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Ausgabe:

Juli/August/2007

Spalte:

835–837

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Dierken, Jörg

Titel/Untertitel:

Selbstbewußtsein individueller Freiheit. Religionstheoretische Erkundungen in protestantischer Perspektive.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2005. XIII, 518 S. 8°. Kart. EUR 49,00. ISBN 3-16-148810-5.

Rezensent:

Saskia Wendel

Die Erkundung des Themenfeldes »Religion« steht im Zentrum der religionsphilosophischen wie systematisch-theologischen Erörterungen D.s, wobei er seinen Ausgangspunkt explizit schon im Un­tertitel des Buches als »protestantische Perspektive« bestimmt, die vor allem die Anerkennung der Prinzipien Subjektivität und Freiheit in ihrer konstitutiven Bedeutung auch für das Aufkommen von Religion und für die Annahme und Anerkenntnis des christlichen Glaubens kennzeichne. Dementsprechend ist es kein Zufall, dass D.s Reflexionen insbesondere durch die Tradition des Deutschen Idealismus und dessen Reflexionen zu Subjektivität und Freiheit im Kontext einer Philosophie des Absoluten inspiriert sin d– sowohl in Zustimmung zu als auch in kritischer Auseinandersetzung mit dieser Tradition (VI).
Die Überlegungen D.s gliedern sich in drei Hauptkapitel. In einem ersten Teil (3–194) widmet er sich dem Begriff und der Funktion der christlichen Religion in der Moderne, und dies sowohl in religionsphilosophischer Auseinandersetzung mit dem Religionsbegriff als auch mit Bestimmungen des sozialen und kulturellen Ortes der Religion in der Gegenwart. Neben eher thematisch orientierten Beiträgen wie z. B. zur Bestimmung des Religionsbegriffs, zum Verhältnis von Individuum und Religion oder zur Bedeutung der Säkularisierung in der Kultur der Gegenwart finden sich hier auch Überlegungen zu Positionen philosophischer, soziologischer und theologischer Autoren, so etwa zur Religionskritik Karl Barths und Günther Dux’ oder zur Bedeutung der Kontingenz bei Spinoza, Hegel und Troeltsch. Auch das Verhältnis des Christentums zu anderen Religionen wird am Beispiel des Dialogs zwischen Christentum und der buddhistischen Kyoto-Schule thematisiert. Diese Erörterungen ba­sieren auf einem Religionsbegriff, den D. im Durchgang durch religionsphilosophische Reflexionen etwa Hegels, Fichtes und Schlei­ermachers als » Selbstbewußtsein endlicher Freiheit – und ebendarin zugleich Unendlichkeitsbewußtsein« (35) bestimmt. Dieser Be­griff der Religion, so D., stehe für ein explizit protestantisches Religionskonzept (31), in dem die Einsicht in die Unbedingtheitsdimension so­wohl des Selbstbewusstseins als auch der Freiheit im Zentrum stehe, die auf das Unbedingte selbst verweisen, dem sich beide verdanken. Ab­solutes und Bedingtes, Allgemeines und Besonderes werden so miteinander vermittelt, dass sich das Absolute im Bedingten, das Allgemeine im Besonderen zeigt, und dies insbesondere in der Freiheit des seiner selbst bewussten Ichs. Auf diese Weise erweist sich das Unbedingte als eine unbedingte Freiheit, der sich bedingte Freiheit allererst verdankt (101 ff.). Dieses Religionskonzept, so D., empfehle sich als Tiefenhermeneutik der individualitätsgeprägten Lebenskultur (47), liefere aber zugleich eine Kriteriologie zur Kritik kultureller Tendenzen, in denen Autonomie auf bloße Selbstbehauptung verkürzt wird und Individualität zu Individualismus verkommt. D. macht allerdings auch auf die Probleme aufmerksam, die in manchen Konzepten des Idealismus gegeben waren, so etwa das Problem der in Anspruch genommenen Gottunmittelbarkeit und der damit verbundenen Behauptung der Gottesgewissheit im Selbstbewusstsein, die im Gegensatz steht zur christlichen Überzeugung der Ungeschuldetheit der Selbstmitteilung Gottes, und der pantheistischen Tendenzen eines All-Einheits-Gedankens, der den Glauben an die Personalität Gottes, an dessen immanente Differenz in der Trinität der göttlichen Personen und an die Differenz von Schöpfer und Ge­schöpf auszuhöhlen droht (31 ff.108 ff.). Zu Recht betont D. zudem, dass Fichte in seiner Spätphilosophie eine Verhältnisbestimmung des Absoluten und Endlichen vorgelegt hat, die den Versuchungen des Pantheismus zu entrinnen vermag, und dies in der Bestimmung des Verhältnisses von Absolutem und Endlichem als Bildverhältnis (131). Kritisch anzumerken bleibt allerdings, dass D. bereits bei Hegel auf Grund seiner Verknüpfung von Identität und Differenz im Begriff des Geistes selbst eine Überwindung einer strikt monistischen Theorie des Absoluten gegeben sieht (130 ff.). Ist nicht gerade Hegels Philosophie ein Beispiel für eine monistische Theorie des Ab­soluten, muss nicht Hegel zufolge im Zu-sich-selbst-kommen des Geistes noch die Differenz von Identität und Differenz in einer absoluten Identität von Identität und Differenz aufgehoben werden? Und ist hier nicht eine entscheidende Differenz zwischen der spekulativen Metaphysik Hegels und der sich stets noch transzendentalphilosophischen Gedanken verpflichtenden Theorie des Absoluten Fichtes markiert?
In einem zweiten Teil vertieft D. unter dem Titel »religionsphilosophische Positionsbestimmungen« an ausgewählten religionsphilosophischen Positionen die Themen des ersten Kapitels (197–343). Er thematisiert hier ausgewählte Aspekte religionsphilosophischer Konzeptionen etwa Kants, Fichtes, Schleiermachers, Hegels oder Tillichs. Am Beispiel Kants etwa erläutert D. die Aktualität einer Religionsphilosophie, die nicht mehr unter dem Primat der Ontologie steht, sondern unter dem Primat der praktischen Vernunft und da­mit auch des transzendentalen Freiheitsgedankens, welcher un­trenn­bar mit dem Gedanken der Subjektivität verbunden ist (211 ff.), am Beispiel Fichtes die Verknüpfung dieser Freiheitstheorie mit einer Philosophie des Absoluten, insbesondere einer Theorie der Er­scheinung des Absoluten im Bedingten, die unbeschadet der Kritik Fichtes der Aporien der Kantischen Transzendentalphilosophie wei­terhin der Kantischen »Wende zur Praxis« im Kontext der Philosophie der Religion verpflichtet bleibt (232 ff.). Hier vertieft D. außerdem seine Überlegungen zum Bildgedanken, den Fichte in seiner Spätphilosophie entwickelt hat, durch den es ihm gelungen ist, das Verhältnis zwischen Unbedingtem und Bedingtem im »als« des Bildes als ein Verhältnis der Identität in bleibender Unterschiedenheit zu bestimmen.
Der letzte Teil konzentriert sich nicht mehr in erster Linie auf Reflexionen zum Begriff und zur Bedeutung von Religion in der Moderne, sondern auf das Thema »protestantische Sozialformen und Kultursichten«, rückt also den Protestantismus selbst und dessen gegenwärtige kulturelle Bedeutung in den Fokus der Reflexion (347–501). Hier ist es D. vor allem um Erörterungen zum protestantischen Kirchenverständnis, zum protestantischen Profil im ökumenischen Diskurs, zur Verhältnisbestimmung von Religion und Recht sowie von Religion und Gewalt und um die Konzeption einer protestan­tischen Ethik im Blick auf die Herausforderung der Globalisierung und auf biopolitische Kontroversen zu tun.
D. hat eine bestechende Analyse eines Religionsverständnisses vorgelegt, das sich in seiner Verbindung mit den beiden Prinzipien Subjektivität und Freiheit angesichts der gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation wachsender Individualisierung und Pluralisierung einerseits als modernekompatibel erweist, jedoch andererseits die Ambivalenzen der Moderne aus seiner eigenen Begründungsbasis heraus klar zu benennen und die Schattenseiten von Individualisierung und Pluralisierung zu kritisieren vermag. Auf zwei Punkte soll jedoch noch kritisch hingewiesen werden, zum einen in Bezug auf den Religionsbegriff, zum anderen hinsichtlich der von D. vorausgesetzten »protestantischen« Perspektive. Hinsichtlich des Religionsbegriffs ist zu fragen, ob man nicht eher von einem mit Selbstbewusstsein und Freiheit verknüpften Begriff von Religiosität sprechen müsste, der als Möglichkeitsbedingung materialer Religionen fungiert. Hinsichtlich des Protestantismus wage ich – eine Katholikin – zu fragen, ob die Verbindung von Glauben und Subjektivität/Freiheit auch heute noch als schwerpunktmäßig »protes­tantisch« gekennzeichnet werden kann. Denn erstens ist die katholische Systematische Theologie nicht mehr in toto so institutionalis­tisch und autoritätsfixiert ausgerichtet, wie D. vor allem im dritten Teil seines Buches suggeriert. Und zweitens gibt es mittlerweile auch in der zeitgenössischen katholischen Theologie und Religionsphilosophie profilierte Konzepte, die explizit und offensiv die Prinzipien Subjektivität und Freiheit zum Ausgangspunkt haben und dabei auch an die Tradition der Transzendentalphilosophie und des Deutschen Idealismus, insbesondere an Kant und Fichte anschließen; hinzuweisen wäre hier etwa auf die Theologien Hansjürgen Verweyens und Thomas Pröppers. Der Reflexion der zentralen Bedeutung von Subjektivität und Freiheit für Religion und Glaube in der Moderne könnte denn auch ein zukünftiges ökumenisches systematisch-theo­logisches bzw. religionsphilosophisches Gespräch gewidmet sein, um die wachsende Sprachlosigkeit zwischen den Konfessionen zu überwinden; wo­möglich käme es zu interessanten Übereinstimmungen, die stärker sind als das noch augenscheinlich Trennende.