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Ausgabe:

Juli/August/2007

Spalte:

793–795

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Nolland, John

Titel/Untertitel:

The Gospel of Matthew. A Commentary on the Greek Text.

Verlag:

Grand Rapids-Cambridge: Eerdmans; Bletchley: Paternoster 2005. XCVIII, 1481 S. gr.8° = The New International Greek Testament Commentary. Lw. US$ 80,00. ISBN 978-0-8028-2389-2.

Rezensent:

Martin Vahrenhorst

Mit dem hier zu besprechenden Werk steht allen am Matthäusevangelium Interessierten ein weiterer großer Matthäuskommentar zur Verfügung, der die Forschung um interessante Akzente und Fragestellungen bereichert. Diese betreffen zunächst die Datierung des Evangeliums: John Nolland, der am Trinity Theological College in Bristol lehrt, stellt (mit D. Hagner und R. Gundry) die ansonsten gängige Spätdatierung des Matthäusevangeliums mit methodischen und inhaltlichen Argumenten in Frage: Bei der Datierung der Evangelien ist es üblich, nach Reaktionen auf die Zerstörung des Tempels im Jahr 70 zu suchen. Als solche werden die Ankündigungen der Tempelzerstörung gewertet (bei Mt vor allem Mt 22,7; 23,38; 24,1 f.). Sie seien vaticinia ex eventu, die in der Form prophetischer Rede vergangene Ereignisse verarbeiten. Demgegenüber bemerkt N., dass man in der alttestamentlichen Exegese weitgehend damit rechnet, dass die Unheilsankündigungen der klassischen Propheten sehr wohl als Ansagen zukünftiger Ereignisse zu verstehen sind. Warum solle man neutestamentlichen Prophezeiungen nicht mit einer ähnlichen Einstellung begegnen? Bei Mt 24,1 f. könne es sich um »an original prophecy by Jesus« handeln, die dann in der Überlieferung leicht bearbeitet worden sei (14).
Auf inhaltlicher Ebene stellt N. fest, dass ein Text wie Mt 24,2 so weit von der von Josephus bezeugten Realität der Ereignisse im Jahr 70 entfernt sei, dass man kaum davon ausgehen könne, dass er über die realen Geschehnisse informiert gewesen sei. Andere Indizien für eine Spätdatierung hält N. ebenfalls für nicht überzeugend: Im Blick auf die Allianzen in Mt 2,4 und 21,23 könne Mt mehr über die historische Realität wissen als wir. Die Anrede »Rabbi«, auf die Mt 23,7–8 reagiert, habe sich schon vor 70 hin zu einem Titel entwickelt (15). Bei dem Sacharja ben Barachja aus Mt 23,35 müsse es sich nicht um den Sacharja ben Baris, der nach Josephus, Bell 4,334 ff., vor der Zerstörung des Tempels von Zeloten umgebracht wurde, handeln; es könnte der biblische Prophet (Sach 1,1) gemeint sein (946).
Die Anfragen N.s lassen innehalten und erinnern daran, wie wenig wir über die Datierung der Evangelien eigentlich wissen. Die Entwicklung des Titels Rabbi hat Catherine Heszer (The Social Structure of the Rabbinic Movement in Roman Palestine, TSAJ 66, Tübingen 1997) gründlich aufgearbeitet. Folgt man ihren Ergebnissen, dann hat man vom frühen ersten Jh. an bestimmte Toragelehrte »Rabbi« genannt – das Jahr 70 hat daran wenig geändert (vgl. Hezser, 55). Aber weder diese Tatsache noch die anderen Indizien, die N. nennt, sprechen zwingend gegen eine Datierung des Evangeliums nach 70.
Natürlich kann Mt 22,7 und 24,2 im Kern echte Prophetie spiegeln, aber die Tatsache, dass, anders als 24,2 behauptet, nach der Zerstörung durchaus noch ein Stein auf dem anderen stand (und bis heute steht), verweist doch wohl eher auf die literarische Form, die gar nicht den Anspruch erhebt, historische Tatsachen wirklichkeitsgetreu abzubilden.
Für den Rezensenten gibt die Vertrautheit (in formaler und inhaltlicher Hinsicht), die Matthäus mit halachischen Diskussionen in tannaitischen Texten erkennen lässt, den Ausschlag, das Matthäusevangelium zeitlich im Kontext des sich nach der Tempelzerstörung neu formierenden Judentums anzusetzen (vgl. M. Vahrenhorst, »Ihr sollt überhaupt nicht schwören«. Matthäus im halachischen Diskurs, WMANT 95, Neukirchen-Vluyn 2002).

Die Frühdatierung des Matthäusevangeliums (N. setzt es noch vor dem Beginn des jüdischen Krieges an, weil – anders als Lukas es nach N. tut [vgl. den Lukaskommentar N.s in der Reihe »Word Biblical Commentary«] – Matthäus noch nicht auf einen gesteigerten jüdischen Nationalismus reagiere [16 f.]) hat zwei bedeutsame Konsequenzen, die sich bei der Lektüre des Kommentares immer wieder zeigen. Die eine betrifft die Frage nach der Zuverlässigkeit der Evangelien im Blick auf die Frage nach dem irdischen Jesus: Wenn das Matthäusevangelium deutlich vor 70 entstanden ist, aber Markus und Q voraussetzt (4 f.), dann müssen diese Schriften noch früher entstanden sein (sie brauchten ja auch Zeit, sich zu verbreiten), und damit kämen wir in die Lebenszeit der Augenzeugen des Wirkens des irdischen Jesus und der Apostel (12). Entsprechend kritisch zeigt sich N. gegenüber der (allgemein nicht mehr so starken) Tendenz, Stoffe, die man auf die nachösterlichen Gemeinden zu­rückführen könnte, dem irdischen Jesus abzusprechen. Auch wenn die frühen Christen Themen und Texte entwickelt und bearbeitet haben, seien sie doch »with a sense of integrity and responsibility« zu Werke ge­gangen, womit man zu wenig rechne (13). Wer N.s Interesse am ir­dischen Jesus teilt, findet in diesem Matthäuskommentar immer wieder einschlägige Erwägungen und Diskussionen.
Die zweite Konsequenz der Frühdatierung betrifft die Frage nach dem Verhältnis von Matthäus zum Judentum. Angesichts der Spannungen und Verwerfungen, die wir aus dem Judentum vor 70 kennen, könne das Matthäusevangelium durchaus als jüdisches Buch einer Gemeinde gelesen werden, die noch ganz ins Judentum hinein gehöre (15). N. macht auch hier wieder darauf aufmerksam, wie wenig wir eigentlich über den Anfang des Auseinandergehens der Wege von Kirche und Synagoge wissen (16). Entsprechend ist N. erfreulich offen für die Signale, die sich im Text des Evangeliums selbst finden. Von besonderer Bedeutung ist dabei für N. Mt 23,39. Diesen Vers versteht er als Erwartung, dass sich die negative Einstellung gegenüber Jesus, die Matthäus bei seinen jüdischen Zeitgenossen wahrnimmt, eines Tages wandeln wird, und sie Jesus begrüßen als den, »der da kommt im Namen des Herrn« (vgl. 17 f.42 und 952 f.). Dass die matthäische Gemeinde mit ihrer Mission in Israel auf Ablehnung stößt, schreibt Matthäus den Führungsinstanzen zu, die das Volk (vorübergehend!) verführt haben. Trotzdem gelten diese Führungsinstanzen noch als gültige Quelle für die Tora ([Mt 23,2 f.] vgl. 18 und 923 f.). Konsequenterweise interpretiert N. den Missionsbefehl in Mt 28,19 auch nicht als Absage an die Mission in Israel zu Guns­ten der Mission unter den Völkern, sondern als Rücknahme der Beschränkung auf Israel (Mt 10,5 f.). Israel bleibt weiter im Blick (126 5f.). Die Textindizien, auf die N. sich hier stützt, sind wie seine philologischen Differenzierungen in der Verwendung von Ethnos (vgl. 879.1265 f. [von Mt 25,32 her muss panta ta ethne inklusiv verstanden werden]) unabhängig von seiner Datierungsentscheidung (nach Meinung des Rezensenten erklären sie sich sogar noch besser vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung des sich neu formierenden Judentums nach der Tempelzerstörung) und unterstützen einen Forschungstrend, der das Matthäusevangelium als Zeugnis eines christlichen Judentums liest (vgl. zuletzt P. Fiedler, Das Matthäusevangelium, ThKNT 1, Stuttgart 2006, 22 ff.).
In den letzten Jahren fragt man verstärkt nach literarischen Analogien zu den Evangelien. N. sieht eine gewisse Nähe zu Herrscherbiographien (19), hält aber die Bezüge zum Alten Testament (das Matthäus in unterschiedlichen Textfassungen verwende [hebräischer Text, LXX und gelegentlich aramäischer Text, 33]) für wesentlich bedeutsamer. Hier seien vor allem die Elija- bzw. David- und Salomoerzählungen als Vorbild zu betrachten, weil gerade Matthäus die Jesusgeschichte »into a larger frame supplied by the history of God’s prior dealings with his people« setzt (ebd.). Entscheidend – und da enden die Analogien – sei aber, dass Jesus für Matthäus keine Gestalt der Vergangenheit sei. Er ist lebendig, und die Leserinnen und Leser des Evangeliums können ihm in diesem Text begegnen (20). Dabei rechnet N. mit wiederholter Lektüre, weil sich nur so die literarischen Stilmittel (N. nennt Wiederho­lungen, Rahmungen, Chiasmen, Querverweise, Parallelismen) er­schließen (22 ff.).
Wer N.s Kommentar zur Hand nimmt, kann sicher sein, dass er– auch wenn er N.s Datierung gegenüber skeptisch bleibt – gründlich über den Forschungsstand und die dort diskutierten Auslegungsalternativen informiert wird. Dazu trägt die dieser Kommentarreihe eigene Gliederung bei, die zu jeder Perikope eine Übersetzung bietet und danach den Textbefund vorstellt. Auf ausführliche Bibliographien folgen dann eine kurze diachrone Diskussion des Textes und schließlich die Einzelauslegung. Bei all dem lässt N. die Leser nicht mit divergierenden Informationen allein, sondern macht Auslegungsvorschläge, die sehr umsichtig die Schwierigkeiten des Textes offenlegen und dann zu abgewogenen Deutungen kommen.