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Ausgabe:

Juli/August/2007

Spalte:

805–808

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Hasselhoff, Görge K.

Titel/Untertitel:

Dicit Rabbi Moyses. Studien zum Bild von Moses Maimonides im lateinischen Westen vom 13. bis zum 15. Jahrhundert.

Verlag:

Würzburg: Königshausen & Neumann 2004. 400 S. gr.8°. Kart. EUR 49,80. ISBN 3-8260-2692-6.

Rezensent:

Wilhelm Schmidt-Biggemann

Diese 2004 in Heidelberg im Fach Kirchengeschichte geschriebene Dissertation ist ein wichtiges Buch. Sie stellt zum ersten Mal die Wirkungsgeschichte des Maimonides im lateinischen Mittelalter umfassend dar, sie geht dabei über philosophische Wirkungsgeschichte hinaus und berücksichtigt auch die medizinischen Schriften. Freilich stellt sich heraus, dass, verglichen mit der großen Wirkung, die der Führer der Verirrten hatte, die medizinischen Schriften des Maimonides nur marginal rezipiert wurden. Aber erstaunlicher ist, dass im lateinischen Mittelalter gar keine Wirkung des für das Judentum so bedeutsamen Gesetzeskommentars Mischne Thora nachweisbar ist.
Als Grundsatz, der auch aus der vorliegenden Arbeit sichtbar wird, muss man festhalten: Alle Wirkung fremder Literatur hängt von Übersetzungen ab. So geht es auch bei H. nur um den lateinischen Maimonides, wie er sich dem Hoch- und Spätmittelalter präsentierte. Das Buch endet, ein bisschen willkürlich, strikt um das Jahr 1500. Die Geschichte des Maimonides im lateinischen Westen ist mit diesem Datum keineswegs zu Ende, auch in der Frühen Neuzeit spielt Maimonides eine wichtige Rolle; freilich verschiebt sich seine Bedeutung in die Philologie; und dann geht es um die Geschichte der hebräischen Studien in Europa und um die christliche Kabbala.
Aber auch in der Beschränkung auf das Mittelalter ist die Studie reich genug. Freilich ist dieser Reichtum prima vista nicht immer ganz durchsichtig erschlossen; die Gliederung zeigt, dass die Ge­schichte des »Rabbi Moyses receptus« in Windungen verläuft, die man sämtlich nachvollziehen muss und für die das Buch vorweg keinen Kompass bietet. Es stellt nach einer präzisen bio-bibliographischen Einführung zunächst die astronomischen und exegetischen Topoi der Wirkungsgeschichte des Maimonides dar und beschreibt ihn danach als Philosophen, zuerst als Autor des Liber de uno Deo benedicto, dann als Verfasser des Dux neutrorum. Die Wirkung des »Führers der Verirrten« wird zunächst nach Schulen – nämlich Albertisten und Thomisten –, dann nach einzelnen Autoren und schließlich nach den Grundlinien der christlich-jüdischen Kontroverslite­ratur behandelt. Diese uneinheitliche Gliederung, die Sachtopoi, Werk-, Personen- und Schulgeschichten ineinanderschiebt, macht die Lektüre in einigen Passagen mühseliger als nötig.
Hat man sich aber an die Komplikation gewöhnt, stellt sich heraus: In allen dargestellten Bereichen – mit Ausnahme dem der Medizin – ist die Rezeption des Maimonides wichtig und nachhaltig: Eine astronomische Notiz des Michael Scotus vom Hofe des Staufferkaisers Friedrich II., dass die »Dicke« der Planetenbahnen 500 Jahreswegen eines Menschen entspreche, hat ihren Weg in die weit verbreitete Legenda aurea des Jakob von Voraigne gefunden, der die Himmelfahrt Christi mit diesem Maß erläutert. Noch Meister Eckart bestimmt, offensichtlich in der Nachfolge des Maimonides, die Entfernung des Zodiakus mit eben denselben 500 menschlichen Jahresmärschen.
Im Fach der biblischen Exegese hat Maimonides vor allem als geistlicher Gesetzgeber gewirkt: Er stellte fest, dass es in der Thora 248 Gebote gemäß den 248 Gliedern des Menschen und 365 Verbote nach den Tagen des Jahre gebe; dass die Beschneidung am 8. Tag stattfinden solle – dann sei der Knabe widerstandsfähig genug, und wenn er sterbe, sei er noch so klein, dass der Schmerz der Eltern nicht übergroß sei –; er bestimmte das Verbot der Heirat zwischen Verwandten und zwischen Eltern und adoptierten Kindern.
Seine mit großem Abstand wichtigste Bedeutung erlangte Maimonides im lateinischen Mittelalter mit seinem »Führer der Verirrten«. Das zwischen 1180 und 1190 entstandene Werk ist vor 1240 im Westen bekannt geworden, zunächst nur mit einem Ausschnitt: Liber de uno Deo benedicto. Dieser Ausschnitt enthält die 25 Leitsätze aus dem II. Buch, Kapitel 1 und einen Teil aus dem 2. Kapitel. Albertus Magnus bezieht sich als erster lateinischer Autor auf dieses Buch, er wies in seinen Kommentaren zu »De divinis nominibus« und zum »Liber de causis« die Thesen des Liber de uno Deo benedicto über die Engel als physische Mächte des Himmels zurück (107).
Der Führer der Verirrten ist als Dux neutrorum, wie H. mit guten Argumenten vermutet, um 1240 im Dominikanerkloster St. Jacques in Paris vollständig übersetzt worden. Mit dieser Übersetzung, die zuerst 1520 von Agostino Guistiniani in Paris im Druck herausgegeben wurde, war Maimonides Teil der lateinischen scholastischen Tradition. Albertus Magnus hat die neue Übersetzung offenbar von Beginn an benutzt, seine Schüler Thomas von Aquin, Ulrich von Straßburg, auch Thomas von York haben zunächst dieselben Topoi diskutiert wie er: die Zurückweisung der aristotelischen These von der Ewigkeit der Welt (134 ff.), die negative Theologie (152) und das »Sein Gottes« (148), schließlich die Prophetie (15 5ff.). Insgesamt ist dieses Kapitel, das von Wissen nachgerade überquillt, etwas unübersichtlich geschrieben. Das liegt wohl daran, dass H. sowohl philosophisch als auch historisch als auch kodikologisch argumentiert und durchgehend damit beschäftigt ist, alle Fragen auf einmal zu beantworten.
Ebenso wie sein Lehrer Albert hat Thomas von Aquin den »Führer der Verirrten« selbst gelesen und ihn nicht aus anderen Texten zitatweise übernommen. Vor allem in seinem frühen Sentenzenkom­mentar beruft sich Thomas auf Maimonides, kritisch ebenso wie af­firmativ. Es ist bemerkenswert, dass er nahezu alle wichtigen Topoi diskutiert, die auch Albert verwendet: das Sein Gottes (166), die Rolle der Engel im physischen Kosmos (174–178), die Schöpfung (als Gegenposition zur Ewigkeit der Welt). Aber er geht über Albert hinaus, wenn er die Providenzlehre des Maimonides angreift und ihn in dieser Beziehung als »Häretiker« anklagt (170.171), wenn er Maimonides zum Zeugen für das Verhältnis von Mikrokosmos und Makrokosmos anführt (173) und wenn er Maimonides im Zusammenhang der Chris­tologie erörtert (183). Es ist bemerkenswert, dass sich Thomas vornehmlich in seinem Frühwerk auf Maimonides bezieht; in den großen Summen spielt Maimonides keine wichtige Rolle mehr. Dafür gerät Maimonides aber in die Kritik der Aristotelesgegner; er figuriert prominent auf der Liste der »Errores Philosophorum«, die möglicherweise von Aegidius Romanus stammt. Hier wird ein Vorwurf wiederholt, der seit Albertus Magnus eine Hauptrolle spielte, dass Maimonides nämlich einen beseelten Kosmos lehre, dessen Bewegung durch die Engel bewirkt werde (193).
Einer der wichtigsten Leser des Maimonides war Meister Eck­hart. Er hat den jüdischen Philosophen vor allem als Interpreten des Buchs Genesis gelesen und ihn in dieser Funktion in seinen christlichen Neuplatonismus integriert. Das zeigt H. (Yossef Schwartz folgend) ausführlich an Eckharts lateinischen Werken, an der »Expositio in Johannem« und am fragmentarischen »Opus tripartitum«. Hier werden (im Übrigen durchaus auch in der Tradition der christlichen Kirchenväter) Gen 1,1 (»In principio«) und Gen 1,2 (»Spiritus Dei ferebatur super aquas«) im Sinne einer geistlichen Physik interpretiert.
Das, wie ich finde, spannendste Kapitel behandelt die Rolle des »Führers der Verirrten« im Streit um die Konversion der Juden in Spanien. H. beschreibt zunächst ausführlich das berühmte Religionsgespräch von 1263 in Barcelona, aus dem als mittelbare Frucht der berühmteste polemische Traktat der dominikanischen Missionsanstrengungen hervorging, Raimundus Martinis Pugio fidei. (H. benutzt neben der gedruckten Ausgabe von Benedikt Carpzow aus dem Jahr 1687 auch das Ms. Lat.1.405 der Bibliothek St. Gene­viève in Paris). Martini, wohl der bedeutendste christliche Kenner der rabbinischen jüdischen Tradition im Mittelalter, hat Maimonides in der hebräischen Version benutzt und neu übersetzt. Die Haupttopoi seiner Maimonides-Lektüre blieben (weniger im Spanien des 14. und 15. Jh.s als vor allem im Italien des 16. Jh.s, vor allem bei Petrus Galatinus und der christlichen Kabbala – aber das stellt H. nicht mehr dar) die wichtigsten Kontroverspunkte der christlich-jüdischen Missionsdebatte: die Figur des Messias bei Juden und Christen (231.241), die jüdischen Kultvorschriften (233), die Frage der Gottebenbildlichkeit (235), die Interpretation des Tetragramms (236), die 72 Gottesnamen (Schemhamphorasch, 238). Wieweit Ni­kolaus von Lyra, dessen mögliche jüdische Abstammung H. be­streitet, Martinis Pugio fidei verwendet hat, bleibt unklar; jedenfalls zitiert auch Nikolaus die Auslegung des Tetragramms aus dem »Führer der Verirrten« in seiner sehr einflussreichen Postilla supra totam Bibliam (253).
Gegenüber dieser intensiven und nachhaltigen Wirkungsgeschichte blieb die Kenntnis der medizinischen Schriften des Maimonides recht begrenzt; zwar wurden insgesamt sieben von den zehn medizinischen Schriften des Maimonides zwischen 1250 und 1400 ins Lateinische übersetzt; aber sie konnten keine größere Wirkung entfalten.
H. hat in seinem Buch die komplizierte Wirkungsgeschichte des Maimonides im lateinischen Mittelalter umfassend vorgestellt. Die Arbeit ist vorzüglich recherchiert, sie kennt die Handschriftenlage, sie benutzt die vorliegenden Forschungsarbeiten souverän, sie informiert auf der Basis von gründlicher Quellenkenntnis über die Umstände der Entfaltung von Maimonides’ Wirkung. Diese Wirkung wird bis in ihre kodikologischen Verwinklungen nachgezeichnet. In dieser historischen Komplikation, die durchaus auch detailverliebt geschildert ist, wird deutlich, welch wichtige Rolle Maimonides in der theologisch-philosophischen Debatte des Mit­telalters spielte: Er war der jüdische Philosoph, der in den scholastischen Debatten gleichberechtigt mit den großen arabischen Autoritäten, mit Alfarabi, mit Avicenna, mit Al Rhasali und mit Averroes zitiert wurde. Maimonides ist dank H. als eine der philosophisch-theologischen Schlüsselfiguren des lateinischen Mittelalters präzise und detailgenau konturiert. Damit bietet dieses Buch zugleich die Basis für die Fortsetzung dieser Forschungen in der Frühen Neuzeit. Anders als die arabischen Philosophen entfaltete Maimonides nämlich in den christlich-jüdischen Debatten der Frühen Neuzeit noch einmal eine besondere, neue Wirkung. H.s Dissertation lädt dazu ein, seine Forschungen fortzusetzen.