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Ausgabe:

September/2007

Spalte:

913–915

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Segal, Alan F.

Titel/Untertitel:

Life After Death. A History of the Afterlife in the Religions of the West.

Verlag:

New York-London-Toronto-Sydney-Auck­land: Doubleday 2004. XIV, 866 S. gr.8°. Lw. US$ 37,50. ISBN 0-385-42299-7.

Rezensent:

Klaus Hock

Es ist ein ambitioniertes, fast monströses Werk, das Alan F. Segal hier vorgelegt hat. Etwa zehn Jahre Arbeit stecken in diesem Projekt, und es verlangt einen langen Atem ab, sich mit S. auf die Reise durch die Religionsgeschichte, mehr noch: durch die Kulturgeschichte der westlichen Religionen zu begeben. Die »Religionen des Westens« – das sind alle jene Religionen, die sich von den »östlichen«, süd- und ostasiatischen unterscheiden, und zwar einschließlich des Islam. Die Differenz liegt nicht zuletzt auch in den Jenseitsvorstellungen, wenngleich gerade in jüngerer Zeit durchaus Überschneidungen und Analogien auftauchen, die S. aber nicht weiter thematisiert. Denn ihm geht es vornehmlich um die geistesgeschichtliche, wenngleich nicht nur geistesgeschichtliche Entwicklung der Jenseitsvorstellungen in ihrer gegenseitigen Verflochtenheit und Vielfalt, wobei er die Entwicklungslinien von den Religionen des Alten Orients bis hin zu Alltagstheorien über Tod und Jenseits in den modernen europäischen und nordamerikanischen Gesellschaften nachzeichnen will. Einführung und Nachwort geben der komplexen Materialsammlung und -darstellung eine systematische Ausrichtung und Interpretation.
Allerdings ist bereits die Aufbereitung des Materials durchaus von einer inhaltlich bestimmten Zielrichtung geprägt. So wird die historische Linie von den altorientalischen Religionen bis zur Ge­genwart nicht gleichmäßig durchgezogen, sondern sie endet – abgesehen von den Ausführungen über die islamischen Jenseitsvorstellungen – bei den Kirchenväter und ihren rabbinischen Zeitgenossen. Auch dies ist programmatisch. Nicht umsonst ist der vierte Teil überschrieben: The Path to Modern Views of the Afterlife. Ihm sind drei Großkapitel vorgeschaltet, deren Überschriften je­weils ebenfalls einen interpretativen Duktus des behandelten Materials anzeigen: The Climate of Immortality behandelt ägyptische, mesopotamische, kanaanäische und altisraelitische Jenseitsvorstellungen. Die altisraelitische Kritik an den vorherrschenden Diskursen erweist sich bei näherem Besehen allerdings als die Durchsetzung einer spezifischen Perspektive, die – trotz aller Polemik – durchaus Gemeinsamkeiten mit den kritisierten Sichtweisen aufweist: »… if we act properly, we will gain wisdom; but only God has immortality« (701). From Climate to Self thematisiert einen ersten Paradigmenwechsel. Dabei treffen auf den ersten Blick nicht kompatible Konzeptionen iranischer Provenienz, die den Gedanken einer körperlichen Auferstehung ins Zentrum rücken und auf die israelitische Religion zur Zeit des Zweiten Tempels einwirken, mit Konzeptionen griechischer Herkunft aufeinander, deren Vorstellung einer unsterblichen Seele sowohl die weitere Entwicklung der jüdischen Kultur wie auch westliche Jenseitsvorstellungen generell nachhaltig prägen werden. Dies wird im dritten Hauptteil ausgearbeitet, der mit apokalyptischen und millenaristischen Ausarbeitungen von Jenseitsvorstellungen befasst ist und einen Blick auf die Vielfalt des »Sectarian Life in New Testament Times« (351 ff.) wirft. Teil 4 entfaltet eine Grundthese des vorliegenden Buches, die bereits im o. g. Titel dieses Abschnitts angedeutet ist: Moderne Jenseitsvorstellungen finden ihre Grundlegung bereits in den ers­ten drei, vier Jahrhunderten nach der Zeitenwende. Die Jesus-Be­wegung, das paulinische Schrifttum und die Evangelien werden in diesem Teil der Studie einer ebenso skrupulösen Analyse unter­zogen wie die nichtkanonischen Evangelien, die Apokryphen der jü­dischen und christlichen Gemeinschaften, die Schriften der Kirchenväter und ihrer Hauptgegner, der Gnostiker, sowie die Jenseitsvorstellungen der Mischna, des Talmud und des rabbinischen Judentums generell. Dieser Hauptteil wird dann mit eher summarischen Hinweisen auf spätere Entwicklungen in Judentum, Chris­tentum und Islam abgeschlossen.
Einleitung und Nachwort gehen, wie gesagt, weit über die bloße Rekonstruktion »westlicher« Jenseitsvorstellungen hinaus. Die verstörende Abkehr, die Kübler-Ross auf dem Sterbebett von ihrem gesamten Œuvre vollzogen hat, interpretiert S. im einleitenden Kapitel als »a clear example of both our collective need for surety where none obtains and for the individual’s ability to hold a series of conflicting ideas simultaneously« (21). Dieses Thema – in der Exposition nochmals variiert als spannungsvolles Bemühen um Vergewisserung zwischen Gewissheit (»faith«) und Zweifel – wird von S. nach und nach entfaltet, durchzieht die gesamte Studie und kommt im Finale nochmals als »Synthese« des Gedankens der Unsterblichkeit der Seele mit der Vorstellung der körperlichen Auferstehung zum Klingen (707 ff.).
In den Kontext der historischen Entwicklung gestellt, erweisen sich nach S. die Jenseitsvorstellungen als Spiegel unserer kulturellen und gesellschaftlichen Bedürfnisse, und am Ende dieser Entwicklung steht eine weitgehende Wahlfreiheit in der Suche nach der Antwort auf die Frage, was uns nach dem Tode erwartet. Dabei liegt es in der Natur der Sache, dass die Selektion bestimmter Jenseitsvorstellungen mit einer bloß relativen Gewissheit einhergehen kann und von Zweifeln begleitet bleibt. S. spinnt diese Gedanken im Folgenden weiter zu kultur- und religionsphilosophischen Reflexionen über das Jenseits als »Artikulation des Transzenden ten« (715 ff.) und über Jenseitsvorstellungen als spezifische Programme einer »kulturellen Software« (Balkin). Das Finale dieser umfangreichen Publikation mündet in eine »Apologie der Religion« (724 ff.). Religion wird dabei ausdrücklich von fundamenta­lis­tischen Selbst-Vergewisserungen abgehoben, deren Qualität in der Annullierung jeglichen Zweifels und in der Affirmation eines von anderen ausgeschlossenen und in sich abgeschlossenen Dis­kurses besteht. Nach S. knüpft Religion an das Bemühen des Menschen an, sich selbst zu transzendieren, was an Beispielen aus Shake­speares Dramen illustriert wird. »Religion’s imagining of our here­after also seems to say the same – our ›immortal longings‹ are mirrors of what we find of values in our lives. They motivate our moral and artistic lives. Our longing itself deserves a robe and crown, nothing less« (713).
Im Finale wird dann auch der systematische Zusammenhang zwischen Religion und Jenseitsvorstellungen deutlich, wie ihn S. konstruiert: Er setzt ein bei der Feststellung, dass Jenseitsvorstellungen nicht das »Wesen« der Religion ausmachen und nicht in ihrem Zentrum stehen, wenngleich sie seiner Meinung nach einen wichtigen Baustein bilden, mehr noch: »if any kind of belief in the survival of personality is included in our search, all human societies contain at least the rudiments of a belief in life after death« (18). Letztlich wird jedoch der Gedanke der Transzendenz zum Scharnier, das es erlaubt, auf jener eben genannten potentiellen Religionshaltigkeit aller Gesellschaften eine »Apologie der Religion« aufzubauen. Bei dieser setzt S. voraus, dass es in jeder Religion um Transzendenz geht – und dass Transzendenz potentiell religionshaltig ist. Genau das jedoch wird – zumindest aus religionswissenschaftlicher Perspektive – wohl auch weiterhin strittig bleiben.