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Ausgabe:

Juli/August/2007

Spalte:

798–800

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Ratzinger, Joseph/Benedikt XVI.

Titel/Untertitel:

Jesus von Nazareth. Erster Teil: Von der Taufe im Jordan bis zur Verklärung.

Verlag:

Freiburg- Basel-Wien: Herder 2007. 447 S. 8°. Geb. EUR 24,00. ISBN 978-3-451-29861-5.

Rezensent:

Jens Schröter

Obwohl vom Papst geschrieben, wird bereits im Vorwort dieses Jesusbuches betont, es sei »in keiner Weise ein lehramtlicher Akt ..., sondern einzig Ausdruck meines persönlichen Suchens ›nach dem Angesicht des Herrn‹ « (22). Es handelt sich also um eine Abhandlung des Theologen Joseph Ratzinger, der es ausdrücklich als Diskussionsbeitrag verstanden wissen will: »Es steht daher jedermann frei, mir zu widersprechen.« (ebd.) Nur um den Vorschuss an Sympathie, oh­ne den es kein Verstehen gibt, bittet er seine Leserinnen und Leser.
Die Prämissen werden gleich zu Beginn offengelegt. Die historisch-kritische Forschung habe den »historischen Jesus« und den »Christus des Glaubens« auseinandergerissen und damit Jesus als Bezugspunkt des Glaubens undeutlich werden lassen. Dem möchte der Vf. mit einem anderen Verständnis von Historizität entgegenwirken. Die historische Methode sei unverzichtbar für die Theologie, weil sie die Offenbarung Gottes in der Geschichte als wirkliches historisches Geschehen vor Augen stelle. Sie dürfe allerdings nicht dazu führen, die biblischen Schriften lediglich als Menschenwort der Vergangenheit zu betrachten und ihre eigentliche Bedeutung als Zeugnisse für das Hereintreten Gottes in die Ge­schichte – »Et incarnatus est« – zu nivellieren. Der »Mehrwert« der biblischen Texte, ihre »wahre« historische Bedeutung, werde deshalb erst dann erkennbar, wenn sie als göttlich inspirierte Schriften gelesen werden. Die zentrale These des Buches lautet folgerichtig: Dass Jesus als Mensch wirklich Gott war, ist eine Aussage über den »wahre[n], ›historische[n]‹ Jesus« (so 143 mit Blick auf das vierte Evangelium).
Entfaltet wird dies anhand einer Auslegung verschiedener neutestamentlicher Texte. Weil der Vf. von deren Inspiriertheit ausgeht, bedarf es keiner Differenzierung zwischen den Jesusbildern der Synoptiker und demjenigen des Johannesevangeliums, auch eine Unterscheidung von älteren und jüngeren Überlieferungen, von »Tradition« und »Redaktion«, ist entbehrlich. »Historischer Jesus« wird hier also ganz anders verstanden als in der historisch-kritischen Jesusforschung seit der Aufklärung. Der »wahre ›historische‹ Jesus«, auf den bereits das Alte Testament vorausverweist, ist »der neue Mose«, der Sohn Gottes, der in den Schriften des Neuen Testaments bezeugt wird und dessen Wesen in den Auslegungen der Kirchenväter weiter entfaltet und im kirchlichen Bekenntnis zusammengefasst wird.
In seinen Textinterpretationen, die – etwa beim Vaterunser oder bei den Gleichnissen – eindrückliche Zeugnisse theologischer Schriftauslegung darstellen, geht der Vf. häufig von philologischen Beobachtungen aus und fragt auf deren Basis nach dem tieferen Sinn der Texte, der ihre Wahrheit und ihre Bedeutung für die Gegenwart erschließt. Diskutiert werden exegetische Detailfragen, wie etwa die Bedeutung von »sanftmütig« in der dritten Seligpreisung, von »täglich« in der Brotbitte des Vaterunsers oder die Möglichkeiten der syntaktischen Konstruktion von Joh 7,37 f. (fließen die »Ströme lebendigen Wassers« aus dem Leib dessen, der glaubt, oder aus dem Leib Christi?). Häufig entdeckt der Vf. mehrere Sinndimensionen der Texte. Das Gleichnis von den beiden Brüdern aus Lk 15 könne auf Israel und die Heiden gedeutet werden (der ältere Sohn, der schon immer beim Vater war, der jüngere, der zu ihm umkehrt), enthalte aber auch eine »implizite Christologie« (Jesus nimmt die Sünder an) und eine existentielle Dimension (der verlorene Sohn kehrt um zur »Wahrheit seiner Existenz«, 245). So werden vielfältige Sinnpotentiale erschlossen, was an die Auslegungen der Kirchenväter erinnert, die immer wieder als Gesprächspartner herangezogen werden. Die historisch-kritische Forschung hat dies bei ihrer Suche nach dem einen historischen Ursprungssinn dagegen lange vernachlässigt.
Im Blick ist stets die gesamte Schrift. Der wahre Sinn der Taufe Jesu erschließe sich erst, wenn sie als Antizipation seines Kreuzestodes verstanden werde. Die zweite Versuchung Jesu (Steine in Brot verwandeln) sei im Zusammenhang weiterer Brottexte zu lesen, die gemeinsam auf das letzte Abendmahl und damit auf die Eucharis­tie der Kirche vorausverweisen. Hier gibt sich Jesus selbst als »Brot vom Himmel«, was in der Brotrede des Johannesevangeliums in prägnanter Weise zum Ausdruck gebracht werde. Wenn Jesus dabei als Gabe von Gott zu den Menschen kommt, die sie sich nicht durch eigene Leistung verdienen können, verweise dies auf die pauli­nische Theologie, in der diese »Dynamik des Geschenkten« (313) durchgehend gegenwärtig sei. – In dieser Form werden immer wieder Schriftstellen zueinander in Beziehung gesetzt und zu einem großen Panorama von der Of­fenbarung Gottes in Jesus verknüpft. Wenn Jesus vom Reich Gottes spricht, verweist er auf das Geheimnis seiner eigenen Person. Wenn er in der Bergpredigt die »neue Tora« lehrt, verkündet er sich selbst als »die lebendige Tora Gottes« (206). Wenn er das Sabbatgebot einer radikalen Neuinterpretation unterzieht, ist er dazu legitimiert, weil er selbst Gott ist.
Das Johannesevangelium hat für diese Sicht besondere Bedeutung. Nach dem Vf. geht es auf den Zebedaiden Johannes zurück, später sei es von dem Presbyter der Johannesbriefe überarbeitet worden. In seinem historischen Wert stehe es deshalb nicht hinter den synoptischen Evangelien zurück, ja, seine »besondere Art von Historizität« (271) bringe sogar das Wesen Jesu in besonders dichter Weise zum Ausdruck. Entfaltet wird dies in den »großen johanne-ischen Bildern« vom Wasser, Weinstock und Wein, Brot und Hirten.
In der Verklärung erleben die Jünger, was Petrus in seinem Be­kenntnis auszudrücken versucht hatte: das Einssein Jesu mit Gott, von dem explizit im Johannesevangelium die Rede ist. Wenn Jesus hier von sich als »Sohn« spricht, »Ich und der Vater sind eins« sagt oder einfach »Ich bin es«, bringt er seine Wesenseinheit mit Gott zum Ausdruck, die das Konzil von Nizäa später mit dem homoousios in einen philosophischen Begriff gefasst hat.
Diese Interpretationen sind bemerkenswert, bewegen sich freilich jenseits von Differenzierungen, um die sich die historisch-kritische Forschung seit der Aufklärung bemüht hat. Der Vf. stellt dem eine eigene Verhältnisbestimmung von Vernunft und Glaube entgegen: Durch die Offenbarung Gottes in Jesus sei die Welt »in ihrer Ra­tionalität dargestellt« (211). Das Christentum habe die an­tike »Dä­monenfurcht« überwunden und mit dem Bekenntnis zu dem einen Gott und dem einen Herrn die vielen »sogenannten Götter« abgelöst.
Kann man das angesichts von Texten über magische Heilpraktiken, apokalyptischen Szenarien und Berührungen mit Elementen paganer Religiosität – etwa bei der Deutung von Herrenmahl und Taufe durch Paulus – quer durch das Neue Testament hindurch tatsächlich sagen? Erscheint das frühe Chris­tentum nicht vielmehr als eine antike Religion, die in vielfältiger Weise an den Vorstellungen ihrer Zeit partizipiert und sie inhaltlich neu besetzt? Hat das Christentum die antike Religiosität wirklich durch die ratio Gottes »überwunden« und nicht vielmehr eine religiöse Überzeugung in den Ausdrucksformen seiner Zeit plausibilisiert?
Die Vorstellung einer »Rationalisierung der Welt« durch die in Jesus geoffenbarte Vernunft Gottes platziert das Christentum dem Vf. zufolge auf eigene Weise innerhalb der Religionen. Den Dialog mit dem Judentum führt er dabei in Form eines Gesprächs mit Jacob Neusner, das er an verschiedenen Stellen aufnimmt. Trotz der besonderen Nähe beider Religionen wird der Differenzpunkt klar herausgestellt: Für den Juden Neusner greift Jesus mit seiner radikalen Neuinterpretation der Tora in die Autorität Gottes ein, für den Christen Ratzinger ist er dazu legitimiert, weil Jesus selbst Gott ist. Grundsätzlich urteilt der Vf. im Blick auf die, »die Christus nicht kennen«: Die Vorstellung, jeder solle seine eigene Religion leben, beruhe auf einem seltsamen Gottesbild und einer ebensolchen Vorstellung vom Menschen. Der Weg zur Wahrheit sei dagegen der Weg, »der bei Jesus Christus endet« (122 f.).
Letztlich wirft das Buch somit die Frage auf, ob sich die Differenzierung zwischen einem historisch rekonstruierten Jesus und dem vom Neuen Testament und der Kirche bezeugten Christus zu Guns­ten einer Einheit von dogmatischer und historischer Wahrheit aufheben lässt. Die in Aufklärung und historischer Kritik wurzelnde Bibelwissenschaft hat sich um eine Unterscheidung von Rationalität und Glaubensüberzeugungen, die jenseits verifizierbarer »Vernunftwahrheiten« liegen, bemüht. Das Jesusbuch des Vf.s urteilt hier anders und fordert damit zu einem Disput über diese Frage heraus. Er hat es dezidiert nicht mit der Autorität seines Amtes verbunden. Das eröffnet Chancen für den ökumenischen Dialog.