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Ausgabe:

Dezember/1997

Spalte:

1114–1116

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Poorthuis, Marcel, u. Chana Safrai [Eds.]

Titel/Untertitel:

The Centrality of Jerusalem. Historical Perspectives.

Verlag:

Kampen: Kok Pharos 1996. V, 244 S. gr.8°. hfl. 49,­. ISBN 90-390-0151-0.

Rezensent:

Eckart Otto

Den in diesem Band versammelten Beiträgen liegen in der überwiegenden Mehrzahl Manuskripte zugrunde, die im Sommer 1993 auf einer Tagung an der Bar Ilan-Universität mit dem Thema "Centrality of Jerusalem" vorgetragen wurden. Auf dieser Tagung wirkten Wissenschaftler der Bar Ilan-Universität und der Katholisch-Theologischen Universität Utrecht zusammen. Weitere Wissenschaftler aus Israel, den Vereinigten Staaten und der Schweiz wurden zur Vervollständigung des Tableaus um Beiträge gebeten, so daß nun ein recht geschlossener Band vorliegt, der die Mittelpunktsbedeutung Jerusalems von biblischer Zeit bis in das Mittelalter in Christentum und Judentum entfaltet. Die Beiträge sollen nicht nur das christlich-jüdische Gespräche fördern und gegenseitiger Mißachtung durch ein besseres Verstehen wehren, sondern auch die Frage beantworten, ob die Mythen von heiligen Orten und Zeiten, die zahlreichen Religionen eigen sind, der Aufklärung und dem modernen Raum- und Zeitverstehen standhalten können.

Klaus Seybold setzt mit der in diesem Zusammenhang überraschenden These ein, daß nicht nur die Korach-Psalmen (Ps 42-49), sondern auch die Asaphpsalmen (Ps 50; 73-78) aus dem Norden Israels stammen, mit der Gottesstadt ursprünglich Dan gemeint sei und die Hinweise auf Jerusalem Zeichen einer literarisch sekundären Überarbeitung seien. Ausnahme sei nur der Ps 76, der in der Exilszeit die Frage beantworten wollte, ob nach der Zerstörung Jerusalem noch Wohnort Gottes sei. Einer der Gründe für eine positive Antwort sei die Verbindung der Moria-Tradition der Akeda (Gen 22 "E tradition") mit dem Tempelberg in Jerusalem, da mit lamôra’ in V. 12 Moria gemeint sei.

Panc Brentjes untersucht die Bedeutung Jerusalems in den Büchern 1 und 2Chronik. In der "Vorhalle" 1Chr 1-9 verbindet der Chronist Jerusalem mit den Stämmen Juda, Levi und Benjamin, da sie sich vorexilisch zu den Davididen gehalten haben und die nachexilische Tempelgemeinde bilden. Im Bericht der Reform des Königs Asa (1Chr 15) werde Jerusalem in seiner Bedeutung auch für die Nordstämme unterstrichen. Hiskia werde in 2Chr 30 als zweiter Salomo bezeichnet und mit ihm Jerusalem als Zentrum für ganz Israel von Dan bis Beerseba. Der Reformbericht für den König Josia betone darüber hinaus den Zusammenhang zwischen Tempel und Land. Ohne vorgängige Reinigung des Landes von den Heiligtümern könne es keine Reform des Tempelkultes geben. Schließlich sei der auch aus hirbet bet lei bekannte "Gott Jerusalems" chronistisch nicht als Lokalgottheit, sondern als Gott, der von allen Nationen in Jerusalem angebetet werden soll (2Chr 32,19), zu verstehen.

Joshua Schwartz will den Nachweis führen, daß entgegen der unter den Jerusalem-Forschern herrschenden Mehrheitsmeinung die Festung Bira (Neh 2,8; 7,2) nicht nördlich des Tempelbezirks an der Stelle der herodianischen Antonia zu suchen sei, sondern im Tempelbezirk selbst als Befestigung des Tempels. Rabbinische Belegstellen wie Misna Pes 3,8; 7,8 f. sollen diese Hypothese stützen, die allerdings nicht mehr zeigen, als daß die Bira nördlich des Tempels zu lokalisieren ist, was auch für die Antonia gilt, deren Erwähnung unter dieser Bezeichnung in rabbinischen Quellen nicht zu erwarten ist. Die Beschreibung des Tempelbezirks durch Josephus gibt keinen Hinweis auf eine Festung im Tempelbezirk neben der Antonia. Was als archäologischer Nachweis fungiert, ist ohne Beweiskraft, da sie nördlich des Felsendoms im Haram es Sarif notwendigerweise brüchig wird. Entsprechende Vermutungen zur Lokalisierung der Bira sind von B. Mazar, auf den sich der Autor beruft, wieder aufgegeben worden (s. Mountain of the Lord, 1975, 65).

Alfred J. Baumgarten will die Bedeutung der Urbanisierung des hasmonäischen Palästinas und der Zentralbedeutung Jerusalems für die Erklärung der Entstehung jüdischer Gruppen und Sekten der Pharisäer, Sadduzäer und Essener in dieser Zeit aufzeigen. Die Abwanderung gerade von Mitgliedern der schriftgelehrten religiösen Elite vom Lande nach Jerusalem beraubte sie ihrer traditionellen Bezugsgruppen und förderte die Entstehung neuer.

Dieser soziologische Aspekt vermag sicherlich den Rekrutierungserfolg von derartigen Sekten zu erklären, nicht aber ihre Entstehung, die auf Auslegungsdifferenzen der Schrift beruhen. Der These von Baumgarten widersprechend, will Zeev Safrai die religiöse Elite gerade nicht nur in Jerusalem, sondern auch in den judäischen Dörfern und Landstädten, insbesondere Galiläas, angesiedelt sehen. Er vermutet in der mangelnden lokalen Konzentration der schriftgelehrten Elite eine wesentliche Ursache dafür, daß die jüdische Gesellschaft sich nach der Zerstörung Jerusalems 70 n. Chr. so schnell wieder erholen konnte. Der Gedanke der Zentralität Jerusalems war nicht von dem der Inferiorität Galiläas begleitet. Beide Beiträge steuern wesentliche Gesichtspunkte zur Frage nach dem Verhältnis von Zentrum und Peripherie der spätisraelitischen Gesellschaft um die Zeitenwende bei. In diesen Horizont gehören auch die Beiträge von Shmuel Safrai zu Jerusalem in der Sicht der Halacha und von Daniel R. Schwartz in der Sicht hellenistischer Juden. Während die Halacha biblische Heiligtumskonzeptionen des Tempels und entsprechende Kultvorschriften wie die des Passaverzehrs und des Schopharblasens am Neujahrstag auf die ganze Stadt Jerusalem übertrug und damit die Stadt als "Heilige Stadt" (s. Münzen der Jahre 66-70 n. Chr.) an Bedeutung gewann, wurde in essenischen Schriften einer derartigen Ausweitung ritueller Vorschriften vom Tempel auf die Stadt gewehrt. Im hellenistischen Judentum war nicht primär der Tempelkult Grund für die Hochschätzung Jerusalems, weil die unsichtbare Gegenwart Gottes als omnipräsent galt, sondern die prinzipielle Hochschätzung der Polis, die Jerusalem patria politeia auch des hellenistischen Judentums sein ließ.

Lawrence H. Schiffman entwickelt die Haltung der "Qumran-Gemeinschaft" (i. e. der Essener), die die zeitgenössische Priesterschaft und ihre Durchführung des Tempelrituals in Jerusalem ablehnte, die herausgehobene Rolle Jerusalems seit David (4Q 504 1-2) aber nicht in Frage stellte. Die Stadt Jerusalem wurde mit dem "Lager" der biblischen Tradition der Wüstenzeit identifiziert (4Q MMT B 59-62). Dies ist nun auch die Brücke, um die Tempelrolle (11QT) als zur "Qumran Gemeinde" gehörend mit ihren Vorstellungen zu Tempel und Stadt Jerusalem anzuschließen. Die Reinheit des Tempels werde auf die ganze Stadt als "Stadt des Heiligtums" ausgedehnt und die Stadt selbst zu einem Tempelkomplex. Eschatologisch werde Jerusalem mit einem neuen, von Gott erbauten Tempel ideale Stadt als Mitte der Völkerwelt sein (1QM 12,12-14). Hanan Eshel diskutiert anschließend einen Teil des von E. Puech 1992 edierten Josua-Apocryphon (4Q 522). Bart J. Koet interpretiert Apg 18,18 auf ein Nasir-Gelübde des Paulus.

Die folgenden Beiträge beschäftigen sich mit der Bedeutung Jerusalems von der Alten Kirche bis zur Kreuzfahrerzeit. Martin Parmentier sammelt Stimmen der Kirchenväter, die in der Zerstörung des Tempels durch die Römer ein Gottesgericht über die Juden sahen. Julian Apostatas Versuch, den Tempel in Jerusalem wieder aufzubauen, ist s. E. weniger in einer Hochschätzung der Juden als im Haß gegen die Christen begründet gewesen. Entsprechend wurde der Tempelbau von diesen als Versuch gedeutet, das Kommen des Antichristen zu erzwingen, das Scheitern des Baus aber als endgültige Erfüllung von Mk 13,2. Hagi Amitzur beschreibt unter Nutzung archäologischer und literarischer Quellen Justinians Selbstverständnis in seinen Bauaktivitäten, insbesondere dem Bau der Hagia Maria Nea Kirche, als zweiter Salomo. Der Bau der Nea Kirche galt als Wiedererrichtung des Tempels und mit ihrem Bau trachtete der Kaiser Salomo zu übertreffen. Peter Raedts geht der ambivalent erscheinenden Haltung des Bernhard von Clairvaux zu Jerusalem nach. Einerseits war er davon überzeugt, daß wahrer Gottesdienst nicht eine Angelegenheit der Geographie sei (vgl. Joh 4,21.24), andererseits predigte er die Verteidigung des Heiligen Landes für die Christenheit. Die Bindung an das Heilige Land sei nur eine Art Sakrament für Laien, auf das Mönche verzichten können. Jerusalem habe ihnen nichts zu bieten. Yvonne Friedman arbeitet heraus, daß während der Herrschaft der Kreuzfahrer in Jerusalem irdisches und himmlisches Jerusalem zusammengesehen wurden. Heiligkeit wurde als handgreifliche Wirklichkeit verstanden. Erst nach der Eroberung der Stadt durch die Muslime setzte erneut eine Spiritualisierung in der Interpretation Jerusalems ein.

Chana Safrai beschließt das Buch mit einem Rückblick unter der Frage, ob Jerusalem der wahre Mittelpunkt der Welt sei. Sie nähert sich einer Antwort von der in der Soziologie und Sozialgeographie beheimateten Zentralorttheorie her. Sie tut dies nicht ohne zuvor konstatiert zu haben: "Critical research stresses, that the glory and accessibility of Jerusalem is highly overrated in Antiquity, though it is generally agreed that this overrating itself serves as an indicator for the centrality and importance of Jerusalem in the literary and cultural world view" (219).

Was also macht die Mittelpunktsbedeutung Jerusalems aus? Wenn nach der Zentralorttheorie ein solcher Ort das Umland mit Gütern und Leistungen versorgt, man zu diesen auch religiöse Güter rechnet, so war Jerusalem ein Zentralort. Dieser konsequent entmythologisierende Schluß schafft Raum, um in der Gegenwart vernünftige politische Lösungen für Jerusalem zu suchen und zu finden. Das Buch hätte diesem Zweck noch besser dienen können, wenn auch die über tausend Jahre währende muslimische Präsenz in der Stadt Berücksichtigung gefunden hätte. Doch zunächst wird durch das Buch ein ertragreiches Symposium dokumentiert ­ und dafür gebührt den Herausgebern Dank. Weitere Symposien sind angekündigt, u. a. zu "sanctity of time and space", und man wünscht auch ihnen Erfolg. Das Buch wird durch Stellen-, Namens- und Sachregister abgeschlossen.