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Ausgabe:

Juli/August/2007

Spalte:

889–894

Kategorie:

Literatur- und Forschungsberichte

Autor/Hrsg.:

Wilckens, Ulrich

Titel/Untertitel:

Thomas Södings Antwort auf die Frage nach der Einheit der Heiligen Schrift*

Dieses Buch eines der führenden katholischen Neutestamentler gibt auf die Frage, ob und wie es eine »Einheit der Heiligen Schrift« gebe, eine rundum positive Antwort. Am Ziel des Denkweges, den S. seinen Lesern zu bahnen sucht, erlischt das Fragezeichen des Haupttitels, und es zeigt sich, dass jede »Theologie des biblischen Kanons« es wesenhaft mit der »Einheit der Heiligen Schrift« zu tun hat. Denn die Maßgeblichkeit, die die Alte Kirche den kanonischen Schriften, einzeln wie im Ensemble, zuerkannt hat, gründet in der Erfahrung der Praxis alles kirchlichen Christseins, dass es der eine Gott und der eine Jesus Christus sind, die sich in diesen Schriften der apostolischen Ursprungszeit durch den einen Geist selbst kund­tun.
Gleichwohl setzt S. das Fragezeichen durchaus mit Bedacht. Denn er weiß natürlich, wie grundlegend gerade diese theologische Wertung des Kanons seit der Entstehung der historischen Bibelkritik zur Zeit der Aufklärung in Frage gestellt und wie verbreitet bis in die Gegenwart hinein bestritten wird: In der Vielfalt der im Kanon zusammengestellten urchristlichen Schriften sei – ohne falsche Harmonisierungen – eine einheitliche »Theologie des Neuen Testaments« nicht mehr zu finden. Und als historisch-kritisch arbeitender Exeget hat S. an dieser Problematisierung der Bedeutung des Kanons für die Auslegung der Schriften unvermeidlich selbst teil.
Mit Recht aber weist er darauf hin, dass die bloße Tatsache des immer erneuten Aufflammens der Diskussion um den Kanon die unabweisbare Wichtigkeit des Themas anzeigt – für eine wissenschaftliche Disziplin, deren Aufgabe – jedenfalls ausweislich ihres Namens – die Auslegung des »Neuen Testaments« ist. Wie immer überdies die historisch-kritische Wissenschaft bei der Exegese der neutestamentlichen Texte von deren Zugehörigkeit zum neutestamentlichen Kanon methodisch absehen mag – als der Kirche zugeordnete Disziplin würde sie selbst sehr rasch der Bedeutungslosigkeit in der universitas litterarum verfallen, würde sie nicht mehr fähig oder gar auch nicht mehr willens sein, ihren Beitrag zur Antwort auf die Frage zu geben, worin denn die verbindliche Wahrheit dieser Texte über deren historische Vergangenheit hinaus besteht (vgl. 92–97).
Insofern gehört dieses Buch mit Recht zu den »Quaestiones disputatae«. Seine Bedeutung erhält es durch die Entschiedenheit, mit der S. das Problem von vornherein als Theologe seiner Kirche angeht, die, zumal seit dem 2. Vatikanischen Konzil, die Schriftauslegung als »die Seele der heiligen Theologie« wertet (DV 25) und den Exegeten die Aufgabe zuweist, »die Bibel in dem Geist« zu lesen und auszulegen, »in dem sie geschrieben wurde«, und deswegen über die Einzelexegese hinaus »auf den Inhalt und die Einheit der ganzen Schrift« zu achten habe (DV 122, zitiert: 54). Daraus folgert S., dass das Thema der Einheit der Schrift nicht einfach nur der Autorität der kirchlichen Überlieferung zuzuweisen ist, durch die der Kanon entstanden ist. Vielmehr ist »die Einheit der Schrift … nicht nur die Voraussetzung ihrer Lektüre als Kanon; sie muss sich auch aus der Lektüre der biblischen Schriften selbst ergeben« (14). Innerhalb gegenwärtiger katholischer Theologie ist dies zwar als Postulat vielfach bewusst – aber die geschlossene Ausführung in einem Buch ist ein Novum. Höchst beachtlich ist das Werk auch für evangelische Theologen, erhält doch in der evangelischen Theologie die Aufgabe, in der Vielfalt urchristlicher Theologien nach der diesen zu Grunde liegenden Einheit der Theologie des Neuen Testaments zu fragen, gegenwärtig (wieder) einen wichtigen Stellenwert.
In dieser »Theologie des biblischen Kanons« steht dessen alttes­tamentlicher Teil gleichgewichtig mit dem neutestamentlichen im Blick. Die Frage nach der Einheit betrifft nicht nur das Verhältnis der beiden Testamente zueinander, sondern auch jedes von ihnen für sich. Von daher lässt S. sich dazu herausfordern, in allen Kapiteln seines Buches den gesamten Stoff des Alten Testaments unter dem Aspekt des Forschungsstandes der alttestamentlichen Nachbardisziplin mit einzubeziehen. Bereits dieses ist eine außerordentliche Leistung, die allen Respekt verdient. Die theologische Aufgabe, der er sich stellt, erfordert jedoch über den exegetischen Bereich hinaus auch eine enge Kooperation mit den systematisch-theologischen Disziplinen; und auch darin erweist S. sich als vollauf kompetenter Gesprächspartner. Denn: »Könnte die Einheit der Schrift exegetisch nicht aufgewiesen werden, hinge jede Schrift-Dogmatik in der Luft. Wäre aber die ›Einheit‹ der Schrift nur Gegenstand systematischer Theologie, wären damit die historischen und philologischen Methoden der Exegese theologisch neutralisiert« (34). Insbesondere die ökumenische Theologie in ihrem gegenwärtigen Stand ist ständig präsent.
Es ist weithin gesamttheologisches Neuland, das S. mit diesem Werk betritt. Es kann so nur ein Anfang sein, mit dem er – zusammen mit anderen Exegeten wie Peter Stuhlmacher und Ferdinand Hahn – einen Durchbruch zu einem neuen umfassenden Ernstnehmen des biblischen Kanons in der Exegese des Alten wie des Neuen Testaments initiiert. In diesem Sinn versteht er selbst sein Buch, dem auf jeder Seite die Entdeckerfreude abzuspüren ist, aber auch eine Bereitschaft zu einem akademischen Streit, der ebenso notwendig wie ergebnisfähig ist.
S. markiert zunächst die »Herausforderungen« (18–55), denen jede Frage nach der Einheit der Schrift als Postulat einer theolo­gischen Exegese der alt- und neutestamentlichen Schriften unter der hermeneutischen Voraussetzung der vollen Geltung des bib­lischen Kanons in der Diskussionslage der gegenwärtigen Forschung sich aussetzt – die aber auch umgekehrt auf die Positionen derer zurückschlagen, die sie in Frage stellen: das »Pathos der Pluralität«, die jede Einheit nicht nur faktisch sondern auch wissenschaftsmoralisch ausschließt ( Blumenberg, Assmann, Habermas); der Gegensatz zwischen konsequent religionsgeschichtlicher und kanonorientierter theologischer Exegese (von Wrede bis Räisänen und Theißen); der »Respekt vor der Bibel Israels«, deren christliche »Aneignung« und Interpretation im jüdisch-christlichen Dialog in Frage gestellt wird; und »die Neuheit des Christusgeschehens«, durch die das Alte Testament nach dem Urteil nicht weniger evangelischer Theologen zur bloß historischen Voraussetzung des Chris­tentums und für dieses letztlich irrelevant werde (von Harnack bis Strecker). In diesen vier kritischen Stoßrichtungen sieht S. zwar mehr oder weniger gewichtige Wahrheitsmomente, im Wesentlichen jedoch Gefährdungen der theologischen Aufgabe der Exegese beider Testamente.
Den vier »Herausforderungen« entsprechen vier »Bewährungsfelder« (56–102): Was erstens das Thema »Kanon und Kirche« im »innerkirchlichen Dialog« betrifft, kommt es S. darauf an, dass der Kanon der Schriften der bleibenden Erinnerung der Kirche an das eine Evangelium dient, das als Gottes Wort »das Offenbarungshandeln Gottes« selbst bezeugt. Dies kann auch nur der Sinn der Lehre von der Inspiration der Schrift sein; denn es ist der Geist Gottes selbst, der die Übereinstimmung zwischen dem menschlichen Zeugnis der biblischen Schriften und deren Inhalt, dem Heilshandeln Gottes, bewirkt und gewährleistet (65). In beiderlei Hinsicht dürfe »die Interdependenz von Kanon und Kirche« nicht »ekklesiologisch enggeführt« werden (66) – ein ökumenisch sehr hilfreiches Urteil S.s, nach dem Lu­thers hermeneutischer Grundsatz, dass die Schrift nur deswegen kanonische Autorität hat, weil sie »Christum treibet«, vom Grunde her auch katholischerseits als Prinzip vertreten werden könne (70). Dies wird dann zweitens als »ökumenische Relevanz Biblischer Theologie« entfaltet. Hier beruft S. sich auf Augustinus, um zu zeigen, dass die Einheit der Schrift im »Deus semper maior« die Pluralität der biblischen Schriften geradezu erfordert (78 f.). Drittens: Im Blick auf die Einheit und Unterschiede von Altem und Neuem Testament als Thema des jüdisch-christlichen Dialogs weiß sich S. der gegenwärtigen Tendenz verpflichtet, bei allem Affront der Verkündigung des gekreuzigten Messias als der Mitte des Neuen Testaments die »wurzelhaft[e]« Verbundenheit zwischen Israel und der Kirche so herauszustellen und zu gewichten, dass jederart Antijudaismus im Neuen Testament zu bestreiten (und gegebenenfalls durch Interpretation zu bereinigen) sei, nicht nur bei Paulus, sondern auch im Johannesevangelium (87 f.). Dafür beruft S. sich vor allem auf die Studie der Päpstlichen Bibelkommission 2001 über »Das jüdische Volk und seine Heilige Schrift im Licht der christlichen Bibel« (91 f.).
Dies alles gilt jedoch nur, sofern die Einheit biblischer Theologie dem Alten wie dem Neuen Testament selbst zu entnehmen ist. Darauf kommt alles an. Dem Nachweis, dass dies möglich ist, gelten alle Argumentationsgänge der folgenden Kapitel.
S. begründet und expliziert seine Hauptthesen in zwei Kapiteln, die die entscheidende Mitte des Werkes sind. Zunächst bezieht er Position im Umkreis der »Lösungswege« in der exegetischen Fachdiskussion (103–154). Den verbreiteten Weg der Bestimmung eines »Kanons im Kanon« lehnt er entschieden ab. Weder kann für die theologische Beurteilung der Schriften des Neuen Testaments die paulinische Rechtfertigungslehre das Kriterium sein (so vor allem die Schule von R. Bultmann) noch für die Beurteilung der alttestamentlichen Schriften die Tora im Sinne des Deuteronomiums (so zuletzt O. Kaiser). Das eine wie das andere Kriterium kann die Vielfalt des theologischen Zeugnisses der biblischen Schriften nicht dominieren, ohne ihnen Gewalt anzutun. Aber dies gilt auch für viele Versuche, stattdessen nach einer »Mitte der Schrift« zu suchen. Dies könne nur gelingen, wenn nach »alter Tradition der Kirche« in Jesus Christus die Mitte gesehen wird, die der gesamten Schrift vorgegeben ist (101). Zum gleichen Ziel führt auch eine Durchsicht aller Theorien einer gesamtbiblischen Theologie (110–122) sowie auch aller Konzeptionen gesonderter alt- und neutestamentlicher Biblischer Theologie (122–150). Kritik übt S. überall dort, wo der Bezug zum jeweils anderen Testament nicht maßgeblich im Blick steht. Seine Zustimmung gilt dort, wo dies der Fall ist.
Entscheidend ist das V. Kapitel (155–231), in dem S. seine These ausführt, dass die Einheit der Schrift im Sinne der biblischen Schriften selbst in der Wirklichkeit des einen Gottes und seines Heilshandelns für sein eines Volk besteht: Nur so ist die Einheit konkret zu benennen, ohne die Pluralität der Schriften zu harmonisieren oder einzuengen. Im Blick auf das Alte Testament (156–170) stellt S. heraus, dass in allen verschiedenen Schriften die Identität des einen Gottes Israels völlig unstrittig ist: als eines Gottes, der sich selbst offenbart, in seinem schöpferischen Handeln an den Menschen, denen er sich verbindlich und verlässlich zuwendet. Der »Schlüsseltext« dafür ist das schema-jisrael in Dtn 6,4 f. (158–160). Der eine Gott, der in Israel allein zu hören und ganzheitlich zu lieben ist, ist der Gott, der sich in seinem Namen als ICH offenbart (Ex 3,14), der sich als solcher für Israel zum Du macht, zu »deinem Gott«, als welcher er sich durch sein rettendes Handeln im Exodusgeschehen ein für alle Mal erwiesen hat (Ex 6,2–3). Dieser Gott ist er selbst, indem er »barmherzig und gnädig, langmutig, reich an Huld und Treue« ist (Ex 34,6). Dass hier die Mitte aller alttestamentlichen Theologie liegt und diese »Gnadenformel« sowohl als Ganze wie auch in ihren einzelnen Elementen tatsächlich durch alle Schriften des Alten Tes­taments hindurch als für das Verständnis Jahwes und das Selbstverständnis Israels als schlechthin entscheidend bewusst ist, hat S. von Erich Zenger und Christoph Dohmen sowie besonders von Hermann Spieckermann (Gottes Liebe zu Israel, 2001) übernommen. Aus der absoluten Liebe Jahwes zu seinen Erwählten ergibt sich der entsprechend exklusive Monotheismus, wie er sich im Dekalog-Verbot jeglichen Gottesdienstes profiliert und als dessen besonders exemplarischen Verkünder S. Deuterojesaja herausstellt (164–167). Aber auch in den weisheitlichen Schriften tritt diese Entsprechung zwischen der Einzigkeit Gottes und der ihm allein geziemenden »Furcht Gottes« je länger desto mehr hervor (167–170).
Für das Verhältnis des neutestamentlichen Gotteszeugnisses zu dem des Alten Testaments (170–187) ist entscheidend, dass die Verkündigung Jesu »patrozentrisch« ist (171); denn es ist die Königsherrschaft des einen Gottes Israels, deren endzeitliche Vollendung Jesus als nah, ja, in seinen Werken bereits in die Gegenwart hineinwirkend verkündigt hat. Die Vollmacht, die er damit in Anspruch nahm, ist zwar im Rahmen der Geschichte Israels einzigartig; und die nachösterliche Christologie, vor allem die johanneische, transzendiert alle vorhandenen messianischen Erwartungen in Israel. Doch das bedeutet keine »Relativierung« des alttestamentlichen Mo­notheismus, sondern vielmehr dessen »Radikalisierung«. Denn »die neutestamentliche Grundbotschaft« lautet: Durch die Christologie in ihrer trinitarischen Struktur »kommt erst in eschatologischer Gültigkeit zum Ausdruck, worin die Einheit Gottes besteht« (171 f.). Das führt S. im Blick auf die Areopagrede in Apg 17 sowie im Blick auf die paulinische und johanneische Theologie paradigmatisch aus. So lässt sich in der Tat exegetisch zeigen, dass die »Mitte« alttestamentlicher Theologie auch die der neutestamentlichen ist– und zwar nicht trotz, sondern einschließlich der völlig neuen chris­tologisch-soteriologischen Inhalte.
Gleiches lässt sich auch für den anderen Schwerpunkt alttestamentlichen Glaubens zeigen: »die Einheit des Gottesvolkes«, die S. erst an dieser Stelle inhaltlich expliziert (187–204). Von dieser Wurzel ist die neutestamentliche Ekklesiologie der Kirche als des einen, eschatologischen Gottesvolkes »entscheidend geprägt« (225), wie S. im Blick auf Paulus und die Paulusschule (Eph) sowie auf das Jo­hannesevangelium darlegt (204–224). Denn es ist der eine Gott, durch den die Kirche entsteht und dem sie in der gleichen Radikalität zu dienen hat wie Israel seit der Sinai-Offenbarung. Das gilt auch für die universelle Kirche aus Juden und Heiden. Schon das Gottesvolk des Alten Bundes war in zwei Staaten zerteilt und lebte in nachexilischer Zeit in verschiedenen Ländern der Welt: »Das Gottesvolk verbindet nichts als seine Erwählung; aber diese Erwählung ist das einzige Band der Einheit, das unzerreißbar ist« (226). So gilt: »Nicht dass alle ein und dasselbe sagen, sondern dass alle ein und den selben Gott bezeugen und zwar im Volk Gottes und für das Volk Gottes, ist das Kriterium der Einheit in der Heiligen Schrift« (227).
Drei weitere Kapitel explizieren dies: im Blick auf die »Struktur des Kanons« mit seinen beiden verschiedenen, aber im theologischen »Grundgeschehen« übereinstimmenden Teilen (232–294); ferner im Blick auf die »Genese des Kanons« (326–377). Das Schlusskapitel gibt eine »Auswertung« (378–397): S. betont hier zunächst noch einmal, dass die »Einheit der Heiligen Schrift« nur in der Ganzheit des zweigeteilten Kanons gesucht und gefunden werden kann. Allerdings dürfen die Verschiedenheiten seiner einzelnen Schriften nicht nivelliert oder harmonisiert werden. Dabei »sind unterschiedliche Wertungen und Gewichtungen nicht zu umgehen, so heikel sie auch immer sind« (381). Eine Darstellung dieser hochdifferenzierten Einheit ist jedoch eine Aufgabe, die den Rahmen einer »Theologie des biblischen Kanons« sprengt. Sie ist nur in ausgeführten Theologien der beiden Testamente zu erfüllen. In ihrer Idealgestalt hätte jede von ihnen nicht nur das jeweils besondere Geschehen des Heilshandeln Gottes, das hier und dort zu Grunde liegt, inmitten der geschichtlichen Vielfalt seiner Bezeugungen herauszustellen, sondern zugleich auch die je verschiedene Bedeutung des Alten Testaments für das Neue und des Neuen Testaments für das Alte.
Das im Neuen Testament bezeugte »Grundgeschehen« (F. Hahn) ist zwar in seiner absoluten »Neuheit« gegenüber dem Alten Testament einzigartig: die im Wirken und Geschick Jesu, seines Todes und seiner Auferweckung, verwirklichte endzeitliche Heilswirklichkeit Gottes, die sich in der Zukunft der Parusie des erhöhten Herrn vollenden wird. Da es jedoch der eine und selbe Gott ist, der ebendarin gehandelt hat wie in allem vorangehenden Heilsgeschehen, ist er die Einheit beider Testamente. Freilich hat das Alte Testament nicht wie das Neue einen »alles bestimmenden Bezugspunkt« (385). Dort ist es eine Vielheit von Heilstaten Gottes, die bezeugt und theologisch in verschiedener Weise gedeutet werden. Von sich aus ist das alttestamentliche Zeugnis daher nach vorn völlig offen. Erst das Christusgeschehen in seiner eschatologischen Einzigkeit lässt sich als den Höhepunkt und das Ziel alles vorangehenden Gotteshandelns erkennen. S. betont aber zum Schluss noch einmal, dass sich daraus »keine Abqualifizierung des Alten Testaments« ergibt und nicht ergeben darf, sondern dass durch die Neuheit des Christusgeschehens das ge­samte Gotteszeugnis des Alten Testaments endgültig eine »positive Qualifizierung« erhalten hat, die ihm als dem ersten Teil des christlichen Kanons seine un­umstößliche Autorität und bleibend zentrale Bedeutung für die Kirche verleiht.
Das Werk als Ganzes ist von eindrücklicher Geschlossenheit und klarer Zielbewusstheit. Eine solche »Theologie des biblischen Kanons«, in der die Einheit der Schrift aus den Schriften des Alten und Neuen Testaments selbst erhoben wird, hat es bislang nicht gegeben. Das Buch ist mehr als die mancherlei Hermeneutiken, die es seit Ernst Fuchs und Peter Stuhlmacher in sich mehrender Zahl gibt. Man wird ihm nur gerecht, wenn man es als Prolegomenon jeder Biblischen Theologie charakterisiert, die den Kanon exegetisch wie systematisch-theologisch ernst nimmt. Das wird bei einem Vergleich mit den Grundlegungen der »Biblischen Theologie des Neuen Testaments« von Peter Stuhlmacher (Band 1, 3. Aufl. 2005, § 1) sowie besonders der »Theologie des Neuen Testaments« von Ferdinand Hahn (Band I, 2002, § 1; Band II, § 1.2–5.6) beispielhaft deutlich. In den wesentlichen Aspekten der Beurteilung und Gewichtung des gesamtbiblischen Kanons zeigt sich eine weitgehende Übereinstimmung.
Bei aller Bewunderung und dankbaren Rezeption weckt ein so anspruchsvolles Werk natürlich auch Fragen, sei es der Kritik, sei es auch weiterführender Art.
1. Volle Zustimmung verdient die Grundthese, dass die Person des einzig-einen Gottes Israels, der sich in seinem immer neuen Handeln offenbart und darin »sich selbst treu bleibt«, die Mitte der Heiligen Schrift beider Testamente und diesen als ihre Einheit vorgegeben ist (156). Diese ist in den drei Namensoffenbarungen in Ex 3,14; 6,2–8 und besonders 34,6 zentral bezeugt. Die starke, vielfache Wirkungsgeschichte durch alle Schriften des Alten Testaments hindurch wird jedoch erst voll erkennbar, wenn man den Ausdruck ´rk ´pym, der genau die Mitte der »Gnadenformel« in Ex 34,6 bildet, in dem Sinn versteht, dass JHWH in seinem gnädigen Erbarmen seinen Zorn hinausschiebt.
Dann nämlich wird deutlich, dass das (Un-)Verhältnis zwischen der begrenzten Wirkung seines Zorns gegen jeden Sünder und der schier unbegrenzten Wirkung der Vergebung aller Sünde und Schuld Israels in Ex 34,7 zur Aussage dieser Offenbarung des ›Wesens‹ Gottes in Ex 34,6 entscheidend hinzugehört. Erst so gerät die ganze Dramatik der Geschichte Gottes mit seinem immer wieder von ihm abfallenden Volk in den Blick: als Dramatik auch einer Spannung zwischen Gnade und Zorn in Gott selbst. Von daher wird überraschend deutlich, dass und wie sich diese Spannung erst in Jesu Verkündigung der Königsherrschaft dieses Gottes primär als Vergebung für Sünder und im Heilsgeschehen seines Todes »für unsere Sünden« und seiner Auferweckung durch Gott (1Kor 15,3–5) endgültig gelöst hat. Mit anderen Worten: Ex 34,6 f. er­weist sich nicht nur als die Mitte der Theologie des Alten Testaments, sondern auch als die des Neuen Testaments, in dem das Christusgeschehen in seiner radikalen »Neuheit« geradezu als die Erfüllung von Ex 34,6 f. zu verstehen ist.
2. Die Entschiedenheit, mit der S. von der Wirklichkeit Gottes in seinem Heilshandeln ausgeht und diese seiner ganzen Theologie der Einheit des biblischen Kanons zu Grunde legt, entspricht zwar eindeutig dem Selbstverständnis aller biblischen Texte. Aber S. weiß natürlich, dass eben diese Rede von Gott spätestens seit Kant zum Grundproblem der Neuzeit geworden ist, das sich in der Geschichte historisch-kritischer Bibelauslegung sozusagen hintergründig auswirkt. Es ist verständlich, dass er in seinem Buch darauf nicht eingeht – das würde den Rahmen sprengen. Es ist jedoch problematisch, dass er den Ansatz beim lebendigen Gott Israels und der Vollendung seines Heilshandelns mit Kants zentralem Begriff als »Postulat des Glaubens« benennt (so die Überschrift des zentralen fünften Kapitels: 155).
3. Zustimmung verdient auch das Insistieren S.s auf die unverbrüchliche Zusammengehörigkeit des Alten und Neuen Testaments in der Einheit der Schrift, die der Pluralität und Verschiedenheiten der Schriften nicht nur nicht widerspricht, sondern in der diese ihre – dem Deus semper maior entsprechende – durchaus wesentliche Bedeutung hat (besonders 387–397). Daraus folgt, dass dem Alten Testament sein eigener Wert zu geben ist und es also nicht nur als »in Novo Testamento receptum« seine Bedeutung hat (H. Hübner; 114–118), sondern auch als »Vetus Testamentum per se«. Daraus kann jedoch nicht gefolgert werden, dass das Alte Testament in der Kirche als »die Bibel Israels« zu gelten habe (40 u. ö.), die »die ersten Christen … von den Juden empfangen« und »als Grundlage ihres Glaubens« sich zwar angeeignet hätten, ohne jedoch »die Juden zu enteignen« (390 u. ö.).
Damit trägt S. einen Aspekt aus dem gegenwärtig geführten christlich-jüdischen Dialog in die Exegese der neutestamentlichen Texte ein. Die Judenchris­ten waren ja doch selbst sehr bewusst Juden wie die nichtchristlichen Juden auch (vgl. Röm 11,1; 2Kor 11,32). Sie haben dieselbe Schrift gelesen vor wie nach ihrem Christwerden. Gleiches gilt auch für viele Heidenchristen, die zwar als vormals »Gottesfürchtige« die Schrift zuerst in der Synagoge kennengelernt, nach ihrer Taufe als Christen jedoch mit derselben Schrift gelebt haben. Der Unterschied bestand in der christologischen Auslegung, in der nach 2Kor 3,12–18 der Geist Gottes den eigentlichen »Herrlichkeits«sinn der Schrift zu erkennen gibt, der bei ihrer Verlesung im Synagogengottesdienst »verhüllt« ist. S. (353) bricht diesem Text seine kritische Spitze ab, mit der Paulus aber Israel keineswegs heilsgeschichtlich ausgrenzt: Die »Hinkehr« nach 2Kor 3,16 ist jedem Juden jederzeit bis zur Parusie möglich, und Paulus ist sich des »Mysteriums gewiss, dass der Gott Israels am Ende sein Volk als ganzes retten wird – durch sein Erbarmen im Christusgeschehen wie alle Heiden ebenso« (Röm 11; 25–32). Auch manche anderen, heute fälschlicherweise als »antijudaistisch« verdächtigten Texte werden entweder beiseitegelassen oder unter diesem – eingetragenen – Aspekt harmonisiert.
Hier bedarf es meines Erachtens auch im Um­gang mit der Studie des Päpstlichen Bibelinstituts (s. o.) einer ›selbstkritischen‹ Besinnung, die dem christlich-jüdischen Gespräch nicht schaden, sondern nur nutzen kann (so grundsätzlich auch S. selbst, 89).
Leider finden sich Druckfehler in überdurchschnittlich hoher Zahl – wahrscheinlich ein Anzeichen der wachsenden Überlastung unserer Verlage durch ›Personalabbau‹.

Fussnoten:

*) Söding, Thomas: Einheit der Heiligen Schrift? Zur Theologie des biblischen Kanons. Freiburg-Basel-Wien: Herder 2005. 402 S. 8° = Quaestiones Disputatae, 211. Kart. EUR 32,00. ISBN 3-451-02211-7.