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Ausgabe:

Juli/August/2007

Spalte:

818 f

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Wallmann, Johannes

Titel/Untertitel:

Der Pietismus.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005. 243 S. kl.8° = UTB 2598. Kart. EUR 12,90. ISBN 3-525-03702-3 (Vandenhoeck & Ruprecht); 3-8252-2598-4 (UTB).

Rezensent:

Fred A. van Lieburg

Die erste Auflage dieses Buches erschien als Beitrag zum Handbuch Die Kirche in ihrer Geschichte (1990). Für die separate Neuauflage als UTB-Taschenbuch wurde der Text leicht überarbeitet und die ausführlichen Literaturangaben wurden um die wichtigsten Titel der letzten 15 Jahre ergänzt. Wie schon in dem Handbuch, in dem andere Autoren über die Nachbarländer geschrieben hatten, beschränkt sich Johannes Wallmann auch hier auf Deutschland – bis auf das Kapitel zum reformierten Pietismus im westdeutschen Grenzgebiet, wo eine Ausweitung auf die Niederlande nicht zu umgehen war.
Weder die ursprüngliche Fassung noch die Neuauflage sind ohne Bezug auf das vierteilige Standardwerk Geschichte des Pietismus (1993–2004) entstanden. Schon vor dem Erscheinen des ersten Bandes hatte sich W. von diesem Großprojekt, an dem alle wichtigen Pietismuskenner beteiligt waren, aus Unwillen gegen die dort verwendete Pietismusdefinition zurückgezogen. Die großangelegte Synthese geht von einer Frömmigkeitsbewegung aus, die sich um 1600 im europäischen Protestantismus äußerte, im 18. Jh. in verschiedene konfessionelle Traditionen differenzierte, bis in die neue Welt ausbreitete und sich über die Erweckungsbewegungen des 19. Jh.s bis zum heutigen Evangelikalismus fortsetzte. W. möchte es chronologisch und konfessionell enger sehen. Mit Arndt als Wegbereiter lässt er den Pietismus erst um 1670 richtig beginnen. Gegen 1780, in der Aufklärung, sieht er die Bewegung sich auflösen – alles im Rahmen des Luthertums. Die breitere Definition hält W. für einen »typologischen« Begriff – funktionalistisch, an­thropologisch und letztlich bedeutungslos. Er selbst verteidigt den Pietismus als einen »Epochenbegriff«, wobei der Pietismus mit fes­ ten Kriterien (Sammlung der Frommen, chiliastische Zukunftshoffnung, Priesterschaft der Gläubigen) seinen Platz in der kirchenhistorischen Chronologie zwischen Reformation, Orthodoxie, konfessionellem Zeitalter einerseits und Aufklärung, Idealismus, Erweckung andererseits habe.
Mit diesem Standpunkt wendet sich W. gegen eine ältere Richtung der Pietismusforschung (etwa 1880–1950), die den deutschen, lutherischen Pietismus in eine internationale und interkonfessionelle Frömmigkeitsbewegung einordnete, doch folgt W. seinem Vorgänger Albrecht Ritschl in der Aufnahme der Herrnhuter unter das Dach des Pietismus. Gleichzeitig will er – wie die ausgedehnte Polemik in den jüngsten Jahrgängen von Pietismus und Neuzeit zeigte – wenig wissen von Versuchen, den von ihm postulierten Kernpietismus in einem breiteren kulturellen und gesellschaftlichen Kontext zu verstehen und ihn in längere Entwicklungslinien von Konfessionalisierung, Säkularisierung und Rechristianisierung einzuordnen. Dazu wäre eine flexiblere Definition und eine Weitung des Blickfeldes auf die Nachwirkungen des Pietismus in den letzten beiden Jahrhunderten unvermeidlich.
Es scheint, als ob der Nestor der Pietismusforschung – wie sehr er sich sicherlich über die wachsende interdisziplinäre Aufmerksamkeit für sein geliebtes Forschungsgebiet freuen wird – als Theologe und Kirchenhistoriker noch einmal seine spenero- und germanozentrische Botschaft verkündigt: Der eigentliche Pietismus ist der lutherische Pietismus von 1670 bis 1780, vertreten von großen Männern wie Spener, Francke, Zinzendorf, Bengel oder Oetinger. Er bietet dann auch von Leben und Werk dieser Personen mit souveräner Sachkenntnis treffende Zusammenfassungen.
Wie einfach W.s Pietismuskonzept bei seiner biographischen Methode auf den ersten Blick auch aussieht, so verwendet doch er bei der Gliederung seines Buches – mit Kapiteln über pietistische Frömmigkeit, reformierten Pietismus, hallischen bzw. württembergischen Pietismus, radikalen Pietismus und die Brüdergemeine als Anomalie – eine komplexe Mischung religiöser, konfessioneller, regionaler und ekklesiologischer Kriterien. Diese kompositorische Variation besteht unabhängig von W.s eigener Einsicht, dass die Konzentration auf theologische und frömmigkeitsgeschichtliche Aspekte nicht bedeute, dass andere, etwa literaturgeschichtliche und sozialgeschichtliche Aspekte zu vernachlässigen seien.
Der Umschlagtext des Taschenbuchs nennt »Studierende der Kirchengeschichte und der Profangeschichte« als Zielgruppe dieser fundierten Überblicksdarstellung des deutschen Pietismus, die Wege eröffne »zur weiteren Beschäftigung mit dem Thema«. Ich will das so verstehen, dass die nachwachsende Forschergeneration feststellen wird, dass in der Pietismusforschung ein religionshistorischer Ansatz auf breiter Basis am aussichtsreichsten ist. Die Zu­kunft wird zeigen, ob je wieder ein Taschenbuch zum Pietismus erscheinen wird oder eher ein Handbuch über »entschiedene Chris­ten« in der frühen Neuzeit unter Berücksichtigung dessen, was frühere Kirchenhistoriker Pietismus nannten.