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Ausgabe:

Juli/August/2007

Spalte:

859 f

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Lachmann, Mareike

Titel/Untertitel:

Gelebtes Ethos in der Krankenpflege. Berufs- und Lebensgeschichten.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2005. 316 S. gr.8° = Diakoniewissenschaft, 11. Kart. EUR 30,00. ISBN 3-17-018604-3.

Rezensent:

Gottfried Adam

In dieser Untersuchung, einer Dissertation an der Münchener Evangelisch-Theologischen Fakultät, geht es thematisch um die Pflegekräfte und ihre Profession. Anders als bei den normativ ansetzenden Konzepten des 19. und auch des 20. Jh.s wird hier der Weg einer deskriptiven Hermeneutik beschritten und untersucht, was Pflegekräfte real tun und wie sie selbst ihre Praxis deuten, nicht: Was Pflegekräfte nach der Meinung anderer tun sollten. Es wird also gefragt: »Wie handeln Pflegekräfte? Wie beschreiben und interpretieren sie ihr Handeln? Welche ethischen Implikationen sind darin enthalten?« (14)
Ziel der Erhebung ist es, auf der einen Seite das Verstehen von Handeln und Deuten in der Krankenpflege zu fördern und auf der anderen Seite aktuelle Problemfelder der Pflegeethik zu benennen, die als Anregung für die Krankenpflege selbst sowie für andere Disziplinen und Handlungsfelder in ihrem Umfeld dienen sollen. Die Theologie mitsamt ihren hermeneutischen Kompetenzen tritt dabei gegenüber der Krankenpflege nicht mit einem normativen Anspruch auf, sondern mit einem »phänomenologischen Interesse für die ethischen Implikationen des alltäglichen Handelns in der Krankenpflege«.
Inhaltlich geht es um (Berufs-)Biographien, die mit den Methoden der qualitativen Sozialforschung erhoben und ausgewertet werden. In Teil I werden die »Theoretischen Voraussetzungen« (17–92) der Untersuchung expliziert. Dabei geht es um das Verständnis einer Praktischen Theologie des Subjekts als Wahrnehmungswissenschaft, um Diakoniewissenschaft als interdisziplinär ausgerichtete wissenschaftliche Theorie diakonischer Praxis und um den biographischen Zugriff als Forschungszugang zum »gelebten Ethos«. Nach einem Überblick über die historische Entwicklung und den gegenwärtigen Stand der Krankenpflege in Deutschland wird auf den Professionalisierungsprozess eingegangen, der den Pflegeberuf inhaltlich profilieren und sein Ansehen stärken soll. Hinsichtlich der Ethik als weiterem Fragehorizont der Untersuchung geht die Studie von einem Verständnis der Ethik als Theorie menschlichen Handelns aus. Dabei greift die Untersuchung auf Elemente der narrativen Ethik zurück. Die Auswertung der Erzählungen erfolgt im ersten Schritt anhand der Fragestellung: »Wer hat was warum wozu wie für wen und/oder mit wem getan?« Im zweiten Schritt werden Moral und Ethos in den erarbeiteten Handlungs- und Deutungsmustern interpretiert.
Die hermeneutische Wissenssoziologie von Alfred Schütz ist der methodologische Ausgangspunkt. Die Bearbeitung der empirischen Daten orientiert sich weitgehend an Fritz Schützes Auswertungsmodell des narrativen Interviews.
Im umfangreichen empirischen Teil II werden Einzelfallanalysen vorgelegt (93–216). Anhand von drei biographischen Interviews wird exemplarisch das Handeln von Pflegekräften gezeigt und die Sicht herausgearbeitet, welche die eigene erzählende Deutung der befragten Personen erkennen lässt. Dies geschieht in einem gleichartigen Aufbau (biographische Rahmendaten/Aufbau des Interviews, sodann die Haupterzählung mit den entscheidenden Motiven, dann der Nachfrageteil und schließlich die Ergebnisse), so dass im letzten Abschnitt ein aufschlussreicher »Kontrastiver Vergleich« durchgeführt und vorgelegt werden kann. Dieser Vergleich gibt Auskunft über die Grundmuster, die Beziehungsdimensionen, medizinethische Konflikt-Situationen, die Verortung im System von Krankenhaus und Gesellschaft und das berufliche Selbstverständnis. Der Ertrag wird in Form eines Schaubildes noch einmal übersichtlich visualisiert (215 f.). – Aufbauend auf dem Ertrag dieser empirischen Untersuchungen wird in Teil III eine »Interpretation und Reflexion der Ergebnisse« vorgelegt und in Teil IV ein zusammenfassender »Rückblick und Ausblick« (281–298) ge­geben.
Die drei biographischen Interviews, die in der Studie bearbeitet werden, stellen eine Auswahl aus einer Gesamtzahl von 20 narrativ-biographischen Interviews dar, die in verschiedenen Krankenhäusern in Deutschland durchgeführt wurden. Die Vfn. hat dabei jene drei Interviews ausgewählt, welche die größte Bandbreite an Phänomenen präsentierten. Es zeigten sich letztlich nämlich drei signifikante Typen des pflegerischen Ethos: 1. das Ethos der Pflicht­erfüllung, 2. das Verantwortungsethos und 3. das pragmatisch-utilitaristische Ethos. Dem Ethos der Pflichterfüllung korrespondiert eine traditionelle Dienstauffassung als Helferbeziehung mit einem Gefälle zu den Patientinnen und Patienten, denen viel Liebe und Zuwendung geschenkt wird. Dem Verantwortungsethos korrespondiert ein reflektiertes, professionelles Berufsverständnis, in dem eigenständiges, verantwortliches und kooperierendes Verhalten und die entsprechende Kompetenz zusammengehören. Dem pragmatisch-utilitaristischen Ethos korrespondiert ein me­ di­zinorientiertes Berufsverständnis, das instrumentelle Züge trägt und eine sachorientierte Patientenbeziehung zur Folge hat. Allen drei Typen ist im beruflichen Selbstverständnis und Handeln die grundlegende Patientenorientierung gemeinsam, aber in der Konkretion wird dieser Zusammenhang jeweils unterschiedlich ausgefüllt und wahrgenommen. Diese unterschiedlichen Akzentuierungen wirken sich dann auch deutlich erkennbar auf die Beziehungen und die medizinethisch relevanten Situationen aus.
Die Vfn. stellt im Schlussteil der Studie heraus, dass aus der Sicht des christlichen Menschenbildes ein zentraler Fokus auf einer reflektierten und verantwortlichen Ethik sowie einer Beziehungsorientierung im Krankenhaus liege und dass daher dem Prozess der Professionalisierung in der Pflege erhöhte Aufmerksamkeit und Unterstützung zukomme. Es gelte, das alte Dienstethos der Krankenpflege durch ein professionalisiertes Berufsverständnis zu ersetzen (287). Dafür werden dann im Ausblick (287 ff.) Perspektiven aufgezeigt im Blick auf Krankenhausleitung, Pflegeausbildung und Krankenhausseelsorge.
Die Untersuchung ist, nicht zuletzt im Blick auf den gegenwärtigen Ausbau der Pflegewissenschaft, hochaktuell. Der einführende methodologische Teil ist für eine Dissertation als vorbildlich zu bezeichnen. Es werden der eigene wissenschaftstheoretische Standort, das Interesse am Thema, das Ziel der Untersuchung und die angewendete Methodologie klar dargelegt und präzise begründet. Auch die weiteren Ausführungen lassen in ihrer Durchführung an wissenschaftlicher Prägnanz und logischer Präzision nichts zu wünschen übrig. Im Zusammenspiel von theologischen, diakoniewissenschaftlichen und ethischen Fragestellungen wird eine Analyse vorgelegt, welche mit den drei Typen eines Ethos der Pflichterfüllung, der Verantwortung und der utilitaristischen Orientierung wesentliche Grundmuster des Berufsverständnisses von Pflegekräften benennt. Im Ausblick verdeutlicht die Vfn., in welcher Weise eine Professionalisierung des Krankenpflegeberufes auszugestalten ist, die dem christlichen Menschenbild gerecht wird. Bei der Suche nach einer zukunftsorientierten pflegerischen Professionalität wird man an dieser Untersuchung nicht vorbeigehen können.