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Ausgabe:

September/2007

Spalte:

911–913

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Grypeou, Emmanouela

Titel/Untertitel:

»Das vollkommene Pascha«. Gnos­tische Bibelexegese und Ethik.

Verlag:

Wiesbaden: Harrassowitz 2005. IV, 332 S. gr.8° = Orientalia Biblica et Christiana, 15. Lw. EUR 58,00. ISBN 3-447-05064-0.

Rezensent:

Kurt Rudolph

Die Gnosisforschung hat sich primär um die greifbare Vorstellungswelt, d. h. die Ideen und Mythen der gnostischen Überlie­ferungen gekümmert, weniger um die ethisch-moralischen Aus­sagen, zumindest gibt es dazu keine eigene Monographie. Die vorliegende Arbeit, eine Tübinger phil. Dissertation von 2001, angeregt von Stephen Gerö, ist bestrebt diese Lücke zu schließen. Ausgehend von dem Grundsatz, dass sich »das ethische Handeln einer religiösen Gruppe, sowohl im externen sozialen, wie auch im inneren Gemeindebereich, entwickelt und sich verwirklicht im ständigen Dialog mit ihren theologischen Grundanschauungen, die auch die theoretische Legitimation für die verschiedenen Handlungsoptionen liefern« (7), folgt sie den erhaltenen gnostischen und verwandten Quellen unter Beachtung der Bibelexegese.
Der Titel des Buches ist dem Bericht des Epiphanius (Panarion 26,4) über das rituelle Mahl der sog. »Stratiotiker« (oder Gnostiker) entnommen und umschreibt ein Mahl von Föten (vgl. 122 f.). Die dreiteilige Gliederung ist klar und hält sich im Einzelnen vornehmlich an die Quellen, die im ausreichenden Maße sowohl in Übersetzung als auch im Original (auf Grund der kritischen Editionen) zitiert werden, was dem Buch seinen soliden, grundlegenden Charakter verleiht. Die Einführung und Forschungsgeschichte (7–82), die im Wesentlichen Hans Jonas folgt (7, Anm.1), konzentriert sich auf die gnostische Bibelexegese nach den häresiologischen und koptisch-gnostischen Texten (mit Seitenblicken auch auf man­däische, manichäische u. a. Angaben). Es folgt als Hauptteil die »gnos­tische Ethik« (83–274, gleichfalls aufgeteilt in die häresiolo­gischen Berichte dazu 88–193) als auch nach den koptischen Texten (primär den NHC, 194–274). In einem Epilog (275–280) wird das Er­gebnis der gnostischen Bibelexegese und Ethik zusammengefasst. Eine Bib­liographie (nach Quellen und Sekundärliteratur), Stellen-, Namen- und Sachregister (285–332) beschließen das Werk. Die ge­trennte Behandlung der Überlieferungen nach den Häresiologen und den Originaltexten hat den Vorteil, dass man einen klaren Überblick über das vorhandene Material, seine erschließbaren Aussagen und ihre bisherige Erforschung erhält, so dass die Arbeit fast einen Handbuchcharakter besitzt.
Die bekannte »Zweigleisigkeit« der gnostischen Ethik in Form eines mehr oder weniger libertinistischen bzw. antinomistischen Verhaltens und der asketisch-enkratistischen Lebensweise ist auch von G. als eine Art Leitfaden beibehalten worden, allerdings sieht sie beide in erster Linie in ihrer Beziehung zu den alttestamentlichen und frühjüdischen Überlieferungen. Dieser Zusammenhang, der sich in einer rezeptiven und kritischen Haltung der Gnos­tiker zu den biblischen Texten äußert, ist bisher ungenügend erforscht worden. Daher ist die »tiefe Vertrautheit« mit dem Alten Testament und den relevanten Judaica zu wenig erkannt worden (16 ff.). Der Vorwurf der Häresiologen, hierbei läge eine bewusste Fälschung vor, lässt sich nach G. nicht erhärten, da sich die gnostische Exegese bemüht, die biblisch-jüdische Literatur als Orientierung einer neuartigen Weltdeutung zu benutzen und mit Hilfe der verbreiteten Allegorie entsprechend umzudeuten. Dabei lassen sich zwei Hauptrichtungen feststellen (46 f.): Der Bezug auf prophetische Züge dient der gnostisch-mythologischen Lehre, die Schöp­fungsgeschichte (Genesis) der Erklärung des Bösen. Vermit­telt wurde diese Interpretation auch durch entsprechende frühjüdische Traditionen (z. B. die apokalyptische En­gel­lehre). Auch die koptischen Quellen betreiben eine ähnliche Vorgehensweise mit den biblischen Texten (75 ff.), d. h. eine kri­tische, zum Teil pole­mische Auslegung der relevanten Stellen (Schöpfung, Sintflut, Ge­setze, Erlösung).
Bei der Betrachtung der ethisch-moralischen Themen (83 ff.) wird sowohl der asketisch-enkratistischen als auch der libertinistischen Haltung die gleiche Aufmerksamkeit geschenkt. Obwohl die NHC der ersteren eindeutig den Vorrang geben, ist der in häresiologischen Quellen dominante Libertinismus als ein durchaus gnos­tisches Verhalten anzuerkennen, wie G. in einer neuen Un­tersu­chung nachweisen möchte (106 ff.), wobei die Angaben zu den Simonianern, Nikolaiten und Barbelognostikern bzw. Borboriten (nach Epiphanius) eine vorrangige Rolle spielen (115–136). Auch hierbei lassen sich die Beziehungen zu biblischen Vorlagen nach weisen, besonders die kritische Verachtung von Körper und »Fleisch« gegenüber dem »Seelisch-Geistigen«, das oft mit dem Samen verbunden wird und dessen Verlust verhindert werden soll. Mit Verweisen auf zeitgenössische (griechische bzw. spätantike) orgiastische Kulte und Lehren, aber auch frühjüdische (Philo!) und spätere Quellen zur sog. jüdischen Mys­tik (z. B. die Krypto-Sabbatianer Dönmeh), die keine Reaktion von Gegnern sind, wird der religionsgeschichtliche Kontext be­müht, um zu zeigen, dass solche Ver­haltensweisen in Kult und »Moral« keine Phantasieprodukte po­lemischer Auseinandersetzungen (auch nicht im christlichen Mönchtum!) sein müssen (158–164.174–184). Auch in der späteren Geschichte des Libertinismus bis zu den Paulikianern und Bogomilen lassen sich Belege dafür beibringen (164–173). Neben den klassischen Vorstellungen vom Hieros gamos als Erlösungsmittel sieht G. hinter den libertinistischen Verhaltensweisen in der Gnosis einen Protest gegen die jüdisch/biblische Reinheitsidee und das damit verbundene traditionelle rituelle und sexuelle Denksystem (191 ff.). Same und Menses dienen danach nicht der Fortpflanzung, sondern der Sammlung und Rettung der im Kern göttlichen Substanz. Dass in den Berichten darüber polemische Züge eine Rolle spielen, ist nach G. nicht zu bestreiten, aber Ursache und Hintergrund dieses Verhaltens lassen ebenso eine polemische Beziehung zur herkömmlichen jüdischen Tradition, wie die andere Art des enkratistisch-asketischen Lebens erkennen. Es bleibt abzu warten, ob diese Be­trachtung ihr Argumentationsgewicht beibehalten kann. Denn nach wie vor enthalten die Originalquellen (NHC u. a.) keine direkten Zeugnisse dieser Art. Der vorwiegend asketische Charakter könnte nach G. vielleicht mit dem Mönchtum zusammenhängen, in dessen Bereich ja die NHC aufgetaucht sind. Es bleibt auch daran zu erinnern, dass esoterische Verhaltensweisen oft nicht schriftlich, sondern mündlich weitergegeben werden. Nur so lässt sich m. E. weiter argumentieren, wenn man die antinomis­tischen Aussagen, die ja ausführlich zur Geltung kommen, nicht nur auf den enkratistischen Bereich beziehen möchte.
Allerdings bleibt festzustellen, dass ethische Verhaltensfragen in diesen Texten nur eine untergeordnete Rolle spielen (vgl. 194 ff.). Die wenigen diesbezüglichen Schriften behandelt G. daher unter den Themen: »Der Archon der Begierde« (AJ, ApkArch., UW, HA), »Der freie Mensch sündigt nicht« (ThEv, PhilEv, TractTrip), »Das unreine Reiben« (PS, Jeu, LibTh, SJC, TestVer, ParSem), »Die Absage an die Begierde: die latente Enkratie« (DialSot., 2LogSeth, ExPsych, Zostr., AuthLog, ActPetr.); daran anschließend kurz die hermetischen (Asket., PrecHerm.) und nichtgnostischen Texte (Sext., Silv.). Ein Exkurs widmet sich dem EvMaria (BG 1), das antinomistische Züge besitzt, die vielleicht für den fragmentarischen Zustand des Textes mitverantwortlich waren (268 ff.).
Der Versuch, den G. unternommen hat, das Bild der Gnosis in ihrer praktisch-ethischen Ausbildung zu schärfen, ist dankenswert und zweifellos ein wichtiger Beitrag zur Gnosisforschung insgesamt. Es bleibt anzunehmen, dass der betont ethische Bezug auf die gnostische Bibelexegese deutlich erkennen lässt, dass hier eine Entwicklung sui generis aus eigenen theologischen und soteriologischen Glaubensvorstellungen vorliegt (275 f.). Für G. ist damit auch die Herkunft der Gnosis generell zu verstehen: aus »extremen Allegoristen« des hellenistischen Judentums (278). Die christlichen Beiträge sind erst nachträglich eingebaut worden. Insofern erklärt sich auch der pluralistische Charakter der Gnosis, der allerdings, wie in allen religiösen Strömungen, von einer speziell-typischen Idee getragen wurde, einer radikalen Weltfeindschaft, was im Hinblick auf die Wirklichkeit des zeitgenössischen Lebens nicht sehr abwegig war (und ist).