideologie (191). Auf zwei Prämissen der antiken Gelehrsamkeit soll hier hingewiesen sein: a) Der Übersetzungsprozess ist qualitativ möglich, wenn der Übersetzer vertraut ist mit den Quellen der Offenbarung bzw. Inspiration (d. i. Gott oder das Göttliche), auf die die Texte zurückgehen, und b) Autorität und Inspiration gehen zurück auf dieselbe Quelle eines vermittelten Wissens, d. i. die Gewissheit des Vertrautseins mit dem Überlieferungsprozess (192).
Dekonstruktion und Entkanonisierung von Bibelübersetzungen definiert der Vf. als eine gewöhnliche Methode, die gerne von jeder religiösen Gemeinschaft adaptiert und angewandt wird, um den Abstand und zugleich die Nähe zu einem Text zum Ausdruck zu bringen, und zwar entweder mit der Aufhebung überholter Aktualisierungen der Vergangenheit oder mit der Erfindung neuer Verstehenswege. Der Vf. meint, dass die Vagheit des dritten Teils des Kanons zu seiner Zeit dem Enkelsohn Sirachs erlaubte, seines Großvaters weisheitliches und pädagogisches Programm einzuleiten. Die Übersetzung der Torah ist nicht mit der Weisheit gleichzusetzen, denn sie ist als ewig gedacht, abhängig von praktischen Aspekten und ethischem Verhalten, ein Gebiet, das der rabbinischen Autorität zugeordnet ist. Die hermeneutische Mischung von Torah und Weisheit führt der Vf. zurück auf die Zeit nach dem 2. Jh. v. Chr. mit dem Aufblühen der rabbinischen Schulen nach der Zerstörung des zweiten Tempels und auf den Einfluss der epikuräischen und stoischen Philosophie. Er untersucht Zitate a) des Buches Sirach in den rabbinischen Quellen, b) mit Hinweis auf Jesus Sirach, c) mit Hinweis auf das Buch von Jesus Sirach mit dem Ziel herauszufinden, ob ein Autoritätskampf zwischen weisheitlicher und rabbinischer Literatur festzustellen ist und was das für den liturgischen und privaten Gebrauch des Buches heißt. Daraus schließt er, dass nach den rabbinischen Akademien in Palästina, die das Buch Jesus Sirach ak­zeptiert haben, die LXX notwendigerweise eine schlechte Wiedergabe des Originals war, während das Buch Jesus Sirach ein Produkt palästinischer Herkunft und daher ein gültiger Bund zu der Überlieferung der Weisheit sei. Aber für die babylonischen Akademien war es als Wiederholung vergangener Weisheit nur überflüssig. Die Tatsache, dass das hebräische Original nur fragmentarisch überliefert wurde, ist für den Vf. ein Beweis für seine Entkanonisierung auf Grund von historischen und kulturellen Entwicklungen, weil es nicht zum so genannten Wesen der religiösen Identität gehörte (222).
Der Vf. entwickelt eine Theorie, wobei die Texte nur begleitende Rollen zu spielen scheinen. Bevorzugt werden Transkriptionen und englische Übersetzungen der Primärquellen. Der kritische Leser möchte nun gerne auch die Texte im Original haben, um feststellen zu können, ob sich die Theorie ungezwungen aus den Texten herauskristallisiert hat oder ob sie noch in den Texten zu suchen ist.
Dem Vf. ist zu danken, dass er eine moderne Alternative zum traditionellen Kanonbegriff in klarer Sprache behandelt und eine gute theoretische Grundlage für weitere interdisziplinäre Untersuchungen dargeboten hat.