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Ausgabe:

April/1999

Spalte:

443–445

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Stückelberger, Christoph

Titel/Untertitel:

Umwelt und Entwicklung. Eine sozialethische Orientierung. Mit einem Geleitwort von G. Altner.

Verlag:

Stuttgart-Berlin-Köln: Kohlhammer 1997. 380 S. gr.8. Kart. DM 59,-. ISBN 3-17-014-230-5.

Rezensent:

Harald Wagner

Im Diskurs zu Umwelt und ökologischer Krise sind zunehmend Wortmeldungen ethischer Provenienz zu hören. Christoph Stückelbergers sozialethischer Ansatz zu Umwelt und Entwicklung reiht sich hier ein, wobei seine Herangehensweise über die Frage nach dem Maß eine weiterführende Zuspitzung erfährt: "Die vorliegende Studie möchte aufzeigen, wie sich ein Mensch mit Maß verhalten könnte, besonders im Umgang mit der Umwelt." (15) Wollte man jedoch hinter diesen programmatischen Äußerungen lediglich einen Beitrag zur individuellen Handlungsorientierung vermuten, so käme ein wesentlicher Aspekt nicht ins Blickfeld. Dem Autor - Privatdozent an der Universität Basel und Zentralsekretär von ,Brot für alle’ des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes für Entwicklungsdienst - ist es ein Anliegen, "aus der Sicht der christlichen Schöpfungsethik einen Beitrag zu einem Weltethos des Maßes zu leisten" (225). So ist die vorliegende Studie einerseits durch eine offensiv protestantische Selbstorientierung zentriert, andererseits aber sowohl interdisziplinär als auch interkonfessionell bzw. interreligiös auf ein sich abzeichnendes Weltethos hin ausgelegt. Wie gelingt es, diese disparaten Anliegen zu einem Ganzen zu verbinden?

Die übergreifende Orientierung findet der Autor im Begriff des Maßes. Selbstreflektierend schätzt er ein, daß er damit genau den Erfahrungshintergrund einer "Überflußgesellschaft" entspricht, denn genau dort brauche es eine "Theorie des Maßhaltens" (47). Überraschenderweise setzt diese Theorieentwicklung mit einem kurzen Unterpunkt ein, der scheinbar nichts mit dem Thema zu tun hat: "Am Anfang war das Staunen" (13f.). Bei eingehender Betrachtung wird deutlich, daß mit diesem Beginn zwar nicht das Fundament gelegt, aber sozusagen das Koordinatensystem der ganzen Erörterung vorgegeben ist: Nicht "die Schilderung der heutigen extremen Gefährdung der Schöpfung ... nicht die aktive Lebensgestaltung, sondern die Verwunderung über das Geheimnis des geschenkten Lebens, nicht das Handeln des Menschen, sondern ,das Handeln Gottes am Menschen’ (Ulrich) ist Ausgangspunkt der Ethik" (13). Schöpfer und Schöpfung werden in ihrem Eigenwert vorangestellt. Damit wird ein Akzent gesetzt, der im Dickicht der Argumente um ökologische Krise, Fortschrittsglaube und Umweltschutz beinahe aus dem Blick geraten ist (dort ereignet sich gerade eine Transformation vom Ausbeutungsdiskurs zum Belastungsdiskurs).

Dagegen begegnet hier eine dezidierte Anerkennung des Eigenwertes von Schöpfung und Natur. Erst nachdem dies festgestellt wurde und für den weiteren Fortgang bis hin zur Darstellung der "Leitlinien für eine christliche Mitweltethik" der dominante Grundzug bleibt, erst danach wird daran gegangen, die gestellte Aufgabe zu lösen. In einer ausführlichen Einleitung wird mit den notwendigen Grundbegriffen (wie Natur, Schöpfung, Tugend und Ethos) vertraut gemacht und zuvor die angemessene Methodik entwickelt. Beeindruckend ist dann, wie die an H. E. Tödt orientierten Ergebnisse in "sechs methodischen Schritten zu Leitlinien" hinführen (61). Als Abfolge ergibt sich: 1. Problemfeststellung: Was ist das ethische Problem? Worin besteht der ethische Konflikt? 2. Situationsanalyse: Für welche Situation ist das Problem zu lösen? 3. Verhaltensalternativen: Welche Lösungswege wären möglich? 4. Normenprüfung: Was sollen wir tun? 5. Urteilsentscheid: Was müssen und können wir tun? 6. Rückblickende Adäquanzkontrolle: War die Entscheidung angemessen? Was könnte man besser machen? Mittels dieser klaren Struktur gelingt es dem Vf., das überaus umfangreiche Material zu einem Gesamtganzen zusammenzufügen. An dieser Stelle sollen zumindest Anfangs- und Endpunkt der Studie markiert werden:

Ausführlich werden die "Vier Quellen zur Erkenntnis des Maßes" vorgestellt und gegeneinander abgewogen. Nach Ansicht des Autors handelt es sich dabei um (1.) Offenbarung, (2.) Vernunft, (3.) Erfahrung und (4.) Gemeinschaft. Die Quellen werden nacheinander in ihren eigenen Zusammenhängen diskutiert, d. h. es werden jeweils Möglichkeiten und Grenzen umrissen. Schon an dieser Stelle wird deutlich, daß es darum gehen soll, einen möglichst umfassenden und ganzheitlichen Zugang zu erarbeiten. Als besonderer Vorteil erweist sich die Beachtung und Wertschätzung ansonsten häufig gegeneinander ausgespielter Ressourcen (wie z. B. Offenbarung - Vernunft; Vernunft - Erfahrung). Deutlich wird, daß alle voneinander profitieren können und spiegelbildlich zum besseren Verständnis ihrer eigenen Potentiale beitragen. Doch an dieser Stelle folgt eine für christliche Orientierung wichtige Prämisse: "Die vier genannten Erkenntnisquellen ... erhalten ihre Qualität als Erkenntnisquellen ethischen Urteilens erst, wenn sie vom Heiligen Geist getrieben sind" (50). Exemplarisch deutet dies aber zugleich auf ein Dilemma hin: Wie kann eine solche Einschätzung in einem Dialog mit z. B. atheistischen Wissenschaftlern integriert werden? Ist damit eine notwendige Standortbestimmung gelungen oder jeder weiteren Verständigung der Boden entzogen?

Alle Erörterungen finden dann ihr Ziel in einer "Gästeordnung" zu zweimal zwölf Leitlinien, wobei die erste Gruppe (Tafel) überschrieben ist mit "Wie das Maß finden?" und die zweite mit "Welches Maß leben?". Aufbau und Wortwahl lassen die berechtigte Vermutung zu, daß St. hier sowohl in Parallele zum Dekalog als auch zum Kleinen Katechismus Martin Luthers ein verbindliches Gesetzeswerk vorlegen möchte. Theologisch sind die Aussagen schon insofern interessant, als alle vierundzwanzig mit dem Satz beginnen: "Du bist willkommen als Gast auf Erden!" Damit wird auf den Zusammenhang Indikativ-Imperativ verwiesen. Des weiteren werden immer zwei sich (nahezu) entsprechende Formulierungen geboten, wobei erstere einen meist deutlich christlichen Bezug aufweisen und zweitere säkular formuliert sind. Beabsichtigt ist dabei, daß hierdurch sowohl Christen als auch Nichtchristen eine für ihren jeweiligen Erfahrungshintergrund angemessene Formulierung finden. Den jeweils fettgedruckten Leitlinien folgen Interpretationen, die das Wesentliche hervorheben und zugleich auf vorherige Erkenntnisse verweisen.

Der anzuzeigende Titel ist im besten Sinne ein Lehrbuch zum Thema Maß und Maßhalten aus ethischer, theologischer und ökologischer Perspektive. Er vermittelt reichlich sachliche Informationen, wissenschaftsgeschichtliche Zusammenhänge und praktische Handlungsorientierungen. Die Stärke der Abhandlung besteht zweifellos darin, einen genuin christlichen Beitrag zur Umweltethik vorgelegt zu haben, der aber nicht auf Abgrenzung beruht, sondern einen Prozeß im Auge hat, der eine "Zusammenarbeit der Menschen und Institutionen lokal wie weltweit" (39) befördern möchte, um "nach Werten und Normen im Umgang mit der Umwelt zu suchen, die von Menschen unterschiedlichster Weltanschauungen geteilt werden können, weil gemeinsames Handeln - z. B. aufgrund internationaler Umweltvereinbarungen - nötig sind" (ebd.). Zu Fragen bzw. zu Hoffen bleibt an dieser Stelle lediglich, ob diese eindeutig christliche Wirklichkeitsinterpretation einen Dialog gerade zu Wissenschaftlern, Wirtschaftseliten und Politikern, die nicht der gleichen Weltanschauung zugehören, ermöglicht. Fraglos dagegen ist, daß dem Autor eine anregende, informative und letztlich sogar paränetische Abhandlung zu einem aktuellen und herausfordernden Thema gelungen ist.