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Ausgabe:

Juli/August/2007

Spalte:

843 f

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Evers, Sven

Titel/Untertitel:

Traditionale Hermeneutik. Der Traditionsbegriff Alasdair MacIntyres als Beitrag zur theologischen Hermeneutik.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2006. 256 S. gr.8° = Theologie – Kultur – Hermeneutik, 4. Kart. EUR 38,00. ISBN 3-374-02387-8.

Rezensent:

Jörg Lauster

Alasdair MacIntyres »After Virtue« gilt als Klassiker der Gegenwart. An dem berühmten Buch lässt sich die Gefahr eingängiger Titel exemplarisch studieren. Die Diskussion drehte sich bisweilen sehr konzentriert um den Begriff der Tugend. Das ist nur die eine Seite, MacIntyres Überlegungen sind eingebunden in komplexe Überlegungen zum Status menschlicher Wirklichkeitsdeutungen. Es ist von daher nur zu begrüßen, wenn in Arbeiten neueren Datums zunehmend der ganze und nicht der halbe MacIntyre in den Blick gerät. Nach der Dissertation von Antje Fetzer (2001) legt nun E. eine weitere Schrift monographischen Ausmaßes vor und stellt dabei den Traditionsbegriff in den Vordergrund. Die Arbeit wurde 2005 an der Universität Oldenburg als Dissertation abgeschlossen.
Die Untersuchung zielt darauf, in Auseinandersetzung mit dem Traditionsbegriff MacIntyres den Wirklichkeitsbezug und den daraus abzuleitenden Verbindlichkeitsanspruch des Bekenntnisses zu entwickeln. Sein Ziel verfolgt E. in vier Schritten. Zunächst stellt er auf der Grundlage von »After virtue« MacIntyres Kritik der Moderne vor (25–56). Die Metaphysikkritik der Aufklärung führe, so MacIntyres zentrale These, zu einer »Fragmentarisierung personaler Identität« (33), in der Partikularinteressen ohne Rückbindung auf einen gemeinsamen Rationalitätsstandard unversöhnlich aufeinanderprallen. Auf Grundlage dieser Problemanzeige erörtert E. in einem zweiten Schritt MacIntyres Lösungsvorschlag, der auf dem Konzept einer traditionalen Rationalität und eines ontologischen Wahrheitsbegriffs aufbaut (57–80). In einem dritten Schritt (113–180) beleuchtet E. die linguistische Dimension des Traditionsbegriffs. Ausgehend von dem Phänomen des autoritativen Textes werden dabei u. a. die Traditionsbegriffe Gadamers und Tracys so­wie die jeweils konfessionellen Positionen untersucht, während er viertens »jenseits von Absolutismus und Relativismus« den »Wettstreit der Traditionen« (181–225) analysiert.
Die Arbeit besticht durch ihre sorgfältige Analyse der Schriften MacIntyres. Zudem wird dieser in eingefügten »Zwischenspielen« mit einer Vielzahl von Autoren ins Gespräch gebracht, was interessante Aspekte eröffnet. Ein Personenregister hätte allerdings hier die Benutzung erleichtert. Die Auswahl der Bezugsgrößen ist nicht immer ganz einsichtig und wirkt bisweilen assoziativ. In Anbetracht von Namen wie Lyotard, Habermas, Th. S. Kuhn, Blumenberg, Dilthey, Troeltsch, K. Hübner, Gadamer, Tracy, D. Ritschl, Lindbeck, Erikson und vielen anderen überrascht es, dass den Autoren mäßige Zensuren ausgestellt werden, ja, in einigen Fällen gar die Versetzung gefährdet ist. Allein Ricœur erreicht ungefährdet das Klassenziel und ist der geistige Pate der von E. propagierten Ontologie des »Als ob«. Für eine akademische Qualifikationsschrift ist es zudem erstaunlich, dass im Fazit überwiegend eigene Werke zitiert werden. Dabei wird auf eine von E. selbst »andernorts vorgeschlagene Definition« (226) von Religion zurückgegriffen, die – ohne dass dies benannt würde – erstaunlicherweise mit geringfügigen Modifikationen der Religionsdefinition von Gerd Theißen gleicht. Üblicherweise empfiehlt es sich, in solchen Fällen statt sich selbst die eigentliche Quelle zu zitieren.
Das Verdienst der Arbeit liegt darin, dass sie in der deutschsprachigen Diskussion kaum zur Kenntnis genommene Schriften MacIntyres vorstellt und damit die Diskussion um den Traditionsbegriff erheblich bereichert. Produktiv entwickelt E. im Anschluss an MacIntyres Diktum ›Der Mensch ist ein Geschichten erzählendes Tier‹ ein Verständnis der Tradition als historisch-konkretes Konzept einer identitätsstiftenden Rahmenerzählung. Scharfsichtig wird der Wirklichkeitsbezug als das eigentliche Problem von Traditionen herausgestellt. E. votiert für einen Mittelweg zwischen einem ontologischen Absolutismus, den er allerdings etwas rasch mit MacIntyres Ansatz identifiziert, und einem reinen Konstruktivismus. Originell und bedenkenswert daran ist, dass er ausgerechnet das Bekenntnis in die Ontologie des ›Als ob‹ einreiht und damit dessen bisweilen absolutistische Wahrheitsansprüche gründlich in Frage stellt. Traditionen gehen E. zufolge zurück auf eine je subjektive Deutung eines an sich unerreichbaren Unbedingten (vgl. 235), er nennt diese individuelle Deutung mit Ricœur ein »Sehen als«. In dieser Logik subjektiver Wirklichkeitsdeutung ist über die Anerkenntnis des »Dass« des Unbedingten nicht hinauszukommen. Ein weiterer, möglicherweise unbeabsichtigter Ge­winn der Arbeit dürfte in ihrem Ergebnis liegen: Durch den Rekurs auf ein unerreichbares Unbedingtes stehen die je unterschiedlichen Traditionslinien menschlicher Wirklichkeitsdeutungen un­vermittelt nebeneinander, der Ausblick auf eine traditionale Hermeneutik (237–243) endet, wo MacIntyres Arbeiten ihren Ausgang nehmen.