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Ausgabe:

Juli/August/2007

Spalte:

826–828

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Wengert, Timothy J.

Titel/Untertitel:

A Formula for Parish Practice. Using the Formula of Concord in Congregations.

Verlag:

Grand Rapids-Cam­bridge: Eerdmans 2006. XII, 234 S. gr.8° = Lutheran Quarterly Books. Kart. US$ 26,00. ISBN 978-0-8028-3026-5.

Rezensent:

Reinhard Slenczka

In der theologischen Ausbildung erscheinen die Bekenntnisschriften vorwiegend, wenn überhaupt, als historische Reminiszenz. Dass sie in den Grundartikeln von Kirchenverfassungen und auch in Ordinationsvorhalten vorkommen, ist zwar zu lesen und zu hören. Doch in welcher Weise sie für den kirchlichen Auftrag, für kirchliche Erklärungen und Leitlinien sowie für das christliche Leben eine Bedeutung haben könnten, bleibt im Nebel des Vergangenen verborgen. Das dürfte vor allem daran liegen, dass in unserer Theologie die zeitbedingte Wandelbarkeit theologischer Lehre nach dem geistesgeschichtlichen Entwicklungsgedanken unter der historisch-hermeneutischen Perspektive im Vordergrund steht, während die Frage nach dem Bleiben in der Wahrheit (Joh 14,16 f.) weitgehend hinter dem Bemühen um eine Vermittlung von Vergangenheit und Gegenwart, von Kirche und Volk zurück­tritt. Damit wird aber auch übersehen, dass der Gegensatz zum Bekennen Verleugnen ist (Mt 10,32–33; Mk 8,8; 38 pp), und das ist heilsentscheidend (Röm 10,10–13). Es wird auch das Ziel und das Kriterium von allen Bekenntnissen und ebenso aller rechten Bekenntnisschriften vergessen, das darin besteht, die vom Geist gewirkte Einheit in der Wahrheit (formula concordiae!) gegenüber dem immer neuen Irrtum zu wahren. »Neoterismos« ist, wenigstens bis zur Reformation, die Bezeichnung für Irrlehre, auch wenn heute unter Theologen immer wieder geprüft wird, ob etwas »innovativ« ist oder aber »überholt« (wovon?).
Die Eigenart der Konkordienformel besteht darin, dass Lehre nicht einfach interpretiert wird, sondern dass rechte und falsche Lehre unterschieden werden, um den Konsens in der Wahrheit des Wortes Gottes zu wahren. Beginnt man aber nun dieses Buch über die Verwendung der Konkordienformel in der Gemeindepraxis zu lesen, dann verfliegen mit einem Schlag die Nebel historischer Neutralisierung von Bekenntnissen und man wird eingeführt in die aktuelle Situation beim Ringen um die Wahrheit im Leben einer Gemeinde.
Der Vf. ist Professor für Kirchengeschichte am Theologischen Seminar von Philadelphia. Das Buch aber ist während seines Diens­tes in einer Landgemeinde entstanden. So werden die 12 Artikel der Konkordienformel fortlaufend nach folgendem Schema behandelt: 1. Ein Beispiel aus der Gemeindearbeit zum jeweiligen Thema; 2. Analyse des historischen Kontexts; 3. »The heart of the matter« – Worum es geht; 4. Der Text des jeweiligen Artikels nach der Epitome mit folgendem kurzem, sehr präzisen Kommentar; 5. »A Formula for Parish Practice« mit Anwendung auf Probleme und Kontroversen, wie sie in Gemeinden auftreten können; und schließlich 6. Anregungen zum Gespräch.
Das Buch ist mit leichtem Stil und tiefem Sinn geschrieben. An drei Beispielen sei das vorgeführt:
Artikel 1 handelt von der Erbsünde mit dem durchaus oft begegnenden Einwand: »But Babies are so cute« – »Babys sind doch so niedlich«. Dazu der ernsthafte Untertitel: »The Original Problem with Human Beings« – »Wie es mit dem menschlichen Wesen nach seinem Ursprung steht«. Diese von einem Gemeindeglied kommende Frage führt weiter zu der Überlegung, woher es denn kommt, dass es böse Menschen und Bosheit unter Menschen gibt. Das führt weiter zu der dogmatischen Grundfrage: Anlage/Vererbung ( creatione) oder Nachahmung (imitatione)? Im Gespräch zu behandeln ist Gen 1 und 3 sowie Joh 3,16.
Oder nehmen wir Artikel 3: »Getting Right(eous) with God: Christians Are Declared, Not Made« – »Mit Gott (ge-)recht werden: Christen werden für gerecht erklärt, nicht gemacht«. (N. b.: Die Alternative forensisch oder effektiv wäre an ApolCA IV, 72 zu überprüfen: »Et quia iustificari significat ex iniustis iustos effici seu regenerari, significat et iustos pronuntiari seu reputari.«)
Das Beispiel aus der Erfahrung: Einem Pfarrer wird bei der Beerdigung seiner geliebten Frau von einem Gemeindeglied der Trost zugesprochen: »Denke nur daran, Tim, Jesus hat gesagt: ›Ich bin die Auferstehung und das Leben‹ (Joh 11,25)«. Dieser Zuspruch trifft, und daran schließt sich als Einsicht für die Behandlung des Themas Rechtfertigung an: Es geht hier nicht um eine Theorie oder Lehre, sondern um ein Geschehen, das uns widerfährt (47). Anders ausgedrückt: Es geht nicht um eine Rechtfertigungs lehre als konfessionelle Eigenart und lutherische Erfindung, sondern darum, dass Gerechtigkeit vor Gottes Gericht im Glauben durch Wort und Sakrament zugeeignet wird. Hier ist der entscheidende Ort des »Sola Scriptura« (50), was völlig verdrängt wird, wenn die Heiligen Schriften als Texte der Antike, nicht aber als Wort des Dreieinigen Gottes in Geist und Buchstaben, Gesetz und Evangelium vorausgesetzt und anerkannt werden.
Als drittes Beispiel haben natürlich die Adiaphora mit Artikel 10 eine besondere Aktualität, und das zeigt sogleich die Überschrift: »Dealing with Congregational Conflict: Neutral Things in a Polar­ized World« – »Der Umgang mit Konflikten in der Gemeinde: Adiaphora in einer polarisierten Welt«.
In der Einleitung dieses Abschnitts geht es um Streitfragen, die sich an Gottesdienstformen entzünden können, im Schluss aber führt dies zu den Problemen, die aus einer theologischen Begründung für politische Forderungen und Programme erwachsen. Für das Gespräch wird hingeführt auf die entscheidenden Texte Röm 14 und 1Kor 8.
Wenn heute selbst unter Fachtheologen die Wirkung des Wortes Gottes in Gesetz und Evangelium kaum noch verstanden wird und daher in der Gemeindearbeit kaum noch vorkommt, dann gibt die Behandlung der Artikel 5 (De lege et evangelio) sowie 6 (De tertio usu legis) dazu ganz praktische Hinweise, was das für einen in der Seelsorge verbreiteten Antinomismus bedeutet, der die Sünde, je­doch nicht den Sünder rechtfertigt, oder auch angesichts einer verbreiteten Gesetzlichkeit und Moralisierung in religionspädagogischen Methoden ohne die persönliche Begegnung mit Gott in Jesus Christus.
Schließlich kann man sich durch die Behandlung von Artikel 7 (De coena Domini) zu der tiefen Einsicht beim Streit über die Weise der Realpräsenz zu der Einsicht führen lassen: »Das weiß ich nicht«. Denn das ist nicht eine theoretische Lehre, sondern eine Verheißung des Herrn: Hier bin ich für dich. Oder auch: Der um den Altar gebildete Halbkreis der Kommunikanten weist darauf hin, dass die andere Hälfte des Kreises im Himmel ist; Christus jedoch steht in der Mitte von beiden (110). – Die Praefatio in der Abendmahlsliturgie kann uns daran erinnern.
Angefügt an die Behandlung der zwölf Artikel der Konkordienformel ist ein Glossar, in dem Fachausdrücke, Namen sowie ge­schicht­liche Ereignisse kurz erläutert werden, wofür sogar Theo­lo­gie­stu­denten dankbar sein können. Ein Namenindex zeigt schließlich, wie umfangreich und tiefgreifend die historische Information in diesem für die Gemeindepraxis gedachten, jedoch auch für Theologen unbedingt empfehlenswerten Buch ist. Auf diese Weise wird die Gemeinde nicht entmündigt, indem man ihr zu bestätigen sucht, was sie ohnehin weiß und fühlt, sondern sie wird mündig und urteilsfähig gemacht für das, was der Einheit der Kirche in der Wahrheit und für die Gewissheit des Glaubens im Leben wie im Sterben heilsam ist.
Da bei uns diese Art von unterweisender und erbauender Literatur fehlt, wäre eine deutsche Übersetzung sehr zu wünschen.