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Ausgabe:

Juli/August/2007

Spalte:

795–797

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Pitre, Brant

Titel/Untertitel:

Jesus, the Tribulation, and the End of the Exile. Restoration, Eschatology and the Origin of the Atonement.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck; Grand Rapids: Baker Academic 2005. XIII, 586 S. gr.8° = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 204. Kart. EUR 79,00. ISBN 3-16-148751-6 (Mohr Siebeck); 0-8010-3162-1 (Baker Academic).

Rezensent:

Jostein Ådna

Brant Pitre legt in dieser Monographie eine beeindruckende Untersuchung zum Thema Jesus und die eschatologische Drangsal vor. Einerseits will er darin nachweisen, dass die Vorstellung vom andauernden Exil Israels sowie die Hoffnung auf dessen Ende durch die Rückführung der Vertriebenen und auf Wiederherstellung des alle zwölf Stämme umfassenden Gottesvolkes integrierte Be­standteile der endzeitlichen Erwartungen sind. Andererseits will sich P. nicht damit begnügen, diese traditionsgeschichtlichen Zu­sammenhänge in den biblischen Texten aufzuspüren, sondern er möchte gezielt die Stellung des historischen Jesus zu diesem Mo­tivkomplex und zu seiner eigenen Rolle in dem damit angezeigten eschatologischen Drama erarbeiten.
P. teilt seine Studie in sechs Kapitel. Kapitel 1, »Introduction« (1–40), enthält eine forschungsgeschichtliche Übersicht und eine Darlegung methodologischer Fragen, wobei seine Rechenschaft darüber, welche Authentizitätskriterien er in der Untersuchung he­ranziehen und wie er sie benutzen wird, als besonders wichtig er­scheint. Es geht um die fünf Kriterien der Mehrfachbezeugung, der Unähnlichkeit gegenüber der frühen Kirche, der Anstößigkeit (»embarrassment«), der Kohärenz sowie der Kontextentsprechung.
Kapitel 2 handelt von »The Messianic Tribulation and the End of the Exile in Late Second Temple Judaism« (41–130), indem hier Schriften, die einigermaßen sicher in die Zeit ca. 200 v. Chr. bis 30 n. Chr. zu datieren sind, untersucht werden. Es sind Daniel als einziges alttestamentliches Buch sowie mehrere Pseudepigraphen und Schriften von Qumran. P. meint auf Grund dieser Quellen feststellen zu können, dass die Vorstellung von einer eschatologischen Drangsalszeit, gefolgt von der Restituierung des aus dem Exil befreiten Israel (bei der manchmal eine messianische Gestalt eine Rolle spielt), im Frühjudentum weit verbreitet war.
Den größten Teil nehmen die drei sich mit Jesus beschäftigenden Kapitel ein (131–507). In Kapitel 3, »The Tribulation and the Enigmatic Sayings of Jesus«, werden vier Texte erörtert: das Va­terunser (vgl. peirasmos in Lk 11,4 Par.); Q 16,16; Mk 9,11–13 und Q 12,51–53. In Kapitel 4 behandelt P. die Endzeitrede von Mk 13,1–27. Kapitel 5, »The Paschal Tribulation, the Death of Jesus, and the New Exodus«, ist den Texten Mk 10,35–45; 14,26–28 sowie 14,32–42 gewidmet. Kapitel 6 (509–518) rundet mit einer Zusammenfassung und einem kurzen Ausblick auf die Folgen der erreichten Ergebnisse für die historische Jesusforschung das Buch ab.
Nach P.s Überzeugung zeigen die in Kapitel 3–5 aufgenommenen Mk- und Q-Texte, welchen zentralen Platz die im Alten Testament und Frühjudentum wurzelnden Vorstellungen von der escha­tologischen Drangsal und dem Ende des Exils in der synoptischen Jesusüberlieferung einnehmen. Überwiegend liefert P. de­taillierte, in sich schlüssige und kohärente Auslegungen, häufig mit erfrischend neuen Gesichtspunkten zu gerade schwierigen Textstellen. P. zollt den Texten in ihrem vorliegenden Wortlaut einen begrüßenswerten Respekt, der ihn davon abhält, vorschnell Perikopen aufzubrechen und Logien aus ihrem Textzusammenhang herauszulösen (vgl. seine Auslegungen von Mk 10,35–45 und 13,5–27).
Die Authentizitätsprüfung der behandelten Texte nimmt einen großen Raum ein. Vor allem bei der Anwendung des Kohärenzkriteriums werden weitere Jesusüberlieferungen zum Teil ausführlich erörtert und in Bezug auf die zusammenfassende Synthese ausgewertet (z. B. Mk 11,15–17; 14,17–25; Q 13,28 f.34 f.). P. gelangt bei allen herangezogenen Texten zu einem positiven Urteil bezüglich ihrer Authentizität. Auf Grund des damit gewonnenen reichhaltigen Quellenmaterials vermag er sehr präzise über Jesu Stellung zur eschatologischen Drangsal Auskunft zu geben: »Jesus, speaking of himself as both Son of Man and Messiah, deliberately took the suffer­ings of the tribulation upon himself in order to atone for the sins of Israel, sins which had led them into exile. Because he saw this tribulation as nothing less than an eschatological Passover, he sought to inaugurate it in both word and deed and, thereby, to bring about the End of the Exile and the restoration of the twelve tribes in a New Exodus« (505 f.), wobei er die Hoffnung auf die Wiederherstellung Israels an seine eigene Auferweckung von den Toten knüpfte (vgl. 514).
Die beeindruckende Geschlossenheit von P.s Studie und seine fundierte Argumentation zu Gunsten der Authentizität der untersuchten Jesusüberlieferungen bereiten jedoch auch erhebliche Probleme. Seine Auslegungen sind nämlich oft so angelegt, dass sie in sich zusammenzubrechen drohen, sobald sich eines der dabei vorausgesetzten Momente als nicht stichhaltig oder tragfähig erweisen sollte. M. E. legt P. seinen Auslegungen eine viel zu starre und undifferenzierte Übernahme eines aus Dan 7 und 9,24–27 stammenden apokalyptischen Schemas zu Grunde. Es ist keine Überraschung, dass sich dieses Verfahren in der Auslegung von Mk 13,14–27 als durchführbar erweist, denn hier bleibt in der zeitlichen Abfolge reichlich Raum für die Prüfungen der großen Drangsal vor der heilvollen Wende durch die Parusie des Menschensohnes und seiner Heimholung der Exilierten (= »Erwählten«). Aber P.s durchgehendes Festhalten an der bei Daniel angelegten unausweichlichen Notwendigkeit der eschatologischen Drangsalszeit, während der der messianische Menschensohn leidet und stirbt und ebenso seine Jünger schlimmen Prüfungen bis hin zum Tod ausgesetzt sind, führt dazu, dass vorhandenen Variationen in den Evangelientexten nicht angemessen Rechnung getragen wird.
Z. B. haben in Mk 14,26–28 die Auferstehung des Messias, sein Vorausgang nach Galiläa und seine erneute Annahme der Zwölf in der Begegnung dort deutlich ihre Entsprechung innerhalb des zu Grunde liegenden Textes Sach 13,7–9 im Wendepunkt in V. 9b. Aus Mk (vgl. 16,7) sowie Mt (vgl. 28,7.10.26–20) geht eindeutig hervor, dass die heilvolle Wende mit der symbolischen Neukonstituierung Israels im Territorium der dem assyrischen Exil anheimgefallenen Nordstämme bereits direkt im Anschluss an Jesu Auferstehung ohne den »Umweg« über eine Drangsalszeit erfolgt. Darum ist P. in seiner Auslegung von Mk 14,26–28 (455–478) schlicht im Unrecht, wenn er das Versagen der Jünger auf die künftige große Drangsal, von der Mk 13,14 ff. handelt, statt auf die Tage zwischen der Gefangennahme Jesu und der Wiederbegegnung in Galiläa verschieben möchte. Als weiteres Beispiel einer fehlgeratenen Auslegung kann P.s Versuch, Mk 13,10 als aussagegleich mit Mt 10,5 f. darzustellen (273–278), ge­nannt werden. Dies geschieht zum Teil, weil er bei der Identifizierung der »verlorenen Schafe aus dem Hause Israel« ganz von den entscheidenden Angaben im Kontext (Mt 9,36–38, vgl. auch 4,24 f.) absieht. – Im Ganzen lassen P.s Ausführungen zur Heilsbedeutung des Todes Jesu (u. a. in Mk 10,45) zu wünschen übrig. Warum es des Todes des messianischen Menschensohnes bedarf, um Erlösung zu bringen, darüber hinaus, dass dieser Tod Bestandteil eines vorgegebenen apokalyptischen Schemas ist, erklärt P. nicht. Die Thematik des stellvertretenden Sterbens und der Sühne wird nur oberflächlich behandelt.
P. setzt sich ausführlich mit der Forschungsliteratur auseinander, etwa den Arbeiten zum historischen Jesus von J. P. Meier, N. T. Wright und E. P. Sanders. Trotzdem sind auch bemerkenswerte Lücken zu verzeichnen; z. B. fehlen D. Wenham, The Rediscovery of Jesus’ Eschatological Discourse (1984), und wichtige Studien zur Sühnevorstellung. Das Buch ist dankenswerterweise mit ausführlichen Stellen-, Autoren- und Sachregistern ausgestattet (543–586). Störend für die Lektüre sind die vielen Druckfehler, die das ganze Buch durchziehen; häufig fehlt in einem Satzgefüge ein Wort, oder es steht ein Wort zu viel. Im Paragraphen über Mk 13,9–13 (253–292) wird der Text mindestens zwölfmal als Mark 9:11–13 statt 13:9–13 angeführt. Solche Schönheitsfehler können jedoch den Blick von den wesentlichen Inhalten des Buches nicht ablenken, bei denen sich P. nicht zuletzt durch die Herausstellung der Bedeutung der Hoffnung auf die Sammlung aller zwölf Stämme als Bestandteil der eschatologischen Vollendung große Verdienste erworben hat.