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Ausgabe:

Dezember/1997

Spalte:

1126–1128

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Augustin d’Hippone

Titel/Untertitel:

Vingt-six sermons au peuple d’Afrique. Retrouvés à Mayence. Ed. et comm. par F. Dolbeau.

Verlag:

Paris: Institut d’Études Augustiniennes 1996. 759 S. gr.8° = Collection des Études Augustiniennes. Série Antiquité, 147. ISBN 2-85121-152-8.

Rezensent:

Heinrich Marti

Es ist erstaunlich, daß im Zeitalter perfekter Bibliothekskataloge noch Entdeckungen innerhalb "bekannter" Bestände möglich sind. Dies geschah 1990 mit der um 1470-75 kopierten Handschrift I 9 der Stadtbibliothek Mainz, indem ein Augustin-Kenner, F. Dolbeau, die in der Beschreibung der Bibliothekare E. Rotter und G. List mit Fragezeichen markierten 26 Stücke als eindeutig augustinisch erkannte, insbesondere weil die Titel der mittleren Predigt-Gruppe denjenigen im Indiculus des Possidius entsprachen und in der ersten und dritten Gruppe Übereinstimmungen mit einem bekannten karolingischen Katalog von Lorsch bestanden. Die Kartäuser vom Michaelsberg bei Mainz besaßen also in ihrer bekannten Bibliothek eine erstaunlich reichhaltige Predigt-Sammlung, aus der 26 Texte mit total 9000 (heutigen) Druckzeilen der Aufmerksamkeit der übrigen Sammler eineinhalb Jahrtausende entgangen waren.

Der Fund ist mit dem der 25 neuen Briefe von 1981 (CSEL 88) zu vergleichen: Diese waren J. Divjak beim Durcharbeiten der französischen Bibliotheksbestände aufgefallen. Umfangsmäßig war der Brief-Fund wohl 4-5mal geringer, aber er brachte mehr inhaltliche Überraschungen. Heute haben wir keinen neuen Augustin vor uns!

Indessen kommen wir dem Augustinus magister einen Schritt näher. Zwar erfährt das theologische Dossier keine Erweiterung (ein gutes Beispiel, Mainz 41 =Dolbeau 12, S. 71 der Ausgabe: der altbekannte Standpunkt des Bischofs betreffs Unauflösbarkeit der Ehe); aber es ist eindrücklich mitzuverfolgen, wie Augustin seiner (oder auch einer benachbarten) Gemeinde sogar schwierigere Probleme mit großem didaktischem Geschick erklären kann (zum Beispiel das ’Gute-an-sich’, M 46/7 = D 16, bes. Z. 245 ff: der Lehrvortrag wird stufenweise abstrakter; die Geheimnisse des Wachsens in der Natur, M 59/D 23, besonders anhand der Weinrebe, Z. 226 ff.; die Hermeneutik von verbum und vox, M 7/D 3, gemäß den gradus similitudinis vom Tiefsten zum Höchsten, Z. 77 ff., 132 ff.).

Der Bibeltext-Forscher freut sich über neue Vetus Latina-Varianten (etwa von Augustins Lieblingspsalm 4, M 46/7 = D 16; vgl. dazu Dolbeau S. 118 f. Oder Lukas 13, 8, ebenda Z. 29: der Feigenbaum erhält noch einen "Korb" Mist ­ im westlichen Text!). Und der Latinist darf feststellen, daß sein Thesaurus linguae Latinae um ca. 20 neue Vokabeln reichhaltiger wird. ­ M 15/D 7 liefert das seltene Beispiel einer Kurzpredigt (Post sermonem, Post tractatum ): Augustin kann bei gewissen Stellungnahmen (hier: De sepultura catechumenorum) gegenüber der Gemeinde auch hart sein.

Die Hauptbedeutung des neuen Fundmaterials liegt darin, daß wir hier nicht erstmals, aber nun neuerdings in besonderer Deutlichkeit, Dokumente lesen, die scharf an der Grenze von Schriftlichkeit und Mündlichkeit liegen. Der schriftliche Aspekt tritt klar zutage, wenn wir beobachten, wie die Worte aus der nordafrikanischen Kirche zum Lesestoff Westeuropas werden: schon Augustin hat ja gelegentlich Musterpredigten verfaßt oder einzelne "Stücke" weniger redegewandten Kollegen zur Verfügung gestellt; seine Schüler haben Corpora zusammengestellt und ediert, und sowohl spätantike als auch mittelalterliche Prediger (wie Caesarius von Arles, Eugippius, Beda Venerabilis) haben reichlich Augustin-Exzerpte wiederverwendet: "klassisch" gewordene Formulierungen des begabten Rhetors wurden (wie die Steine der ersten Kirchen) zu Spolien neuer "Bauwerke".

So erwies sich der längst bekannte Sermo 341 als (knapp) die Hälfte von M 55/D 22 ­ aber die "Amputation" (eventuell von Caesarius) hatte Erfolg, denn sie ist in fünf Fassungen tradiert. Oder M 59/D 23 ist sechsmal größer als der Abklatsch serm. 374 (Genaueres bei Dolbeau, 580 f.). Die Beispiele ließen sich mühelos vermehren. Wir können heute auch genauer feststellen, was die Späteren für überflüssig erachteten und deshalb aus dem Hauptstrom der Tradition ausgliederten: Kritik an den Heiden (M 62/D 26) ­ aber auch Persönliches über das Verhältnis des Hirten zu seiner Herde. Dogmatische "Retouchen" sind ebenfalls zu belegen: Essen mit Zurückhaltung (statt lästigem Fasten) genügte nach serm. 198, 2; aber nun ist klar, daß eine solche Liberalisierung des Fastengebots nicht echt augustinisch gewesen ist (M 62/D 26, §§ 6-7).

Der Aspekt der Mündlichkeit ist jedoch noch eindrücklicher: Wir heutigen Leser nehmen teil am Predigt-Gottesdienst der Gemeinde von Hippo (oder Karthago), wie er um 400 stattgefunden hat (die Spätdatierung, "nach 418", die Hubertus R. Drobner, ThGl 83, 1993, 446-54; 84, 1994, 226-42, vorgeschlagen hat, fällt wohl außer Betracht); wir stehen sozusagen im Kreis der Stehenden, oft arg Strapazierten (M 5/D 2); wir hören ihre Fragen und die improvisierten Antworten des Predigers (Augustin liebt das dialogische Verfahren); wir werden Zeugen seiner Verlegenheit (M 59/D 23, § 19), ja eines veritablen Wutanfalls (M 5/D 2); wir vernehmen einmal sogar punische Fetzen (M 7/D 3, §8; ebenda, 7. Z. 102, ist offenbar jemand da, der Hebräisch spricht!). Wortspiele und Klangfiguren sind außerordentlich beliebte Mittel, das Publikum über weite Strecken (Contra paganos, M 62/D 26 umfaßt ja heute über 1500 Zeilen) bei der Stange zu halten (wer nur eine Übersetzung lesen könnte, dem würden solche Effekte entgehen). Auch die Bildhaftigkeit der Sprache des Bischofs ist von außerordentlicher Eindringlichkeit (die Sinne im Dienste des Geistes als Boten im Dienste des Kaisers, M 54/D 21, § 6; Augenkrankheit des Unglaubens, M 61/D 25, § 14; corvus / columba, ebenda § 27).

Die Textausgabe, die hier angezeigt wird, ist ein mit Addenda (617-41), einer Konkordanz (643 f.) und reichlichen Indices (645-753) ergänzter Nachdruck der 14 von 1990 bis 1994 in drei Fachzeitschriften (AB, RBen, REAug) und der Festschrift Frede-Thiele (M 59/D 23) erschienenen Einzelausgaben: Die theologische und philologische Kompetenz und Genauigkeit des Erst-Editors Dolbeau ist einzigartig, und in seinen Anmerkungen werden uns reichlich Parallelstellen und Literaturhinweise geboten. Für die Geschwindigkeit, mit der die gelehrte Welt über die Funde informiert wurde, muß der Benützer dieser Ausgabe allerdings einen gewissen Preis zahlen: Die alten Einzelausgaben sind lediglich durch neue Seitenzahlen ergänzt worden; man weiß mangels einer adäquaten Titulatur beim Blättern nie genau, in welchem Textteil man gerade liest. Zudem wird kurz das Zitiersystem geändert (statt Zeilen pro Predigt Zeilen pro Paragraph: in M 45/D 15 und M 50/D 18, weil in AB erschienen). Die auch nur reproduzierten Einleitungen bringen natürlich einige Wiederholungen, und die Addenda et corrigenda kann man zwar ­ falls man das komplizierte Zahlensystem im Griff hat ­ laufend mitlesen, aber die früher einzeln publizierten Korrekturen sind jetzt nur teilweise am aktuellen Standort wiederholt: Selbst wer die Ergänzungen mitverfolgt, weiß nie mit Sicherheit, ob er von allen bereits erfolgten Korrekturen Kunde hat.

Vgl. S. 263 ff., 270 f. und 628 f. ­ S. 20 wird S. 85 A. 42 korrigiert, und man findet den Weg via "p.241", "no 47", "SI3, p.283., n.42" (Angaben von S. 618 sind aufzuschlüsseln via Inhaltsverzeichnis). Am besten trägt man alles laufend in seinen Text ein. Unter dem Vorbehalt, daß der Rez. die Situation überblickt, hält er weitere Korrekturen an folgenden Stellen für unvermeidlich: S. 144 (= M 48, 107) ist enim kaum Teil des Zitats, wie ein Blick auf Z. 112 zeigt ­ es ist wohl überhaupt zu tilgen, denn enim steht in derselben Zeile kurz vorher, und zwar dort logisch begründbar. S. 329 (= M 5, 38) Numidiarum; ebenda 5, 49 audirem: die Konjekturen sind überflüssig. S. 331 (= M 5, 102) ullo, ebenso, mit Fragezeichen am Satzende. S. 374 (= M 62, 247) ist der Plural des Verbums neben dem durch drei Attribute markierten Singular multitudo doch sehr hart. S. 399 (= M 62, 1034) ist aktives rapere kaum korrekt, 411 (= M 62, 1366) der Akkusativ Plural lucrandos unverständlich.

Eine einigermaßen abschließende Editio maior wird in diesem Jahrtausend vielleicht nicht mehr möglich sein (vgl. indessen S. 21 A.11): Philologen und Theologen, Alt- und Kirchenhistoriker, Archäologen und Spezialisten der Baugeschichte sind aufgefordert, bis dahin durch aufmerksame Lektüre des teilweise recht nachlässig kopierten Textes noch weitere Fortschritte zu erzielen. Doch hat die sorgfältige Editio princeps von François Dolbeau für die Augustin-Forschung auf alle Fälle epochale Bedeutung.