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Ausgabe:

Juli/August/2007

Spalte:

815–817

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Noth, Isabelle

Titel/Untertitel:

Ekstatischer Pietismus. Die Inspirationsgemeinden und ihre Prophetin Ursula Meyer (1682–1743).

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005. 382 S. m. 3 Abb. u. 2 Ktn. gr.8° = Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, 46. Geb. EUR 56,90. ISBN 3-525-55831-7.

Rezensent:

Prisca Guglielmetti

In der reformierten Grafschaft Ysenburg-Büdingen der hessischen Wetterau, wo auf Grund der dort landesherrlichen religiösen Toleranzpolitik seit Ende des 17. Jh.s Glaubensflüchtlinge unterschiedlichster Herkunft ein Bleibe fanden, entstand 1714 die Gemeinschaft der »wahren Inspirations-Gemeinden«, eine religiöse Gruppierung, die in ihrer außer- und gegenkirchlichen Ausrichtung dem linken Flügel des radikalen Pietismus zuzuordnen ist. In diesem neu gebildeten Kreis, dem sich von Anfang an sowohl Männer als auch Frauen zugehörig fühlten, profilierte sich eine kleine Gruppe von Gläubigen durch in ekstatischem Zustand vorgebrachte endzeitliche Prophezeiungen. Ihre visionären »Aussprachen« wurden »als vom ›Geist‹ inspirierte Reden und direkte Offenbarungen Gottes« verstanden und »dem biblischen Wort annähernd gleichrangig« (157) eingestuft. Zu diesen Propheten gehörte Ursula Meyer, eine junge ledige, aus dem Berner Oberland stammende Strumpfweberin, 1682 in Thun geboren und 1743 in Frankfurt am Main gestorben. Ihre für die Jahre 1715 bis 1719 belegbaren enthusiastischen Verkündigungen wurden von eigens zur Mitschrift bestimmten Schnellschreibern festgehalten und sind in einer Auswahl von insgesamt 156 Zeugnissen unter dem Titel J. J. J. Ein Himmlischer Abendschein 1781 im Druck erschienen.
Das Leben und Wirken dieser inspirativ begabten Frau stellt Isabelle Noth ins Zentrum ihrer Studie zur Entstehung und Ausbreitung der Inspirationsgemeinden Ekstatischer Pietismus. Die Inspirationsgemeinden und ihre Prophetin Ursula Meyer (1682–1743), die aus einer bei Rudolf Dellsperger erarbeiteten, von der Universität Bern angenommenen Dissertation hervorgegangen ist. Damit rückt­ sie eine weibliche Hauptgestalt der Inspirationsgemeinden in den Blick, die von Anfang an zu deren engstem Kreis gehörte, aber – anders als die männlichen Exponenten dieser neuen Gruppierung wie etwa Johann Friedrich Rock (1678–1749) oder Eberhard Ludwig Gruber (1665–1728) – bisher noch nicht Gegenstand einer ausführlichen wissenschaftlichen Arbeit geworden ist.
Die Untersuchung ist chronologisch aufgebaut und in fünf Hauptteile gegliedert. In den beiden ersten Kapiteln erörtert N. die »biographischen, religiösen, sozialen und kirchengeschichtlichen Voraussetzungen« (17), die dazu führten, dass Ursula Meyer mit den Inspirierten in Berührung kam und als ein von ihnen anerkanntes »prophetisches Werkzeug des Geistes« in Erscheinung treten konnte. Die Biographie der Ursula Meyer lässt sich auf Grund der schmalen Quellenlage nur skizzieren: Mit ihren Geschwistern wuchs sie in gut situierten Verhältnissen in Thun und Bern auf. Ihr Vater war in Thun unter anderem Mitglied des Großen Stadtrats und in Bern Postverwalter. Er war ebenfalls Besitzer mehrerer Strumpfwebstühle, die seinen Kindern die Grundlage boten, sich als Strumpfweber den Lebensunterhalt zu verdienen. Die ersten 30 Jahre von Ursula Meyers Leben waren von politischen und religiösen Spannungen, aber auch von wirtschaftlichen Veränderungen geprägt. Die Ausbreitung des Pietismus in Bern und im Berner Oberland, aber auch seine rigorose Bekämpfung durch Kirche und Staat, die im Berner Pietismusprozess von 1699 kulminierte, dürfte sie aus nächster Nähe miterlebt haben. Denn es ist anzunehmen, dass ihre Familie einem pietistischen Zirkel angehörte. Ihren Wegzug in die Frankfurter Gegend versteht N. als ein »Zusammenwirken politischer, religiöser und biographischer Faktoren« (82).
Für das Jahr 1715 lässt sich der Aufenthalt Ursula Meyers inmitten der Inspirierten belegen. Diese Gruppierung, deren Wurzeln einerseits zu den nach der Aufhebung des Edikts von Nantes (1685) in Südostfrankreich auftretenden Cevennenpropheten reichen und andererseits zu den radikalpietistischen Kreisen des frühen 18. Jh.s, entfaltete sich im religionspolitisch toleranten Klima der ysenburgischen Grafschaften zu gut organisierten Gemeinden. In den Jahren zwischen 1714 und 1719 erlebten sie als »wahre Inspirationsgemeinden« ihre ekstatische Blütezeit. Damit einher ging eine rege Publikationstätigkeit: Die inspirierten Reden der als Sprachrohre göttlich diktierter Botschaften verstandenen »Werkzeuge« wurden von Protokollanten aufgezeichnet und kollationiert. In dieser Form fanden sie Eingang in die Gemeinde-»Diarien« und wurden von 1716 an in verschiedenen Textsammlungen ge­druckt veröffentlicht (am vollständigsten bibliographiert bei Ulf- Michael Schneider: Propheten der Goethezeit. Sprache, Literatur und Wirkung der Inspirierten, Göttingen 1995, 207–242). Diesen Weg vom »Prophetenwort zu den gedruckten Inspirationssammlungen« zeichnet N. im dritten Kapitel ihrer Arbeit nach.
Mit den gedruckt herausgegebenen inspirierten Reden Ursula Meyers Ein Himmlischer Abendschein befasst sich N. im 4. Kapitel. In einem Überblick präsentiert sie zu jedem Zeugnis jeweils den redaktionellen Vorspann und die Zwischentexte, die unter anderem über Datum, Ort und Anlass der erfolgten Inspirationen Aufschluss geben. Es folgt die inhaltliche Analyse der Aussprachen. Die Themenkomplexe Eschatologie, Christologie und Ekklesiologie so­wie das prophetische Selbstverständnis Ursula Meyers bilden die Schwerpunkte. Es wird deutlich, dass sich Ursula Meyer mit ihren Aussagen in den schon bestehenden Denk- und Sprachmustern des mystischen Spiritualismus bewegt. Das betrifft sowohl »ihre chiliastisch ausgeprägte Eschatologie, die Lehre von der Wiederbringung aller, die Christus- und Brautmystik als auch die Lehre vom inwendigen Wort« (265). Sprachliche und inhaltliche Verbindungen bestehen auch zu Jakob Böhme und Johann Arndt, »auf den sich die Inspirationsgemeinden ausdrücklich beriefen. Der ein­zig e– geschlechtsspezifisch bedingte – Unterschied zu den männlichen ›Werkzeugen‹ bestand in der auffallend geringen Anzahl ekklesiologischer Äußerungen Ursula Meyers.« (265) Auf Grund dieser Beobachtungen kommt N. zum Schluss, dass die Inspirationsgemeinden nicht als eine »abwegige Randerscheinung der pietistischen Bewegung«, sondern als ein »unübersehbarer Teil derselben« (320) einzustufen sind.
Im letzten Kapitel eruiert sie die Ursachen für die auffallend spät erfolgte Drucklegung der Aussprachen Ursula Meyers: Während die Aussprachen der männlichen »Werkzeuge« bereits in den Jahren zwischen 1716 und 1719 gedruckt erschienen, wurden Ursula Meyers Inspirationsreden erst 1781, mit einer zeitlichen Verzögerung von über 60 Jahren, herausgegeben, und zwar auf Drängen von Berner Inspirierten. N. führt diesen Sachverhalt sowohl auf »innergemeindliche Auseinandersetzungen« (320) als auch auf die Vielzahl »missionarisch wirkender und einander konkurrierender Gruppierungen im Berner Oberland im 18. Jahrhundert« (321) zurück.
Ergänzt wird der Band mit fünf bisher nur als Handschriften verfügbaren Briefen, die in den Jahren von 1699 bis 1718 sowohl von Inspirierten als auch von außenstehenden Zeitzeugen abgefasst wurden und die mit dem Aufkommen der Inspirationsgemeinden verbundenen Auseinandersetzungen widerspiegeln.
Ausgehend vom Einzelfall der Inspirierten Ursula Meyer und auf ihn fokussiert stellt N. die ekstatischen Phänomene der Inspirationsgemeinden in den Gesamtkontext der pietistischen Bewegung und damit in einen erweiterten kirchengeschichtlichen Zusammenhang. Daraus ergeben sich neue Erkenntnisse für die Inspirationsgemeinden, aber auch geschlechtsspezifisch reflektierte Einblicke in die von religiösen Strömungen vielfältig geprägte Glaubenswelt der ersten Hälfte des 18. Jh.s.