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Ausgabe:

September/2007

Spalte:

899–910

Kategorie:

Aufsätze

Autor/Hrsg.:

Christof Gestrich

Titel/Untertitel:

Zur Situation der Evangelischen Kirche1
Systematisch-theologische Gesichtspunkte

I.


Dass die Evangelische Kirche, wegen ihrer starken Orientierung am subjektiven Glauben, keine wirkliche Kirche sei, ist immer noch die offizielle Auffassung Roms und auch der Orthodoxen.2 Beide lassen sich auch nicht auf die Formel ein, die Kirche sei sogar schon dort, wo »zwei oder drei« in Christi Namen versammelt sind.3 Ich selbst bin an Ostern 1940 getauft worden und dann in einem theologisch und gesellschaftlich lebendigen Pfarrhaus in die Evangelische Kirche hineingewachsen. Es gibt in mir ein Gefühl der Liebe zur Evangelischen Kirche, die doch auch schon die Kirche Paul Gerhardts und Johann Sebastian Bachs gewesen ist und deren Altäre, wenn sie denn überhaupt welche hat, zum Schmuck nicht mehr brauchen als einen wirklich frischen Blumenstrauß. Als Wissenschaftler muss ich jedoch zu erkennen suchen, ob die entscheidenden theologischen Gesichtspunkte, die von der Reformation im 16. Jh. eingebracht worden sind, aus heutiger Sicht unumgänglich die Bildung einer eigenen Konfession mit zugehöriger eigener Kirche nach sich ziehen mussten. Verhält sich dies so nach allem, was wir heute sehen können? Oder wäre dieser tief schmerzliche Schritt unter günstigeren historischen Umständen und bei größerem Einlenken auf allen Seiten auch vermeidbar gewesen? Ist er jedenfalls heute revidierbar, wenn sich die Konfessionen Schritt für Schritt aufeinanderzubewegen? Diese auf der ganzen Welt heute oft er­wogenen Fragen möchte ich im Folgenden auf nur eine Unterfrage zuspitzen, nämlich: War die Reformation – vorausgesetzt, dass sie eine gewisse innere Einheitlichkeit hatte4 – insgesamt der Versuch einer Wiederherstellung der Kirche (im Sinne eines Überwindens und Abstreifens von Fehlentwicklungen in der Kirchengeschichte) oder war die Reformation das Ereignis der geschichtlichen Ankunft und der Setzung einer neuen, so noch nie dagewesenen Form des Christlichen?5

II.


Ich setze ein mit einer von Werner Elert in dessen Morphologie des Luthertums gegebenen Erläuterung, wie es zur Entstehung der Evan­gelischen Kirche gekommen sei. Elert wies darauf hin, dass zunächst der (im Endergebnis dann glücklicherweise nicht stichhaltige) Verdacht habe aufkommen können, Luther habe ein ganz neuartiges, nämlich ein von seiner kirchlichen Verfasstheit und Exis­tenzweise gelöstes Christentum angestrebt – einen christlichen Glauben ohne Kirche. »Es konnte eine Zeitlang scheinen, als sei die Reformation im Sinne Luthers Zerstörung oder Aufhebung der Kirche [überhaupt]. Es gab dafür drei Akte. Der erste war die Zertrümmerung der kirchlichen Autoritäten« – und zwar nicht nur der des Papstes, sondern auch der der allgemeinen Konzilien. Als Nächstes warf Luther »das kirchliche Gesetzbuch ins Feuer« und traf damit nicht nur »die rechtlich geordnete Form der Kirche«, sondern die gesamte »bestehende Sozialordnung«. Auch übergab er alle kirch­lichen Rechtsangelegenheiten de facto der weltlichen Obrigkeit und profanierte so den zuvor sakralen Charakter der Kirchenordnung. Und was dann von der Kirche noch übrig war, wurde »durch den dritten Akt getroffen und zerstört«, nämlich »durch die Proklamation des ›Priestertums aller Gläubigen‹«. Jetzt bestand die Kirche nur noch aus einer Masse motivierter christlicher Individuen, die sich potentiell auch in weltlichen, z. B. nationalen Organisationsformen zusammenfassen ließen. Nach allen diesen Ausführungen endet Elerts Darstellung folgendermaßen: Luther hat gleichwohl am Ende des Tages der »Kirche ... nicht entrinnen« können. Das klingt eigentümlich: so als sei das, was nach kam, theologisch nicht über jeden Zweifel erhaben, weshalb es dann auch nicht ganz unerwartet kam, wenn im 19. Jh. einige diese Kirche in den sittlichen Staat hinein aufheben wollten. Jedoch ist dies Elerts Schlussfolgerung gerade nicht, sondern er urteilt: Die Kirche ist Luther in einer neuen Form wiedergeschenkt worden. Die von Luther formulierte Rechtfertigungslehre zielt ja auf Tröstung des geängstigten Gewissens bzw. des vereinsamt und verlassen in sich selbst hinein verkrümmten Menschen. Darf ich nun »von mir selbst glaubend gewiss sein, dass ich kraft göttlichen Urteils« eben doch »zu den Heiligen gehöre, so bin ich also nicht mehr allein. Ich stehe dann wirklich in der ›Gemeine der Heiligen‹ ...«; und diese »nennt der ›Glaube‹ ... Kirche«.6

Wir fragen: Tat der Glaube dies immer schon? Hatte sich die Kirche durch ihre besten Vertreter aus der älteren Zeit genau so selbst verstanden? Oder tat sie das erst jetzt? Vieles spricht dafür, dass diese Kirche der zentralen Orientierung an der Rechtfertigung des Gottlosen doch einen neuartigen Typus darstellt.

Elerts Deutung des Kirchenverständnisses Luthers findet sich ähnlich auch in der römisch-katholischen Konfessionskunde. Das bedeutet nicht, dass es dort anerkannt und als katholisch eingestuft würde, sondern dass auch dort gesagt wird: In dieser Weise verhält es sich bei den Evangelischen mit dem Verständnis der Kirche. Zu scharfen Abgrenzungen römisch-katholischer Ekklesiologie hiergegen kam es, abgesehen vom Konzil zu Trient (1545–1563), im 19. Jh., das zur Zuspitzung unserer Fragestellung besonders viel beigetragen hat. Der herausragende römisch-katholische Lehrer der Konfessionskunde war im 19. Jh. Johann Adam Möhler (1796–1838). In seiner glänzend geschriebenen und seit 1832 in über 30 Auflagen erschienenen »Symbolik« charakterisierte Möhler sowohl Luthers wie auch Calvins Verständnis der Kirche folgendermaßen: Luthers Ekklesiologie geht, anders als die römisch-katholische, von der unsichtbaren Kirche aus, die Luther sozusagen von der Kirche ›nach dem Fleisch‹ (oder auch von dem Israel kata sarka) unterscheidet. Zugleich geht Luther auch vom subjektiven, geistgewirkten Glauben der Chris­ten aus: Die wahre Kirche ist Kirche des Glaubens.7 Calvins Ekklesiologie übernahm volständig Luthers Zu­gangsweise.8 Aber Calvin hat Konsequenzen gezogen aus dem von ihm beobachteten kirchenverwüstenden Subjektivismus und aus der »grenzenlosen Willkür« auf dem täuferisch-spiritualistischen Reformationsflügel. Mit seiner Prädestinationslehre und ferner mit seiner Lehre vom vierfachen kirchenleitenden Amt war Calvin von zwei Seiten her bestrebt, den objektiven Bestand von Kirche,9 auch den äußeren Bestand einer die Menschen zu ihrem Heil hin erziehenden sichtbaren Kirche, zu sichern. Calvin trug, schrieb Möhler, »sorgfältig Alles zusammen, was von jeher über die Kirche Gutes oder doch für seine Zwecke Brauchbares gesagt worden war, und nahm sogar kein Bedenken, manche Blumen aus dem [bei den Protestanten] verhassten Corpus juris canonici in seinen Garten zu verpflanzen; freilich ohne ihre Herkunft namhaft zu machen«.10 Möhler führte dann weiter aus, Calvins Versuch der Korrektur an Luther sei zwar verständlich, aber selbstwidersprüchlich,11 da das subjektivistische Vorzeichen der Lutherschen Ekklesiologie gleichwohl übernommen worden war. Dies alles beobachtend, kam Möhler zu dem Ergebnis, dass allein die römisch-katholische Kirche die richtige Mitte zwischen protes­tantischem Subjektivismus und ebenso verkehrtem protestan­tischem Objektivismus halte. Das katholische Kirchenverständnis ist von vornherein das Integral oder die dialektische Synthese, welche die inneren Gegensätze der Reformation zukunftsträchtig über­wölbt.

Möhler hatte zu Beginn seiner akademischen Laufbahn eine theologische Bildungsreise durchführen können, die ihn u. a. nach Göttingen und nach Berlin führte und ihn dort mit angesehenen evangelischen Theologieprofessoren zusammenbrachte, u. a. auch mit Marheineke und Schleiermacher. Möhler lernte dabei vieles an der zeitgenössischen evangelischen Theologie auch zu schätzen. Das macht mit die Qualität seines Lehrbuchs aus. Aber insgesamt beurteilte er den Protestantismus dann doch als ein Gewirr von größeren und kleineren Sekten, 12 die bestimmte katholische Teilwahrheiten vorschnell für das Ganze ausgeben. Die Vielzahl dieser Sekten erklärte er sich daraus, dass der jeweilige Mangel an voller Ka­tholizität bei den Evangelischen zu immer neuen, korri­gieren­den Repräsentationen der vernachlässigten Gesichtspunkte hinführen musste. Ein ähnliches Bild von der evangelischen Ge­samt­landschaft kann noch heute in konfessionskundlichen Texten der Orthodoxen Kirche gefunden werden. 13

Nun hat bereits F. Chr. Baur (1792–1860), Möhlers Tübinger Kollege, als ein in seiner Zeit herausragender Interpret des evange­lischen Christentums Möhlers Sicht der evangelischen Position scharf widersprochen – so scharf, dass Möhler seine Tübinger Heimatuniversität verließ und sich ins sturmfreiere Bayern berufen ließ. Baur schrieb, Möhler habe mit seiner Behauptung, die Evangelischen hätten »das objektiv historische Christentum ganz in ihre Subjektivität hineingezogen«,14 die Sache nicht wahrheitsgemäß dargestellt. Möhler habe übergangen, dass bei Luther die un­sichtbare Kirche zwar der Sache nach, aber nicht der Zeit nach vorne steht. Luther hat genauso wie die Katholiken gewusst, dass der Zeit nach eine äußere sichtbare Kirche, ein äußeres geschriebenes und hörbares Wort und ein sichtbares Element beim Abendmahl der Entstehung eines inneren Glaubenslebens beim christlichen Subjekt vorangehen müsse.15 Es sei ihm also nicht um ein ganz anderes Kirchenprinzip gegangen, sondern wirklich um die Zu­rückweisung geschichtlich gewachsener römischer Eigenmächtigkeiten, die, für die Tradition der sichtbaren Kirche Unfehlbarkeit be­anspruchend, gleichzeitig dem Evangelium in den Weg traten.16 Wäre Möhler hinsichtlich der Reformation bei der histo­rischen Wahrheit geblieben, hätte er sehen müssen, dass in der von ihm behandelten dogmatischen Frage der theologischen Verschränkung von sichtbarer und unsichtbarer Kirche kein grundsätzlicher Unterschied zwischen der evangelischen und katholischen Ekklesiologie besteht.17 Die evangelische Verteidigung der »Glaubens- und Gewissensfreiheit« der Einzelnen aber und der evangelische Wille zur »geistigen Selbstständigkeit« der Christen – diese Stärke des evangelischen Kirchenverständnisses stehe auf einem ganz anderem Blatt.18 Nur auf welchem Blatt eigentlich? Das erläuterte Baur in diesem Zusammenhang nicht.

Baurs kurze Charakterisierung des Ineinanders von sichtbarer und unsichtbarer Kirche in Luthers Ekklesiologie scheint mir zu­treffend.19 Sie ist in der Substanz im 19. Jh. auch z. B. von dem eins­tigen Berliner evangelischen systematischen Theologen Isaak A. Dorner (1809–1884) bestätigt und entsprechend weiterentwickelt worden.20 Aber jene andere Frage ist dann trotzdem noch nicht beantwortet, nämlich die, ob für das 16. Jh. und auch für heute von der Notwendigkeit eines neuen, eigenen Kirchentypus namens ›evangelische Kirche‹ auszugehen sei. Das Problem ist jetzt: Diese Notwendigkeit scheint ja sogar dann sehr viel eher gegeben, wenn Möhlers Rede von der evangelischen Subjektivität Recht hätte, als wenn sie nicht Recht hätte. Ich frage daher noch einmal: Hat das reformatorische Glaubensverständnis wirklich nur der Wiederherstellung der katholischen Kirche gedient? Dann wäre es in der Tat ein Verhängnis, dass die Reformatoren der Bildung einer eigenen evangelischen Kirche nicht entkommen konnten. Ich kann die Frage auch so formulieren: Hatten Katholiken und Orthodoxe Recht mit der Meinung, sie seien mit ihrer Opposition gegen die Reformation treu bei dem geblieben, was die Kirche immer lehrte und gewesen ist; nicht sie seien, gemessen an den kirchlichen Anfängen, die Neuerer, sondern die Protestanten seien es?

Gerade so sah es jedenfalls Möhler. In der katholischen Kirche sah er die getreue Entsprechung zur Inkarnation des Wortes Gottes in Christus. Gottes Wort sei Fleisch geworden, weil die Menschen Gott nur auf eine äußerlich wahrnehmbare Weise begreifen. Die katholische Kirche sei in sichtbarer Weise »der unter Menschen in menschlicher Form fortwährend erscheinende, stets sich erneuernde, ewig sich verjüngende Sohn Gottes, die andauernde Fleisch­werdung desselben …«. Hieraus leuchtet aber ein, so endet Möhlers dogmatische Beschreibung der Kirche, »dass die Kirche, obwohl sie aus Menschen besteht, doch nicht bloß menschlich ist«. Sie ist auch göttlich, und beide Seiten wechseln sogar ihre Prädikate: Ist »das Göttliche – der lebendige Christus und sein Geist – ... allerdings das Unfehlbare ..., so ist doch auch das Menschliche« der Kirche »un­fehlbar und untrüglich, weil das Göttliche ohne das Menschliche gar nicht für uns existiert ...«. 21

Möhlers Definition lässt mich nun urteilen: Wenn wirklich das die Römisch-katholische Kirche ist und immer war, dann musste das neutestamentliche Evangelium allerdings irgendwann noch einem anderen Verständnis von Kirche die Bahn brechen, das den Sinn der Inkarnation nicht schlicht aus der Unerlässlichkeit der Anpassung an das menschliche Fassungsvermögen erklärt, sondern aus dem göttlichen Willen heraus, auf diese Weise Sünde und Tod in der Welt des Menschen zu besiegen. Vor allem aber musste und muss das neutestamentliche Evangelium einem Kirchenverständnis die Bahn brechen, in dem die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche nicht als Christus prolongatus identifi­ziert und sogar mit christologischen Prädikaten beschrieben wird. Es musste und muss die Kirche in der Tat von Grund auf anders auf Jesus Christus bezogen werden, als dies von Möhler als ›urkatholisch‹ vertreten wurde. In präziser Unterscheidung zwischen Kirche und Jesus Christus musste und muss Kirche beschrieben werden als Gemeinschaft der von Jesus Christus als ihrem Haupt und spiritus rector ergriffenen und auf seinem Weg mitgenommenen Menschen, die sich (auf Grund dieser Kommunikation Jesu Christi mit ihnen) um das eigene Heil, um Annahme oder Verwerfung, keine Sorgen mehr machen.22 Das ist Luthers mit Subjektivismus nicht zu verwechselnde, christologisch begründete ›Heilsgewissheit‹. Die Evangelischen charakterisieren die Kirche nicht als ›Weg zum Heil‹ (der ist ja gerade Christus23), sondern als Weg des Heils, als Heilsgemeinschaft, als communio sanctorum, die Gott im Loben, Danken und in freudiger Erkenntnis seines Willens dient.24

III.


Der als Nachfolger Isaak August Dorners 1883 nach Berlin auf den Lehrstuhl Schleiermachers berufene Julius Kaftan (1848–1926), der als »der Dogmatiker des liberalen Ritschlianismus« galt, meinte, das reformatorische Verständnis der Offenbarung des Wortes Gottes in Jesus Christus stehe in einem wesenhaften Gegensatz zum katholischen Verständnis. Der Protestantismus sei »eine geschichtlich spätere Gestalt des Christenthums«, und er habe von Haus aus nicht bloß die Reinigung, sondern die vollständige »Erneuerung« des bisherigen Katholizismus angestrebt. Nicht mehr ist also ein altes Haus renoviert worden, sondern an der alten Stelle wurde ein neues Haus gebaut. Dem Protestantismus sei es unmöglich, »den Katholicismus als eine gleichberechtigte und gleichwerthige Ge­stalt des Christenthums anzuerkennen«.25 Kaftan scheute sich in der damaligen Kulturkampfzeit nicht, von »der Abweichung des Ka­tholizismus vom Christenthum« zu sprechen,26 und diese be­stehe in der Anknüpfung Roms an die natürliche Religiosität der heidnischen Welt von Anfang an, durch die das Christentum zum Katholizismus »umgebildet« worden sei.27 Nur diesem urkatho­lischen Anknüpfungswillen hätten wir auch die altkirchliche Form der Inkarnationslehre zu verdanken: Die Fleischwerdung des göttlichen Wortes wurde als ein eigenes ›historisches Ereignis‹ am Anfang der Sendung Jesu aufgefasst, gleichzeitig aber auch als sa­kramentaler Vollzug von Kirche. Statt der Auferstehung Christi ist auf diese Weise die Menschwerdung »das für den Glauben und die Lehre entscheidende Ereigniß« geworden.28 Kaftan stellte also Auferstehung versus Inkarnation! »Anstatt des geschichtlichen Ereignisses der Auferstehung Jesu von den Toten, in welchem sich der Ertrag des Lebens Jesu« als der »Offenbarung Gottes ... zusammenfasst«, tritt nun im Katholizis­mus »an die maaßgebende Stelle das physische oder hyperphysische Ereigniß seine Menschwerdung, welches mit dem ge­schichtlich offenbaren Jesus ... nur ... künstlich ... ausgeglichen« werden kann.29 Kaftan systematisierte das Ganze zu­letzt in folgender Un­terscheidung: Der Katholizismus machte Christus, seine Tätigkeit und seine Person, zur Voraussetzung un­seres Heils, das nun in der Kirche ergriffen werden kann, die Evangelischen aber treten zusammen in der gemeinsamen Auffassung, in Christus selbst das Heil zu finden. Diese grundevangelische Auffassung einige sie und verleihe der evangelischen Kirche Kontinuität.30

Soweit Kaftan, dessen griffige Formeln allerdings mit Vorsicht entgegengenommen werden müssen. Denn: Voraussetzung und Inhalt des Heils liegen auch in katholischer Sicht sehr viel mehr ineinander, als Kaftan behauptet hat.31 Und umgekehrt ist klarzustellen, dass auch die römisch-katholische Ekklesiologie – selbstverständlich! – zwischen Kirche und Christus in bestimmter Weise unterscheidet; also nicht einfach meint, dass sie, zum Sakrament geworden, jetzt das ist und wirkt, was zuvor Christus war und tat. Nein, auch in katholischem Verständnis wirkt der erhöhte Chris­tus jetzt immer auch noch selbst; er wirkt synchron mit dem kirchlichen Handeln auf Erden mit. Er ist nicht das entschwundene, sondern das lebendig bleibende Haupt der Kirche. Die authen­tische katholische Lehre lautet wie folgt: »Das unsichtbare Haupt der Kirche ist der erhöhte Christus. Petrus vertritt [nur] in der äußeren Regierung der streitenden Kirche Christi Stelle ...«.32

IV.


Zu fragen ist nun allerdings, wie sich die Vollmacht des unsichtbaren und die Vollmacht des sichtbaren, ›streitenden‹ Kirchenregiments in der römisch-katholischen Ekklesiologie zusammenordnen. Wie stehen Papst, Bischof und Priester zu Christus? Wie steht das allgemeine Priestertum zu Christus, und wie steht es dann auch wiederum zum Amtspriester oder dem ordinierten Pfarrer? Wer wird von wem auf welche Weise vertreten?

Bei der Bewertung dieser oft an die ›Ämter‹ gebundenen Stellvertretungen liegt vermutlich die Hauptdifferenz zwischen evange­lischer und römisch-katholischer Ekklesiologie. Ist also das konfessionell eigentlich Trennende eine Differenz im Verständnis des kirchlichen Amtes? M. E. ist die Ämterfrage als solche sekundär, die theologische Sicht der Stellung der Kirche zu Christus aber dürfte die alles entscheidende ökumenische Frage sein. Hier zeigt es sich, ob es nach wie vor mehrere Grundtypen der christlichen Kirche wird geben müssen. Näherhin geht es um die Frage des rechten Verständnisses der Inkarnation, sie ist wohl das wichtigste Thema künftiger ökumenischer Gespräche (vgl. o. Abschnitt II). 33

Trotz der Faszination, die heute ausgehen kann von der Struktur einer zentral geleiteten Weltkirche durch ein einziges weltweit ›sichtbares‹ Oberhaupt, das sogar mit Bedacht immer noch einem sehr kleinen politischen Staat vorsteht, scheint es mir nach wie vor keine Frage zu sein, dass die una, sancta, catholica, apostolica ecclesia auch ganz anders organisiert sein kann, als es auf die Römisch-katholische Kirche, auf die Orthodoxe Kirche oder auch auf deutsche evangelische Landeskirchen zutrifft. Echte Kirche kann selbstverständlich z. B. auch freikirchlich strukturiert sein. Weltweit ge­sehen, fehlt es so organisierten Kirchen oft auch keineswegs an Zukunftsfähigkeit, jedenfalls nicht am Charisma, sich im Globalisierungsprozess passend zu bewegen. Es scheint mir auch keine theologisch entscheidende Frage zu sein, ob Kirche mehr von oben nach unten oder mehr von unten, sprich: von den Gemeinden vor Ort aus, nach oben hin organisiert ist. Entscheidend ist doch vielmehr, dass immer eine innere organische Einheit aller Ebenen in dem Gefüge der Kirche zu konstatieren ist und dass Kirche auf allen Ebenen auf Christus hörende Gottesdienstgemeinde ist, weil nämlich auf allen Ebenen der Kirche gesagt werden muss: »Nun aber nicht ich, sondern Christus in mir«.34 – Dann aber hat wirklich der auferstandene, erhöhte Christus selbst die einheitsstiftende Funktion in der Kirche!

V.


Der ›Einheitsdienst‹ für die Kirche und die Sorge für ihre Katholizität kann in evangelischem Verständnis nur von IHM, von Chris­tus, ausgeübt werden. Evangelische Kirche ist nicht einfach die Kirche des exklusiv geltenden sola scriptura, nicht einfach die Schrift- und Bibelkirche, als die sie so häufig apostrophiert wird. Denn das sola scriptura ist nur die Hülle des eigentlich gemeinten solo Christo! Aus evangelischer Sicht vermag gerade die unsichtbare Christusgegenwart die äußere, sichtbare Organisation und Einheit der Kirche zu formieren. Das hieraus resultierende allgemeine Pries­tertum der Gläubigen meint weniger jedem Christenmenschen zustehende kirchliche Ausübungsrechte als vielmehr, dass jeder einzelne Christenmensch zu bestimmten Aspekten von Chris­ti Priesteramt hin bestimmt ist, die übernommen und verinnerlicht werden sollen. Allgemeines Priestertum meint auch, dass die gerechtfertigten Gläubigen in ihrer Gesamtheit den unsichtbaren Christus als Organgemeinschaft sichtbar abzubilden haben in einer priesterlichen und Nächstenliebe praktizierenden Gestalt. Es gibt hierbei durchaus einen Gestaltungswillen der Evangelischen Kirche im Bereich des Sichtbaren – positiv so, dass Christus selbst sichtbare Gestalten gewinnen möge, negativ aber durch die Pflicht, sich von solchen kirchlichen Gestaltungen, die sich als fürs Evangelium hinderlich erweisen, energisch wieder zu trennen.

VI.


Alles soeben Gesagte bezog sich übrigens auf die recht verstandene Katholizität der Kirche. Das Kirchenprädikat ›katholisch‹ verweist letztlich auf den Christusbezug! ›Katholisch‹ meint nicht einfach ›weltumspannend‹. Es bezeichnet auch nicht das immer und überall und von allen Geglaubte. Bischof Ignatius führt vielmehr auf die richtige Spur: »Wo Christus ist, da ist die katholische Kirche.«35 Das Adverb katholou bedeutet profangriechisch »vollständig«, »vollkommen«, »allgemein(gültig)«. Katholisch ist die Kirche, indem sie Christus als umfassende Letztoffenbarung Gottes bekennt. Die Ka­tho­lizität der Kirche spiegelt »die urchristliche Überzeugung« wi­der, dass in Jesus Christus der ganzen Menschheit die Fülle (pleroma, Kol 2,9 f.; Joh 1,16 u. ö.) des Heils offenbart« ist und dass durch den bis ans Weltende bei den Seinen bleibenden Jesus Chris­tus das eine eschatologische Gottesvolk aus Juden und Heiden ermöglicht ist (vgl. Eph 2,11–22).36

Es wundert mich schon lange, dass unsere Evangelische Kirche das Apostolische Glaubensbekenntnis bis auf das einzige Wort ›ka­tholisch‹ mit den römischen Katholiken gemeinsam spricht, je­doch hier, um nach verschiedenen Seiten hin zu schonen, von der »heiligen christlichen Kirche« spricht, obwohl es doch weder eine jüdische noch eine muslimische, buddhistische Kirche oder sonst eine nichtchristliche Kirche gibt. Auch evangelische Kirche muss ja katholisch sein wollen, sie muss hinsichtlich dieses Prädikats in gesunder Weise mit seinen sonstigen Benutzern konkurrieren. Wäre sie denn sonst Kirche, wo sich doch deren vier Wesenseigenschaften una, sancta, catholica, apostolica ohne Ausnahme wechselseitig brauchen und gegenseitig interpretieren? Nein, will sie selbst nicht katholisch sein, ist sie in der Tat noch nicht Kirche im Vollsinn des Wortes.

Die gewisse Ratlosigkeit gegenüber der eigenen Katholizität ist m. E. nur ein Indiz dafür, dass der evangelische Kirchentypus seine volle geschichtliche Entfaltung noch gar nicht erreicht hat. Die ekklesiologischen Notbauten des 16. Jh.s werden vielfach wie vermeintlich bleibend gültige, normative Vorgaben evangelischer Kir­chenstruktur heute noch erhalten – ob nützlich oder nicht. Die veraltete Benennung Protestantismus wird leider sogar zur stolzen Selbstbezeichnung der Evangelischen noch immer verwendet. Oft missverstanden wird auch die Aussage von Confessio Augustana VII, dass es »zur wahren Einheit der Kirche genügt, über den Inhalt des Evangeliums und über die Verwaltung der Sakramente übereinzustimmen«. Auf der einen Seite wird oft gemeint, dass wir ja wenigstens in diesen grundlegenden Dingen interkonfessionell übereinstimmen, was aber nicht einmal innerevangelisch der Fall ist, und auf der anderen Seite, dass evangelische Kirche zu ihrer Entfaltung gar nichts anderes haben dürfe als eben Predigt, Taufe und Abendmahl, ja, dass alles hierüber Hinausgehende schon Allotria sei. – Auch Diakonie, auch Klöster, auch der Bezug der Kirche auf die Heiligen, auch eine Verbindung von Kirche und Kunst? Ich beklage: Fast alles, worin sich die mystische Einheit des Leibes Christi in der Gemeinschaft der zeitlichen mit der überzeitlichen Kirche aussprechen kann, ist im gegenwärtigen evangelischen Gottesdienst zu seinem eigenen Nachteil zurückgetreten.

VII.


So ist es mir evident, dass die Evangelische Kirche es immer noch nötig hat, sich innerevangelisch – Lutheraner, Reformierte, Methodisten, Baptisten und andere – über den rechten Christusbezug der Evangelischen Kirche zu verständigen. Die Evangelische Kirche weiß ja immer noch nicht einhellig, in welcher Freiheit sie zu ›Schrift und Tradition‹ steht oder auch nicht steht, wie sie zur philosophischen und naturwissenschaftlichen Aufklärung der Neuzeit steht usw. Möglicherweise finden sich die unfreiesten und fundamentalistischsten Engführungen christlichen Glaubens und Denkens heute gerade in Bereichen der Evangelischen Kirche.

R. Bultmann hatte vor einem halben Jahrhundert die Frage zu beantworten, ob das christologische Bekenntnis des Ökumenischen Rates der Kirchen zureichend sei. Seinerzeit war in Amsterdam formuliert worden: Der Ökumenische Rat akzeptiert alle, »die Jesus Christus als Gott und Heiland anerkennen«. Ist dies dem Neuen Testament gemäß? Der gelehrte Bultmann antwortete vor großem Publikum in der Schweiz: »Das weiß ich nicht.«37 Es wäre nun verkehrt, in dieser Antwort einfach eine schöne pluralistische Offenheit zu erblicken. Vielmehr liegt in ihr der Hinweis auf eine noch nicht eingelöste Aufgabe evangelischer Selbstklärung. Es darf und soll evangelische Vielgestaltigkeit geben, aber es muss auch evangelische Katholizität und christologische Einhelligkeit geben. Im­mer noch benötigt wird die ökumenische Vorstufe einer innerevangelischen Verständigungsphase mit christologischer Tie­fenschär­fe, auch wenn dies als ein historischer Schritt zu­rück oder als ein ›Gegenmeilenstein‹ erscheinen könnte.

VIII.


Kehren wir nun zu unserer Ausgangsfrage zurück. Wir können jetzt zu einer gewissen moralischen Entlastung des interkonfessionellen Klimas konstatieren: Kirche im Verständnis der Reformation ist nicht eine ›gereinigte‹ römisch-katholische Kirche, auch wenn die Reformatoren selbst, am meisten vielleicht Zwingli,38 vielfach dieser Auffassung waren. Schleiermacher hatte Recht, wenn er in seiner berühmten Bemerkung über die die Konfessionen kennzeichnende unterschiedliche Sicht des Verhältnisses von Kirche und Christus formulierte, aus der Reformation sei eine »eigentümliche«, sprich eine so bisher noch nicht da gewesene »Ge­stal­tung der christlichen Gemeinschaft« hervorgegangen.39 Eine neue Stufe des Verständnisses und der Verwirklichung von christlicher Kirche wurde unter vollmächtiger Predigt des Evangeliums er­reicht, und dies trug mit zum Werden der sog. Neuzeit bei.

Was wir die Evangelische Kirche nennen, hat es also vor dem 16.Jh. so noch niemals gegeben. Aber sie hatte sich in der katholischen Kirchengeschichte schon vorbereitet. Außerdem entfaltet sie sich auch jetzt immer noch ein Stück weiter, obwohl sie bereits als ein eigener Typus der einen Kirche in Erscheinung getreten ist. Für ihre eigene Erkennbarkeit im Bilde Christi muss die Evangelische Kirche jedoch noch besser sorgen. Weil hier eine gewisse Deutlichkeit aussteht, ist ihr geschichtliches In-Erscheinung-Treten noch nicht abgeschlossen. Ihre Zukunft hängt nicht nur an Strukturfragen bzw. an strukturellen Anpassungen, sondern an in­haltlichen theologischen Erkenntnissen, die ihr Leben in und aus Christus betreffen. Wichtig ist für die Evangelische Kirche auch, dass sie mit anderen geschichtlich gewachsenen Ausprägungen der Kirche in geistlicher Freundschaft, Weggemeinschaft und in einem Verhältnis des Voneinander-Lernens steht.

IX.


Mit Recht hat schon der evangelische Jurist Julius Stahl (1802–1861)– ebenfalls im 19. Jh. in Berlin – dem reformierten schweizer Pfarrer Alexandre Vinet (1797–1847) kritisch entgegengehalten, Kirche entstehe nicht immer wieder neu, wenn Einzelne z. B. durch ihr Bibelstudium zur christlichen Einsicht bzw. zum Glauben ge­langen, sondern Kirche lebe durch die »ununterbrochene Strömung des Geistes« und sie sei für den einzelnen Christen auch schon vorgegeben.40 Die Evangelischen müssten sich hüten, den Eindruck zu erwecken, sie hielten die »unendliche Zersplitterung in individuelle Systeme der religiösen und moralischen Ansicht« für ein höchstes kirchliches »Gut« bzw. für ein »Zeichen des gesunden Zustandes der Kirche«.41

In der Tat: Recht verstandene Kirche ist etwas, das individuelle Lebensentwürfe sowohl gelten lässt als auch übergreift. Gerade erst aus dem Übergreifenden heraus, in dem Christus als Haupt sich selbst vermittelt, wird das einzelne individuelle Glied in die Kirche hineingenommen und erbaut. Das sollte immer noch deutlicher hervortreten, und gleichzeitig muss das eigene Bemühen der evange­lischen Kirche dahin gehen, dass sich durch sie nicht auch noch vieles andere in der Welt abbilden möge als Christus selbst. Hier, in dieser »ekklesiologischen Sparsamkeit«, geht die Evangelische Kirche aufs Ganze, hier hat gerade sie ihr Charisma und erfüllt in eigener und unersetzbarer Weise das kirchliche Prädikat der Katholizität; hier erweist sie sich im Übrigen als so alt wie das Christentum selbst.

Die Reise eines Geistereignisses wie der Reformation durch die Geschichte ist etwas Spannendes. Sie ist Forschungsgegenstand für Hermeneutiker und verlangt vom aufmerksamen Mitreisenden, sich für Reise-Überraschungen offen zu halten: z. B. auch für die, dass Katholiken, Orthodoxe und Evangelische sich über die Frage, wie die Kirche zu Christus steht, in nicht zu ferner Zeit systematisch-theologisch und spirituell sehr nahe kommen könnten. Oder für die Überraschung, dass die Kulturbedeutung der evangelischen Kirche und Theologie doch noch nicht beendet ist, sondern dass sie künftig, anders als leider in den zurückliegenden 40 Jahren meiner Lehrtätigkeit, wieder erneut wesentliche Bei­träge leisten können, die eine größere Öffentlichkeit interessieren.

Es ist angemessen, das Vorgetragene mit einem Hinweis auf Dietrich Bonhoeffers geschichtlich noch nicht abgegoltenes ekklesiologisches Vermächtnis abzuschließen. Bonhoeffer wurde es in seinen letzten Lebensjahren immer wichtiger, dass Christus, wie er lapidar sagte, in der Welt »Gestalt gewinnt«.42 In seinem fragmentarischen Spätwerk »Ethik« wurde in der neuesten Textanordnung folgende Aussage Bonhoeffers zur Situation der Kirche an den Schluss gestellt: »Es ist die Gefahr des Katholizismus, dass er die Kirche wesentlich als Selbstzweck versteht auf Kosten« der immer neuen Auslegung Christi für die heutige Welt. »Es ist umgekehrt die Gefahr der Reformation, dass sie auf Kosten des eigenen Be­reichs der Kirche allein das Mandat der Wortverkündigung ins Auge fasst« und so ihr inneres geistliches Eigenleben als Leib Chris­ti vernachlässigt. Bonhoeffer beklagt hier u. a. eine evangelische »liturgische Armut«, »Schwäche der kirchlichen Ordnung«, weitgehendes Fehlen »geistlicher Exerzitien«, Unklarheiten im Ämterverständnis (und damit im Wirken für die Kontinuität der Kirche) und auch ethische In­kompetenz beim gemeinschaftlichen Tragen z. B. vom Staat verfolgter Kriegsdienstverweigerer. Ein überprofiliertes »Interesse an dem Auftrag der Kirche für die Welt«, so schrieb ausgerechnet Bonhoeffer, hat die Evangelischen dazu gebracht, »dass der innere Zu­sammenhang dieses Auftrags mit dem eigenen kirchlichen Bereich übersehen wurde.« 43 Trotzdem konnte auch für Bonhoeffer gerade die evangelische Kirche Heimat auf höchstem Niveau sein. Seine Liebe galt dem »Christus, als Gemeinde existierend«. Eine Formel, die nah am katholischen Kirchenverständnis Johann Adam Möhlers zu sein scheint, aber bei Bonhoeffer doch in einen anderen hermeneutischen Kontext hineingehört. Vielleicht werden Spätere diesen Kontext, was mich freuen würde, als evangelisch-katholisch identifizieren.

Die römisch-katholische Welt hat mit und seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil einen großen Schritt der eigenen Weiterentwicklung getan – und dabei auch manches Reformatorische eingeholt. Möge es zu einer nicht geringeren theologischen Anstrengung der Selbstbesinnung auch in der evangelischen Welt kommen, damit das, was wir lieben, nicht nur bleibt, sondern wird.

Summary


In his farewell lecture on the occasion of his forthcoming retirement, the Berlin theologian Christof Gestrich raised the question: Is the Protestant church the result of the elimination and correction of human deformations of the church (as the Reformers themselves believed); or is it the histor­ical appearance of a new, theologically deeper church form? In the hermeneutic debate with the Roman Catholic and Orthodox understanding of the church and the teachings of earlier Protestant theologians at Berlin University (F. D. E. Schleiermacher, I. A. Dorner, J. Kaftan and D. Bonhoeffer) Gestrich views the Protestant church as a new historical form of Catholicism. The Catholicism of the church arose from its relationship to Christ, whose incarnation serves the church and is not replaced or continued by it. The Protestant church rests upon this self-conception and is itself catholic. In future ecumenical debate it is not only the question of holy orders that needs to be addressed, but also – and more fundamentally – the relationship between church and Christ, between the priesthood of Christ and the priest­hood of the church members.

A central point to be dealt with in this must be the question of the ecclesiological significance of the incarnation. Worldwide, evangelical denominations require a Christological self-contemplation as preparation for a new phase of ecumenical debate: an inner communication of how they anticipate and receive the »ec­clesiastical service for unity« from Jesus Christ (and not from the Papacy). Concurrent to F. Chr. Baur, Gestrich does not see fun­damental confessional differences in the comprehension of the vis­ible and invisible church. Gestrich considers comprehensive ecumenical agreement on the theological co-ordination of »Christ and church« to be by all means possible.

Fussnoten:

1) Vortrag in der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin am 14. Februar 2007 anlässlich der bevorstehenden Emeritierung des Autors.
2) Vgl. das von Papst Benedikt XVI im Frühjahr 2007 erneut bestätigte Do­kument der römisch-katholischen Kongregation für die Glaubenslehre vom 6. August 2000 »Dominus Jesus« einerseits und andererseits die »Beschlüsse der Moskauer Jubiläums-Bischofssynode vom 13.–16. August 2000 über die grundlegenden Prinzipien der Beziehung der Russischen Orthodoxen Kirche (ROK) zu den Nicht-Orthodoxen«.
3) Vgl. Mt 18,20.
4) Zur Diskussion dieser Frage: Berndt Hamm/Bernd Moeller/Dorothea Wendebourg, Reformationstheorien. Ein kirchenhistorischer Disput über Einheit und Vielfalt der Reformation, Göttingen 1995.
5) Zweifellos waren die Reformatoren selbst der Meinung, ›zwischeneingekommene‹ Irrtümer und Fehlentwicklungen der Römischen Kirche erkannt und beseitigt zu haben mit Gottes Hilfe und unter der Zustimmung vieler Chris­ten, die schon lange auf diese Wiederherstellung gewartet haben. Z. B. wird dies durch Luthers Stellung zur Alten Kirche bestätigt. In der für Luthers ausgereifte Ekklesiologie besonders aufschlussreichen Schrift »Wi­der Hans Worst« (1545) behauptete der Reformator, man sei in Wittenberg »bey der rechten alten kirchen blieben«. Von den Seinen und sich selbst sagte der Reformator sogar, dass »wir die rechte alte kirche sind« (WA 51,478,17)! Demnach wurde die Reformation als ›Befreiung‹ von verschiedenen das neutestamentliche Evangelium entstellenden menschlichen ›Zusätzen‹ (›Menschensatzungen‹) ver­standen und als ein Anknüpfen an die Linie der schriftgemäßen Lehre, die von der Alten Kirche an über verschiedene Zeugen (z. B. Wiclif und Hus) – vom häretischen Rom zu­neh­mend verketzert – kontinuierlich da war. Luther meinte, dass gerade er in der Sache nichts Neues in die Christenheit hineingebracht habe: Dieweil wir alle »Teu­feley und Newerey meiden und fliehen, und wider zu der alten Kirchen, der Jungfrauen und reinen Braut Chris­ti halten, sind wir gewislich die rechte alte Kirche, ohn alle Hurerey und Newrey, die bis auf uns daher blieben ...« (WA 51,498,28 ff.). Vgl. zu der ganzen Frage auch die Spezialuntersuchung: Wolfgang Höhne, Luthers Anschauungen über die Kontinuität der Kirche (AGThL XII), Berlin-Hamburg 1963.
6) Werner Elert, Morphologie des Luthertums I, München 19653, 224–226.
7) Johann Adam Möhler, Symbolik, oder Darstellung der dogmatischen Ge­gensätze der Katholiken und Protestanten nach ihren öffentlichen Bekenntnissschriften, 9. unveränderte Original-Aufl., Mainz 1894, 419 f.: »Die Katholiken lehren: die sichtbare Kirche ist zuerst, dann kömmt die unsichtbare: jene bildet erst diese. Die Lutheraner sagen dagegen umgekehrt: aus der unsichtbaren geht die sichtbare hervor, und jene ist der Grund von dieser. In diesem scheinbar höchst unbedeutenden Gegensatze ist eine ungeheure Differenz ausgesprochen.« Für Luther gilt auch: »Zuerst ist das christliche Bewusstsein (interior claritas sacrae scripturae), dann kömmt auch die äußere Gewissheit.«
8) A. a. O., 432.
9) Vgl. a. a. O., 121: Die Vorstellung, dass ein fester Bestand von zum Heil prädestinierten Menschen von vornherein da sei, verleiht der Kirche eine eigentümliche Objektivität. Die Kirche wird unabhängig vom subjektiven Glaubensbewusstsein.
10) A. a. O., 433.
11) A. a. O., 437: »Calvin«, schrieb Möhler ironisch, »ist ... unerschöpflich in Widerlegung seiner selbst ...«.
12) Nachdem Möhler Luthers Kirchenverständnis und danach dasjenige der Reformierten dargestellt hatte, behandelte er in seiner »Symbolik« in einem weiteren Schritt die Ekklesiologie der »kleineren protestantischen Sekten: Wiedertäufer, Quäker, Methodisten, Swedenborgianer« usw., a. a. O., 455 ff.
13) Z. B. wird im Anhang des Textes »Grundlegende Prinzipien der Beziehung der Russischen Orthodoxen Kirche zu den Nicht-Orthodoxen« (s. o. bei Fußnote 2) die Auffassung vertreten, die Gründung des Ökumenischen Weltrates der Kirche sei im 20. Jh. aus der Selbsterkenntnis der Protestanten heraus erfolgt, dass jede einzelne evangelische Denomination nur einen Teilaspekt der christlichen Wahrheit repräsentiere, weshalb man sich zusammenschließen und austauschen müsse. Die Rolle der Orthodoxen Kirche im ÖRK sei in dieser Lage die, das kirchliche Ganze einzubringen, das die anderen verlassen hätten, um so dem ökumenischen Verständigungsprozess zugleich das Ziel vorzugeben.
14) Ferdinand Christian Baur, Der Gegensatz des Katholizismus und Protes­tantismus nach den Prinzipien und Hauptdogmen der beiden Lehrbegriffe. Mit besonderer Rücksicht auf Herrn Dr. Möhler’s Symbolik, 2. verb. Aufl., Tü­bin­gen 1836, 463.
15) A. a. O., 465 ff.
16) Vgl. hierzu: a. a. O., 471 ff.
17) A. a. O., 466: Baur spricht von der »völligen Unhaltbarkeit« des Gegensatzes, »in welchem Möhler die Differenz zwischen der katholischen und luthe­rischen Betrachtungsweise auf den bestimmtesten Ausdruck zurückbringen will«. »Hierüber kann zwischen den Katholiken und Lutheranern, der Natur der Sache nach, keine Verschiedenheit der Ansicht sein ...«.
18) Vgl. A. a. O., 496 f.
19) Vgl. allerdings Möhlers Anti-Kritik, in: Johann Adam Möhler, Neue Untersuchungen des Lehrgegensatzes zwischen den Katholiken und den Protes­tanten. Eine Vertheidigung meiner Symbolik gegen die Kritik des Herrn Professors Baur in Tübingen, Mainz 1834.
20) Vgl. Isaak August Dorner, System der christlichen Glaubenslehre, Bd. II (Spezielle Glaubenslehre II. Hälfte), Berlin 18872, 887 ff. (= § 148). – Vgl. ferner ders., Kirche und Reich Gottes, 1883.
21) Möhler, a. a. O., 331–333.
22) Damit ist gesagt: Evangelische Kirche steht auf dem Bekenntnis »es ist das Heil uns kommen her aus Gnad’ und lauter Güte ...« (so der Beginn eines Chorals von Paul Speratus, s. EG 342).
23) Vgl. Joh 14,6.
24) Genau darauf will natürlich auch Friedrich Daniel Ernst Schleiermachers berühmte Formulierung hinaus: »Sofern die Reformation nicht nur Reinigung und Rückkehr von eingeschlichenen Missbräuchen war, sondern eine eigentümliche Gestaltung der christlichen Gemeinschaft aus ihr hervorgegangen ist, kann man den Gegensatz zwischen Protestantismus und Katholizismus vorläufig so fassen, dass ersterer das Verhältnis des Einzelnen zur Kirche abhängig macht von seinem Verhältnis zu Christo, der letztere aber umgekehrt das Verhältnis des Einzelnen zu Christo abhängig von seinem Verhältnis zur Kirche.« (Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der Evangelischen Kirche im Zu­sammenhange dargestellt, 1830 2. Einleitung, Leitsatz zu § 28). Schleiermachers Diktum ist einerseits sehr treffend, andererseits scheint es aber die Notwendigkeit der Kirche als einer missionierenden, erziehenden und zu Christus hinführenden Institution zurückzustellen (und dadurch überzogen zu sein). Hierzu ist zu sagen, dass zwischen Evangelischen und Katholiken aber gerade dies strittig ist, ob die Kirche, wie es anscheinend auch Möhler noch tat, ganz oder primär zu definieren wäre durch ihre über Christus informierende und zu ihm hinführende Funktion. Die Kirche hat es ja nicht in der Hand, ob ihr Informieren und Hinführen überhaupt christlichen Glauben erweckt. Nicht sie ist daher die Ermöglicherin des Heils, für das Zeugnis abzulegen sie lediglich nicht lassen kann.
25) Julius Kaftan, Das Wesen der christlichen Religion, Basel 18882, 360.
26) A. a. O., 361.
27) A. a. O., 364.
28) A. a. O., 365.
29) A. a. O., 365 f.
30) A. a. O., 366 ff.
31) Überhaupt lässt Kaftans ganze Argumentation zu wünschen übrig. Evangelische wären schlecht beraten, meinten sie, die Menschwerdung Gottes sei nur ein sekundärer theologischer Gedanke, der eher vom Evangelium ab­lenke. Vielmehr: Kreuzes- und Auferstehungstheologie sind unübertrefflich im frühchristlichen Inkarnationsdogma zusammengefasst! Auch evangelische Theo­logie kann in der Inkarnationsaussage die angemessene Deutung des Chris­tusereignisses sehen, weniger freilich ein noch einmal eigenes historisches Er­eignis neben oder vor Kreuzestod und Auferweckung, als die es die katholische Theologie oft begreift. – Vgl. hierzu: I. U. Dalferth, Der auferweckte Gekreuzigte. Zur Grammatik der Christologie, Tübingen 1994, 1–37.142 ff. Dalferth sieht klar das historische Faktum der frühkirchlichen allmählichen »Interessenverlagerung« von der Kreuzes- und Auferstehungstheologie hin zur Inkarnationsaussage. Er sieht klar auch die deutende Funktion der letzteren, die es zu erkennen gilt, statt von einem ›historischen Faktum‹ zu sprechen. Aber er sieht auch klar den einzigen Auftrag – und die große Möglichkeit – der Inkarnationstheologie, nämlich Kreuz und Auferweckung Jesu theologisch angemessen ›zusammenzudenken‹.
32) Ludwig Ott, Grundriss der katholischen Dogmatik, Freiburg-Basel-Wien 19708, 338. Das eingeklammerte Wort ist durch den Vf. zur Verdeutlichung hinzugefügt.
33) S. bereits I. A. Dorners Neuerschließung der Inkarnationslehre in der vorzüglichen Darstellung der Theologie Dorners durch: Thomas Koppehl, Der wissenschaftliche Standpunkt der Theologie I. A. Dorners, Berlin-New York 1997, 291–326.
34) Vgl. Gal 2,20.
35) Ignatiusbriefe, Sm 8,2.
36) Bernd Oberdorfer, Artikel »Katholizität der Kirche«, in: RGG4, Bd. 4, 2001, (902–905), 902.
37) R. Bultmann, Das christologische Bekenntnis des Ökumenischen Rates (1952/52). In: Ders., Glauben und Verstehen II, Tübingen 1952, 246–261.
38) Vgl. dazu mein Buch »Zwingli als Theologe. Glaube und Geist beim Zürcher Reformator« (SDSTh 20), Zürich 1967, 167–173.
39) S. oben bei Fußnote 24.
40) F. J. Stahl, Die Kirchenverfassung nach Lehre und Recht der Protestanten, Erlangen 1840, 283.
41) Ibid.
42) So zuletzt noch in: D. Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, DBW 8, Gütersloh 1998, 529.
43) D. Bonhoeffer, Ethik, DBW 6, München 1992, 411 f.