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Ausgabe:

Juli/August/2007

Spalte:

853–855

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Tietz, Christiane

Titel/Untertitel:

Freiheit zu sich selbst. Entfaltung eines christ­lichen Begriffs von Selbstannahme.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005. 234 S. gr.8° = Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie, 111. Geb. EUR 49,90. ISBN 3-525-56339-6.

Rezensent:

Heiko Schulz

Der Buchfassung dieser Studie liegt ein von Eberhard Jüngel und Oswald Bayer begutachtetes Manuskript zu Grunde, das 2004 an der Universität Tübingen als systematisch-theologische Habilitationsschrift angenommen wurde. Ausgangspunkt der Untersuchung ist der viel beschworene und zu Recht als protestantisch fundamental geltende Zusammenhang von Rechtfertigung und Freiheit. Dieser soll am Leitfaden des Begriffs der Selbstannahme insbesondere strukturell, phänomenologisch und ethisch präzisiert werden.
Die Notwendigkeit einer solchen Präzisierung begründet T. im Verweis auf ein nach wie vor dominierendes Missverständnis: Der im Glauben gerechtfertigte Sünder ist aus protestantisch-theologischer Sicht als frei – allem Anschein nach aber lediglich als frei von sich selbst (als eines in der Sünde Geknechteten nämlich) – zu denken. Darzulegen, dass und inwiefern die mit diesem Missverständnis einhergehende Einseitigkeit in der Auslegung eines protestantischen Leitgedankens die christliche Glaubensfreiheit unter­be­stimmt lässt, ist ein Leitziel der Untersuchung (5). Zwecks Kor­rektur dieser Einseitigkeit setzt sich T. zweitens die semantisch und theologisch bündige Verknüpfung von Rechtfertigung, Glaube, Freiheit und Selbstannahme zur Aufgabe. Letztere, so die korrespondierende Zentralthese des Buches (12.210), sei gerade nicht nur als rein ›implizite‹, sondern im­mer auch als ›explizite‹ und d. h. zugleich als ein durch den Glauben ermöglichter Ausdruck von Freiheit zu sich selbst aufzufassen, wobei diese nach Ansicht von T. in der negativen Freiheit und der mit ihr einhergehenden impliziten Selbstannahme gründet (5.12). Im Anschluss an die Einleitung (§§ 1–2, 11–26) wird diese Zentralthese in zwei großen Abschnitten en détail entfaltet: zunächst rekonstruktiv, am Leitfaden von Kierkegaards Krankheit zum Tode (§§ 3–6, 27–126); sodann konstruktiv, im Rückgriff auf weiterführende Überlegungen Tillichs und Luthers sowie in Orientierung an den Grundlagen des neutestamentlichen Rechtfertigungsgedankens (§§ 7–8, 124–205). Ein Schluss­abschnitt (206–212) fasst den Ertrag der Arbeit im Überblick zusammen.
Die Entscheidung, Kierkegaards Krankheit zum Tode zum Ausgangspunkt und Leitfaden einer Phänomenologie der christlichen Freiheit zu machen, verdankt sich keiner bloßen Idiosynkrasie von T. Sie beruht vielmehr auf der Einsicht, dass die pseudonyme Schrift von 1849 die bis dato differenzierteste Beschreibung und Analyse aller real möglichen Formen menschlicher Selbstablehnung (in Kierkegaards Terminologie: Verzweiflung) bietet. Dieser Zugriff ist aber auch deshalb von besonderem heuristischem Wert, weil die Formalanalyse der ›Krankheit zum Tode‹ nicht nur die deren Möglichkeit einheitlich zuvor und zu Grunde liegende Struktur des Menschseins als eines ›existierenden Selbst‹, d. h. als binnenkomplexe, auf sich und den Grund ihrer selbst bezogene Relation erkennen lässt, sondern darüber hinaus auch die jenen einzelnen Krankheitsformen korrespondierenden Formen des ›ge­sunden‹ bzw. geheilten und als ein solches sich annehmenden Selbst. Über die rein methodologisch akzentuierte Negativismusthese M. Theunissens hinaus will T. mithin ex negativo (ähnlich wie jüngst G. Figal auf philosophischer Seite) eine regelrechte »Phänomenologie der Selbstannahme« (13) zur Darstellung bringen. Konsequenterweise folgt im Text auf die Erörterung der verschiedenen Stufen und Formen der Verzweiflung qua Selbstablehnung eine Reihe von Ergänzungsabschnitten, die die jenen Stufen und Formen im Einzelnen korrespondierenden Charakteristika des ›geheilten, sich selbst annehmenden Selbst‹ beschreiben. So steht etwa der bewusst und willentlich im Sinne des Trotzes Verzweifelte, der sich selbst ablehnt, indem er ein anderer sein will, dem Glaubenden als dem ›Geheilten‹ und darin in einem bestimmten Sinne zugleich von wie zu sich selbst Befreiten als der Andere seiner selbst gegenüber: Letzterer »lässt sich in der Rechtfertigung als Person von seinen Schwierigkeiten unterscheiden, nimmt jedoch dann seine Fähigkeiten und Anlagen, aber auch seine Schwierigkeiten als die seinen an« (86).
Die Profilierung der strukturellen, formalen und phänomenologischen Parallelen zwischen Verzweiflung und Glaube, Selbstablehnung und Selbstannahme nutzt T. im zweiten Hauptteil des Buches für ergänzende Überlegungen systematischer Art, die sich vor allem auf Luther und Tillich stützen. Im Blick auf die in Aussicht gestellte Präzisierung des Verhältnisses von Rechtfertigung, Freiheit, Glaube und (Selbst-)Annahme arbeitet T. dabei eine Reihe ›weiterführender‹ Ergebnisse heraus: Demnach ist formal gesehen eine implizite von einer expliziten Selbstannahme zu unterscheiden. Erstere geht mit der Freiheit von sich selbst als Sünder einher; letztere ist mit der Freiheit zu sich selbst koextensiv, kraft derer der Glaubende sich »erstens … als Sünder, zweitens als von Gott abhängig und drittens als der Gemeinschaft mit Gott gewürdigt« (210) annimmt. In temporaler Hinsicht entspricht dieser Formaldistinktion die Unterscheidung von transitorischer und bleibender Selbstannahme: Der Glaubende »nimmt sich (transitorisch) als Sünder an und (bleibend) als jemand, der von Gottes Vergebung abhängig ist … und dem vergeben wird« (208). In struktureller Hinsicht korrespondiert die (hier: explizite) Selbstannahme des Glaubenden den Strukturmomenten des sog. faktischen Selbst: Sie umfasst daher die Annahme der eigenen Eigenschaften, der eigenen Geschichte und der eigenen Umstände (170–188), wobei sie sich dabei in einem Dreischritt von Wahrnehmen, Annehmen und Unterscheiden (ggf. Verändern) vollzieht, der seinen genuinen Ort im Gebet hat (211). Darüber hinaus ist im Anschluss an Luther die explizite Selbstannahme in anthropologischer Hinsicht dem Le­bensvollzug des sog. ›äußeren‹, die implizite hingegen der glaubenden Rezeptivität des homo interior zuzuordnen (166.211).
Diese Zuordnung erfordert und erlaubt zugleich eine semantische und theologische Neubestimmung des Verhältnisses von Rechtfertigung, Selbstannahme und Glaube: Während erstere, so T. im An­schluss an Paul Tillich, für die göttliche Annahme des Sünders als eines Unannehmbaren trotz seiner Unannehmbarkeit steht, bezeichnet der Glaube die responsorisch-explizite Annahme dieses rechtfertigenden Angenommenseins. Hier sieht sich T. zugleich zur Kritik und Korrektur Kierkegaards herausgefordert. Im Glaubensbegriff der Verzweiflungsschrift stelle nämlich der Gottesbezug lediglich ein implizites Moment dar (nur indem sich das Selbst zu sich selbst verhält, verhält es sich zu Gott: 123) – diese Auffassung sei aber reformatorisch unsachgemäß: »Glaube ist wesentlich expliziter Gottesbezug.« (211) Laut T. gehört ferner die implizite Selbstannahme im Sinne eines integralen Bestandteils »zum Glauben … hinzu« (210) – im Unterschied zu ihrer expliziten Form: Diese ist lediglich handelnder »Ausdruck des Glaubens« auf Seiten des homo exterior und insofern zwar »für den Lebensvollzug des gerechtfertigten Sünders – nicht aber für seine Rechtfertigung! – von Bedeutung« (212).
Last, but not least dienen die genannten Unterscheidungen in ethischer Hinsicht einer Verhältnisbestimmung von Selbstannahme und Liebe. Zum einen fehlt jener im Unterschied zu dieser das Moment der ›Kreativität‹ (im Sinne der 28. These von Luthers Heidelberger Disputation): Ihr Vollzug macht ihren Adressaten nicht an­nehmbar. Selbstliebe impliziert daher Selbstannahme, aber nicht umgekehrt. Anders verhält es sich im Falle der Annahme eines anderen: Dessen faktisches Selbst anzunehmen besagt nichts anderes als sich seiner anzunehmen, und dies, so T., ist gleichbedeutend damit, »den Nächsten zu lieben« (212): Wer den anderen liebt, nimmt ihn an – und umgekehrt. Wie der Schlussteil der Untersuchung (§ 8) zeigen soll, hat die zuletzt genannte Präzisierung Konsequenzen für die Verhältnisbestimmung von Selbst- und Nächs­tenliebe: ›Liebe deinen Nächsten, und zwar wie dich selbst!‹ heißt danach recht verstanden ›nimm dich des anderen an, und zwar mit derselben Spontaneität, mit der du dich in der Liebe zu dir selber annimmst!‹ (212).

Trotz aller grundsätzlichen Sympathie für Themenwahl, Kernanliegen und reformatorische Profilierung der Arbeit sowie ungeachtet einer Reihe von durchaus zustimmungsfähigen Einzelthesen haben mich die Analysen von T. in deren Durchführung nicht durchweg überzeugt. Diskutabel erscheinen mir erstens und in hermeneutischer Hinsicht tragende Elemente der Kierkegaard-Interpretation. Das gilt nicht nur für die Erläuterung und Verhältnisbestimmung der beiden Relatpaare in der zu Grunde liegenden Synthesis des Selbst (Endlichkeit/Unendlichkeit versus Notwendigkeit/Möglichkeit) so­wie – damit unmittelbar zusammenhängend – für den Gebrauch des Begriffs ›faktisches Selbst‹ (64 f.141 f.). Es trifft auch und vor allem für die These zu, dass aus der Sicht des Autors der Krankheit zum Tode ›verzweifelt‹ keine »adverbiale Bestimmung des Wollens« (45) sei. Dass das Gegenteil der Fall ist, lässt sich mit umgekehrter Stoßrichtung, d. h. vom Glauben her, zeigen: Der Glaubende nimmt sich erstens als denjenigen an, der er ist; er lehnt sich zweitens als denjenigen ab, der er nicht ist; und er lehnt sich drittens nicht als denjenigen ab, der er ist. Beim Verzweifelten verhält es sich genau umgekehrt – formal bzw. strukturell gesehen hingegen ganz genau so. Folglich muss man im Sinne Kierkegaards nicht nur zwischen einer verzweifelten und einer nicht verzweifelten Form des Man-selbst-, sondern auch zwischen einer verzweifelten und einer nicht verzweifelten Form des Nicht-man-selbst-sein-Wollens unterscheiden. Damit aber fungiert ›verzweifelt‹ in der Tat als adverbiales Prädikat zu ›wollen‹.
Zweitens und in phänomenologischer Hinsicht wirken die in den insgesamt elf Zusatzabschnitten beschriebenen Charakteristika des ›geheilten, sich selbst annehmenden Selbst‹ häufig eher vage und allzu unspezifisch, um das behauptete heuristische Potential der Verzweiflungsanalyse für die Konzeption einer differenzierten Theorie der christlichen Selbstannahme deutlich hervortreten zu lassen. Gewiss, im Falle Kierkegaards mögen unter anderem mitteilungstheoretische Erwägungen eine Rolle bei der Entscheidung gespielt haben, von der Veröffentlichung einer Korrespondenzschrift zur Krankheit zum Tode (die Die Heilung von Grund auf hätte heißen sollen) abzusehen; gleichwohl war ihm auch in der Sache klar, dass sich eine Phänomenologie der (geistigen) Gesundheit in exakter typologischer, struktureller und inhaltlicher Entsprechung zur krankheitsdiagnostischen ›Buchstabenrechnung‹ der Verzweif­lungs­schrift nur schwerlich würde durchführen lassen.
Drittens und theologisch geurteilt kann m. E. die Behauptung, dass die Bereitschaft des Sünders zur ›Annahme‹, Gott nehme ihn trotz seiner Unannehmbarkeit an, dessen implizite Selbstannahme als eines Unannehmbaren einschließt, nur unter der Voraussetzung einleuchten, dass die faktische Nichtakzeptanz der (eigenen) Unannehmbarkeit, d. h. die Leugnung des Sünders, Sünder zu sein, zu den notwendigen Möglichkeitsbedingungen der Sünde hinzugehört. Die Implikationen des Sündenbegriffs in ihrer argumentationslogischen Verschränkung mit (den Formen) der Selbstannahme werden von T. nicht mit der gebotenen Stringenz herausgearbeitet.
Viertens sind methodisch gesehen einige Ungereimtheiten in der Gliederung des Buches zu monieren: Wenn Freiheit von sich selbst und implizite Selbstannahme einerseits sowie Freiheit zu sich selbst und explizite Selbstannahme andererseits einander entsprechen sollen (210), dann leuchtet kaum ein, weshalb der Abschnitt über die implizite Selbstannahme in § 7 (157 ff.) des Buches verhandelt wird – jenem Paragraphen also, in dem es um das ›Selbstverhältnis des gerechtfertigten Sünders als Freiheit zu sich selbst‹ geht!
Fazit: Es liegt eine ambitionierte, perspektivenreiche, hermeneutisch wie theologisch vielfach eigenständige und insgesamt lesenswerte Studie vor, die allerdings in der Detailanalyse und in der übergeordneten Theoriearchitektur nicht restlos zu überzeugen vermag.